Magdeburger Zitadelle 1918 Tatsachenbericht von Rüdiger Stache
Die grauen Kolonnen der Gefangenen, der Männer ohne Waffen, werden von den deutschen Fronten im Sommer 1917 in endlosen Reihen aus allen dem Hinterland zugeleitet. Gefangene aus allen Erdteilen bauen an den Fabriken, die zur Sicherung der Rohstoffwirtschaft in großem Maße entstehen; als die Erntezeit kommt. mähen die Gefangenen auch das Korn der deutschen Äcker und bringen die Ernte ein. Dieser Krieg frist Rohstoff, er verbraucht Menschen und besonders mit Menschen muß sparsam umgegangen werden. Frauen arbeiten in den Munitionsfabriken. Sie stehen in Eisenbahnen und Straßenbahnen an Plätzen, die sonst von Männern eingenommen werden. In dieser Zeit sind die ältesten Jahrgänge längst aufgeboten, der Schutz der Heimat ist dem Landsturm anvertraut worden. Er steht an Brücken und Munitionslagern, an Flugplätzen und Depots, die Wachkommandos der Festungen in der Heimat werden von Landsturmmännern und kaum ausgeheilten Verwundeten gebildet, die zum Frontdienst untauglich wurden. In diesen Heimatfestungen sind Magazine und Kasematten zu Unterkünften für die Gefangenen ausgebaut worden, für politische Häftlinge und Spione. Die mächtige Zitadelle der ehemaligen Festung Magdeburg, von gewaltigen Mauern geschützt, