Das sind sehr interessante Einblicke in das Innenleben von Stalag XI A. Gleichzeitig zeigen sie, warum in der früheren Bundesrepublik so lange nach Kriegsende gewartet wurde, bevor die Untersuchung von Verbrechen der Wehrmacht (die Stalags waren ja ausschließlich Wehrmachts-verwaltet, auch wenn die SS oder Polizei zu politischen Dienstleistungen zugelassen wurden (Suche nach Kommissaren). Die Täter mussten erst verstorben oder zumindest verhandlungsunfähig sein, die Zeugen sollten berechtigte Erinnerungslücken haben (dürfen) und die Opfer sollten zumindest wegen berechtigter und tatsächlicher Erinnerungslücken für die Aufklärung nicht ausreichend zuverlässig sein. - Aber 2021 darf eine zur "Tat"-Zeit 18jährige Sekretärin noch mit 96 Jahren zur Strecke gebracht werden, schließlich leben wir in einem zuverlässigen Rechts- (nicht Links-) Staat.
Mit fortschreitendem Krieg nahm die Zahl der Kriegsgefangenen ebenso rasch ab, wie die Zahl der Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie, für die sie eigentlich Ersatz stellen sollten. In einige Stalags wurden Produktionsstätten eingerichtet und Rüstungsfertigung dorthin ausgelagert. Das traf für Altengrabow offensichtlich nicht zu. So diente das Lager zunehmend nur noch für die ordentliche Registratur der Kriegsgefangenen, zur Selektion der nichtarbeitsfähigen und zur Verteilung der arbeitsfähigen Kgf in die Arbeitskommandos. Die Verweildauer der Kriegsgefangenen wurde auf die organisationstechnisch notwendige Zeit begrenzt bzw. bei Kranken auf die Zeit des Lazarettaufenthaltes. Am 1. April 1944 waren in Altengrabow nur noch 1200 Personen anwesend. Dabei handelte es sich zum überwiegenden Teil um im Bereich des Verwaltungs- und technische Personals des Lagers eingesetzte Kräfte. Die Nominalbelegung hatte bei maximal 28.000 gelegen, wenn diese Zahl auch zeitweise überschritten sein dürfte. Die Zahl der in betriebseigenen Unterkünften untergebrachten Arbeitskommandos betrug etwa 1700.
Quelle: Unterlagen des französischen Hauptanklägers beim Internationalen Militärtribunal, veröffentlicht in Band 37, Seite 249 der "Dokumente zum Nürnberger Prozess"
Wenn man mal unter Wicki oder direkt bei der BW nachliest so erfährt man das Altengrabow am 13. April 1945 von der 83. US Infantrie-Division erreicht wird. Ab Mai 45 dann bis 1992 in russischer Hand. Interessant ist diese Information in sofern das Altengrabow 50km weit östlich der Elbe liegt. An diesem Tag hatte die 83. US Infantrie-Division ihr Haupquartier in Calbe. Na klar war die 83. US Infantrie-Division an den Kamfhandlungen in Barby und auch Zerbst beteiligt aber Altengrabow? War Altengrabow ein "Zufallsfund" beim Versuch Kontakt mit der Roten Armee aufzunehmen oder ein gezieltes Komandounternehmen um dort amerikanische Kriegsgefangene zu befreien?
Es war eine gezielte Aktion der 83rd ID dort westallierte Gefangene zu befreien. Dazu wird in diesem Jahr noch eine Doku erscheinen, zur Befreiung des STALAG XI-A
Magado-2 Wenn nicht anders ausgewiesen, dann Sammlung/Eigentum Magado Bilder/Beiträge dürfen "Nichtgewerblich" genutzt werden.
Na Helmut das klingt ja mal interessant. Also war die Aktion konkret geplant. Wobei ich es mal als "sportlich" bezeichnen will mit der Masse bei Barby über die Elbe zu gehen, sich aus den Kämpfen herauszuziehen, 25 km durch Feindgebiet zu gehen und a,m gleichen Tag noch die Kameraden rauszuhauhen. Wenn es tatsächlich so war. Respekt!!
Die Geschichte mit dem angeschossenen BW- Offizier hatten wir glaube ich hier im Forum schon mit Bild. Kommt mir jedenfalls bekannt vor. Kann sie nur grad nicht finden.
Bundeswehr observiert Sowjetarmee ■ Beim Fotografieren eines sowjetischen Militärlagers wurde ein Bundeswehrsoldat angeschossen
Berlin (taz) — Nach dem Zwischenfall am sowjetischen Militärlager in Altengrabow bei Magdeburg herrscht im Bonner Verteidigungsministerium Erklärungsnotstand. Bei dem Versuch, die Einrichtung der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte zu fotografieren, waren am Freitag mittag drei Bundeswehrsoldaten von einem Militärposten beschossen und einer dabei verletzt worden. Während ein Sprecher des Bonner Ministeriums gestern betonte, es gebe „keinerlei Erkenntnisse, daß sich unsere Soldaten rechts- oder vorschriftswidrig verhalten“ hätten, behauptete das Pressezentrum der Sowjetarmee in Wünsdorf bei Berlin das Gegenteil. Zwei der drei Bundeswehrangehörigen sollen auf das als militärischen Sperrbereich gekennzeichnete Gebiet vorgedrungen sein und das Lager durch einen Drahtverhau hindurch fotografiert haben. Der Posten habe die Eindringlinge zuerst zum Stehenbleiben aufgefordert und den Einsatz der Schußwaffe angedroht. Trotz eines Warnschusses hätte einer der Soldaten weiterfotografiert. Um dieses zu unterbinden, habe der Posten „im Einklang mit den Erfordernissen der Militärvorschriften“ geschossen. Der Offizier wurde am Arm verletzt. Der Sprecher des Bundeswehrkommandos Ost, Oberst Splittgerber, beschrieb den Vorfall gänzlich anders. Danach hielten sich die Bundeswehrler „deutlich außerhalb des sowjetischen militärischen Bereiches und Sperrgebietes auf einer öffentlichen Straße auf“ — der Schußwaffengebrach sei „unprovoziert und unrechtmäßig“ erfolgt.
Wie 'dpa‘ meldete, wird der Vorfall nicht nur im Verteidigungsministerium als „äußerst brisant“ bewertet. Mit den Schüssen sei ein bislang geheimgehaltenes Vorgehen höchster Bundeswehrstellen gegen die Sowjettruppen in der ehemaligen DDR ans Tageslicht getreten. So gebe es seit der Vereinigung beider deutscher Staaten einen Geheimbefehl, die Einheiten der sowjetischen Streitkräfte zu observieren. Am Freitag abend räumte ein Hardthöhen-Sprecher ein, das Lager in Altengrabow sei vor einiger Zeit in die Beobachtung von Aktivitäten der sowjetischen Streitkräfte einbezogen worden. Verteidigungsminister Stoltenberg soll von den Observationen allerdings nichts gewußt haben.
Das Mitglied des Verteidigungsausschusses Jürgen Koppelin (FDP) kritisierte diese Beobachtungen als „unverantwortliche Dummheit mit schwerem politischem Schaden“. Bis zum 3. Oktober hatten die Alliierten die Sowjetarmee beobachtet. Beim Versuch, ein Militärdepot bei Potsdam zu fotografieren, war im März 1985 ein amerikanischer Major erschossen worden. Der Vorfall war anschließend von der Regierung in Washington heruntergespielt und schnell zu den Akten gelegt worden.WOLFGANG GAST
Hier noch mal eine spezielle Sichtweise auf den Vorfall:
Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung
Ausgabe 2/2017
Schüsse in Altengrabow
Schüsse in Altengrabow 1991 Sowjetische Wachposten beschießen Bundeswehrsoldaten
Am 19. April 1991 beschießen sowjetischen Wachposten Soldaten der Bundeswehr: Nachdem Major Weiß, Major Schulz und Leutnant Dümmel den Eingang des Lagerbereichs der sowjetischen Liegenschaft Altengrabow dokumentiert und den verdutzten sowjetischen Postensoldaten auf seinem Wachturm beschwichtigt hatten, traten sie geordnet den Rückmarsch zum Dienstwagen an. »Es war keine angespannte Situation«, erinnert sich Horst Dümmel 25Jahre später. »Wir stiegen wieder in den Wartburg ein. Major Weiß drehte sich gerade zu mir um, da spürte ich eine Druckwelle [...] ein Pfeifen im Ohr. Major Weiß sackte zusammen. Er war getroffen!« Wie es dazu kommen konnte und warum sich die Bundeswehroffiziere überhaupt in der unmittelbaren Nähe einer sowjetischen Liegenschaft aufhielten, ist ein spannendes Stück Militärgeschichte.
1945 bis 1994: Sowjetische Streitkräfte in Deutschland Als die Rote Armee die ursprünglichen deutschen Reichsgrenzen auf ihrem Vormarsch auf die Reichshauptstadt Berlin in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges überschritt, setzten sowjetische Truppen ihren Fuß erstmals auf deutschen Boden. Aufgrund der Vereinbarungen der Siegermächte auf der Konferenz von Jalta und der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8.Mai 1945 wurde aus der Roten Armee in Deutschland die »Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland« (GSBT). Im westlichen Teil Deutschlands waren US-amerikanische, britische und französische Besatzungstruppen stationiert. Mit den Gründungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR 1949 wurde die Zweistaatlichkeit Deutschlands besiegelt. 1957 erfolgte die Umbenennung der GSBT zur »Gruppe der Sowjetischen Truppen in Deutschland« (GSSD); sie diente auch der Herrschaftssicherung der SED-Führungwie sie bei der blutigen Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR am 17.Juni 1956 unter Beweis stellte. Die GSSD war die größte sowjetische Streitkräftegruppierung außerhalb der Grenzen der UdSSR und somit die militärische Speerspitze Moskaus, ausgestattet mit modernster Militärtechnik. Bis zur ersten Truppenreduzierung 1989 bestanden die sowjetischen Truppen in der DDR aus fünf Armeen der Landstreitkräfte (20 Panzer- und Mot.-schützendivisionen) und einer Armee der Luftstreitkräfte (fünf Jagdflieger- und Jagdbomberdivisionen). Damit war die GSSD ca. 400000 Mann stark. Im Falle einer militärischen Auseinandersetzung mit der NATO hätten nicht nur konventionelle Waffen einge- setzt werden können: GSSD und die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR verfügten zusammen über 200 mobile Startrampen, deren Raketen auch mit Atomsprengköpfen hätten bestückt werden können. Ab 1988 wurden die sowjetischen Truppen in Deutschland zur »Westgruppe der Truppen« (WGT) umbenannt.
Deutsche Wiedervereinigung und Truppenabzug
Mit dem Fall der Mauer am 9.November 1989, dem sich anschließenden Einigungsprozess und der deutschen Wiedervereinigung am 3.Oktober 1990 änderten sich die politischen Rahmenbedingungen für die WGT vollständig. Sowjetische Soldaten waren fortan nicht mehr Besatzer, sondern Gäste. Die neuen Rechte und Pflichten der sowjetischen Truppen wurden im Rahmen des Zwei-Plus-Vier-Vertrages (12.September 1990) sowie des Abzugs- und Aufenthaltsvertrages (12.Oktober 1990) geregelt und sahen einen endgültigen und vollständigen Abzug der WGT bis Ende 1994, später dann bis zum 31.August 1994 vor. Auch die in der Bundesrepublik stationierten ausländischen Streitkräfte von NATO-Staaten wurden massiv reduziert, zogen aber nicht vollständig ab; sie befinden sich bis heute auf dem Gebiet der alten Bundesländer. Der Abzug der WGT bedeutete eine gewaltige logistische Herausforderung. Die riesige Streitmacht, die nach Beendigung des Kalten Krieges praktisch ihre Funktion als Speerspitze gegen die NATO verloren hatte, musste über den See-, Land- und Luftweg zurück in die Heimat verlegt werden, die wiederum 1992 in die Russische Föderation, die Ukraine, Weißrussland und weitere Nachfolgestaaten der Sowjetunion zerfiel. Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurden manche Einheiten der WGT noch in Deutschland aufgelöst. Weitmehr als 1000 Liegenschaften mussten leergeräumt werden, tausende Panzer und Fahrzeuge, hunderte Flugzeuge und Hubschrauber, tausende Tonnen Munition und nicht zuletzt mehr als 400000 Soldaten, Zivilangestellte und Familienangehörige Deutschland verlassen. Die Aufnahmebedingungen in den neuen Standorten waren oft desaströs. Nicht selten gab es nur unzureichende Zeltunterkünfte.
Der Abzug als einmalige Chance zur militärischen Aufklärung
Die GSSD/WGT war eines der wichtigsten Aufklärungsziele westlicher Streitkräfte und Nachrichtendienste im Kalten Krieg. Jahrzehntelang versuchten Aufklärer, Analysten und Agenten Informationen über Ausrüstung,Struktur und Einsatzgrundlagen der sowjetischen Truppen zu gewinnen. Je größer der Kenntnisstand über den angenommenen militärischen Gegner und je genauer das Lagebild war, desto effektiver konnte sich die NATO auf einen möglichen Konflikt vorbereiten. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands bot sich eine einmalige Chance, über einen längeren Zeitraum die mit dem Abzug beschäftigen Truppen der WGT aus nächster Nähe zu beobachten. Etwa ab 1991 führten US-amerikanische Dienste die »Operation Blackfoot« und der Bundesnachrichtendienst die »Operation Giraffe« teilweise gemeinsam durch, um z.B. Rüstungstechnologien der sowjetisch/russischen Streitkräfte zu beschaffen oder um nachrichtendienstliche Quellen innerhalb der WGT anzuwerben, die später aus Russland weitere Informationen liefern sollten. Auch die Bundeswehrerhielt den Auftrag, die abziehenden sowjetischen Einheiten genauer zu beobachten und so gezielt jene Informationen zu gewinnen, die aus den offiziellen Meldungen der WGT nicht hervorgingen. Dabei waren den Bundeswehrsoldaten nachrichtendienstliche Mittel und Methoden verboten. Die im Frühjahr 1991 aufgestellten Beobachtungstrupps der Bundeswehr sollten offene Nachrichtengewinnung betreiben und keine verdeckte Spionage. Bereits im November 1990 gab es ein Treffen zwischen Vertretern der Bundeswehr und des Bundesnachrichtendienstes zur Aufgabenkoordinierung.
9. April 1991: Der erste Vorfall in Altengrabow
Ab April 1991 waren stets einige wenige Beobachtungstrupps der Bundeswehr in den neuen Bundesländern auf Aufklärungstour. Parallel zum allgemeinen Aufklärungsauftrag beobachteten sie insbesondere Standorte, Bewegungen und den Abzug von Einheiten der WGT. In einer wöchentlichen Lagezusammenfassung wurde vermerkt, dass die Arbeit der Beobachtungstrupps Anfang April 1991 durch die WGT nicht behindert worden wäre. Am selben Tag erhielt ein Beobachtungstrupp aus Potsdam, der dem dortigen Verbindungskreiskommando 84 (VBK-84) zugeteilt war, den Auftrag, zunächst die Verladung von Raketen in der Liegenschaft Altes Lager bei Jüterbog, etwa 60 Kilometer südlich von Berlin, aufzuklären. Des Weiteren sollte ein Transport aus Brandenburg/ Havel in Richtung Altengrabow beobachtet werden. Altengrabow liegt in etwa gleicher Entfernung zwischen Magdeburg und Berlin südlich der Autobahn A2. Dort waren u.a. die 10.Gardepanzerdivision, die 303.Garde-Artilleriebrigade, die 36. Raketenbrigade mit einer Abteilung ballistischer Kurzstreckenraketen vom Typ SCUD stationiert. Südlich der Kasernenanlage befanden sich ein Truppenübungsplatz und im Westen ein Munitionslager der Artillerie. Der Beobachtungstrupp aus Potsdam kam erst bei Sonnenuntergang, nämlich gegen 19 Uhr in Altengrabow an. Das hinderte die im Fahrzeug befindlichen Oberstleutnant Bornmann, Major Weiß und Gefreiter Scholz nicht daran, eine befestigte Straße am Rande der Liegenschaft zu verlassen und in eine Waldschneise einzubiegen, die unmittelbar entlang des Außenzaunes des Artilleriemunitionslagers führte. Sie fuhren einen UAZ-469, einen Geländewagen sowjetischen Typs aus NVA-Beständen. Das Geländefahrzeug fuhr etwa 200 Meter entlang des Waldweges in Richtung Süden. Dabei passierte es einen am Wegrand stehenden Lkw der WGT, neben dem sich sowjetische Soldaten befanden. Ob jene den UAZ sofort als Bundeswehrfahrzeug identifizierten, ist nicht bekannt, darf aber bezweifelt werden. Dieser Fahrzeugtyp fuhr zu dieser Zeit tausendfach in den sowjetischen Streitkräften, vergleichbar mit dem »Wolf« der Bundeswehr. Jeder sowjetische Wachsoldat kannte das Motorengeräusch eines UAZ469. Vermutlich war den einfachen sowjetischen Wachsoldaten nicht geläufig, dass jetzt auch die Bundeswehr sowjetische Geländefahrzeuge nutzte. Zudem befand sich am Wagen noch immer ein NVA-Nummernschild, das, anders als bei ummernschildern der Bundeswehr, nicht durch eine kleine Deutschlandfahne neben dem »Y« gekennzeichnet war. Die Wahl eines sowjetischen Geländewagens war möglicherweise bewusste Täuschung, um die Aufklärungstour des Beobachtungstrupps zu verschleiern. Der UAZ musste wenden, da nach weiteren 150Metern ein Schlagbaum den Weg versperrt hätte, und blieb nach einigen Metern am Objektzaun stehen. Die beiden Stabsoffiziere stiegen aus, näherten sich dem Zaun und fotografierten die im Munitionslager abgestellten Fahrzeuge. Dann jedoch bemerkten sie einen sowjetischen Wachposten, der sich ihnen näherte und seine Maschinenpistole durchlud. Der Oberstleutnant und der Major rannten zurück ins Auto und traten die Flucht in Richtung Norden an, als bereits die ersten Schüsse fielen. Später eröffnete noch ein weiterer Posten das Feuer. Keiner der Schüsse traf den UAZ, niemand wurde verletzt.
Beobachtungstrupp auf heißer Spur – Atomwaffen in Altengrabow
In Anbetracht dieser mehr als riskanten Vorgehensweise stellt sich die Frage, was genau der Beobachtungstrupp bei einsetzender Dunkelheit in einem Waldweg so nah an einer sowjetischen Liegenschaft gesucht hatte. Die Vorgaben aus allen vorangegangen Befehlen und Weisungen, wonach bei der Durchführung der offenen Nachrichtengewinnung von sowjetischen Truppen nicht der Eindruck von Spionage entstehen durfte, wurden offensichtlich ignoriert. Wobei auch die Frage im Raum steht, ob staatliche Organe Spionage betreiben, wenn sie ausländische Einrichtungen im eigenen Land aufklären.Der Waldweg, den der Beobachtungstrupp gewählt hatte, führte geradewegs auf ein Wachgebäude mit Toreinfahrt zu. Wenn nicht schon ein Schlagbaum einige hundert Meter zuvor den Weg versperrt hätte, wäre spätestens hier die Weiterfahrt gestoppt worden. Das Wachgebäude gehörte nicht zum Artilleriemunitionslager, sondern zur1648.Beweglichen Raketentechnischen Basis (BRTB), Feldpostnummer 57851. Hinter dieser umständlichen Bezeichnung versteckte sich eine Spezialeinheit der 12.Hauptverwaltung des sowjetischen Verteidigungsministeriums, die für Atomwaffen zuständig war. Eine BRTB stellte die Lagerung, die Wartung und den Transport der atomarer Munition sicher. In Altengrabow gab es einen speziell gesicherten Bereich innerhalb des Artilleriemunitionslagers: Elektrische Signalzäune, betonierte Postenbunker und ein ausgebautes Stellungssystem sollten Eindringlinge abwehren. Verladerampen, diverse kyrillische Beschriftungen, schwarz-gelbe Farbmarkierungen wie auch Reste von speziellen technischen Installationen lassen auch heute nur einen Schluss zu: In den Munitionsbunkern, die noch aus Wehrmachtszeiten stammen, lagerten Atomsprengköpfe für Boden-Boden-Raketen und atomare Artilleriemunition der sowjetischen Landstreitkräfte. Altengrabow war nur einer von mehr als zehn Lagerorten in der DDR. Dieses Wissen besaßen damals auch die westlichen Nachrichtendienste. Als am 9.April 1991 der Beobachtungstrupp in den Waldweg fuhr, war er nur einige hundert Meter von diesem Atomwaffenlager entfernt. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Soldaten des Beobachtungstrupps aus Potsdam von der Existenz der Atomwaffen in Altengrabow wussten und dies gezielt zu überprüfen versuchten. Ob die Offiziere eigenmächtig handelten oder ob es einen inoffiziellen Auftrag gab, sich das Atomwaffenlager Altengrabow genauer anzusehen, ist bislang unklar. Auch könnte der Bundesnachrichtendienst in dem Vorfall involviert gewesen sein. Noch vor 6 Uhr verließ am 15.Juni 1991 der Eisenbahntransport 26/1422 den Bahnhof Altengrabow in Richtung Fährhafen Mukran auf Rügen, um dort den Seeweg zurück in die Sowjetunion anzutreten. Von der WGT als »Transport mit gefährlichen Gütern« angemeldet, wies dieser gewisse Merkmale auf, die schon damals kaum Zweifel an seiner brisanten Fracht hinterließen. Auch aus anderen Munitionslagern der WGT, die allesamt die gleichen Merkmale wie jenes in Altengrabow aufwiesen, wurden derartige Gefahrguttransporte im Juni 1991 durchgeführt. Es dürften die letzten sowjetischen Atomwaffen gewesen sein, die Deutschland still und heimlich verließen. Damit ist es wahrscheinlich, dass sich im April 1991 noch Atomwaffen in Altengrabow befanden.
19.April 1991: Der zweite Vorfall in Altengrabow
Der Beschuss von Bundeswehrsoldaten durch sowjetische Wachposten blieb kein Einzelfall. Am 18.April 1991 erhielt wieder ein Beobachtungstrupp aus dem VBK-84 Potsdam den Auftrag, nach Altengrabow zu fahren und den genauen Verlauf der Liegenschaftsgrenzen an genau jenem Ort zu überprüfen, wo zehn Tage zuvor die Schüsse gefallen waren. Das Team bestand aus Major Schulz, ehemals NVA, Leutnant Dümmel, Fachdienstoffizier aus dem VBK-32 Düsseldorf, der für zwei Wochen nach Potsdam zur Unterstützung abkommandiert war, und Major Weiß, der bereits beim ersten Vorfall in Altengrabow zum Trupp gehörte. Dieses Mal wurde ein »Wartburg« als Dienstwagen gewählt, der nicht in der Sowjetarmee anzutreffen war und sich somit sowohl optisch als auch akustisch von den sowjetischen Fahrzeugen unterschied. Diesmal befuhr der Trupp auch nicht die Wald- schneise, sondern stellte das Fahrzeug auf der öffentlichen Straße hinter einem Bahnübergang ab, ca. 100 Meter von der Liegenschaftsgrenze entfernt. Zu Fuß näherten sich die Bundeswehroffiziere dem Eingangsbereich des Munitionslagers und fotografierten diesen. Sie hielten dabei mindestens 50 Meter Abstand zum Zaun. Soldat Delyukin, eingesetzt als Wachposten, entdeckte die deutschen Soldaten. Die beiden Majore, die russisch sprachen, richteten einige beschwichtigende Worte an Delyukin. Danach begaben sie sich wieder zurück zum »Wartburg« und verstauten die Kamera im Kofferraum. Sie glaubten nicht, dass eine direkte Bedrohung von dem Postensoldaten ausgehen könnte. Es war keine Flucht, sondern ein geordneter Rückzug. Währenddessen bezog Delyukin am Boden Stellung und schoss vermutlich gezielt auf das Auto, nachdem die Offiziere wieder eingestiegen waren. Ein Schuss, ein Treffer. Das Geschoss durchschlug die Heckscheibe des Wartburgs, deren Splitter den hinten sitzenden Leutnant Dümmel leicht an der Wange verletzte, durchbohrte den linken Oberarm von Major Weiß, der auf dem Beifahrersitz saß, und trat an der rechten A-Säule nach außen. Die drei Offiziere stiegen aus und suchten hinter dem Fahrzeug Deckung. Kurz darauf waren sie von Sowjetsoldaten umstellt. Ein sowjetischer Militärarzt versorgte Major Weiß mit einem Druckverband. Später traf ein deutscher Krankenwagen ein, der den angeschossenen Major ins Kranken haus nach Burg brachte. Es bestand zu keinem Zeitpunkt Lebensgefahr. Die Spurensicherung wurde von sowjetischer Seite zunächst behindert. Erst das Eintreffen des deutschen Staatsanwaltes sorgte für Abhilfe. Gegen 17 Uhr durften dann auch Major Schulz und Leutnant Dümmel den Ort des Geschehens verlassen. Sie besuchten umgehend Major Weiß im Krankenhaus, bevor sie am späten Abend in Potsdam ankamen. Noch in derselben Nacht fand eine umfassende Vernehmung im Heereskommando Ost statt. Das dazugehörige Protokoll ist heute eine wichtige historische Quelle für die Rekonstruktion des Vorfalls.
Ein Verletzter, keine Folgen
Die Vorfälle von Altengrabow wurden relativ schnell zu den Akten gelegt und blieben für beide Seite ohne ernste Folgen. Zwar sorgten sie zwischenzeitlich für Verstimmung zwischen den deutschen und sowjetischen Militärs, und auch der damalige deutsche V erteidigungsminister Stoltenberg geriet für kurze Zeit in Bedrängnis, doch war es oberste politische Prämisse der Bundesregierung, dass der Abzug der WGT ohne Gesichtsverlust für die sowjetische Seite und ohne nennenswerte Verzögerung vonstattenging. Auch das Oberkommando der WGT dürfte kein Interesse daran gehabt haben, dass Altengrabow als Atomwaffenstandort unnötige mediale Aufmerksamkeit erhielt. Das Verfahren gegen Soldat Delyukin, den Schützen des zweiten Vorfalls, wurde noch im August 1991 von der Staatsanwaltschaft Magdeburg ein gestellt. Vom ersten Vorfall am 9.April 1991 erfuhr die Öffentlichkeit kaum etwas. Die riskante Aufklärung eines sowjetischen Atomwaffenlagers durch deutsche Soldaten sollte besser nicht bekannt werden. Welche Rolle insbesondere die Bundeswehr und der Bundesnachrichtendienst beim Abzug der WGT spielten, untersucht der Verfasser derzeit im Rahmen eines Dissertationsprojektes.
Sascha Gunold
Literaturtipp Das Problem der Atomwaffen. In: Oliver Bange, Sicherheit und Staat. Die Bündnis- und Militärpolitik der DDR im internationalen Kontext 1969 bis 1990, Berlin 2017, S.491 494.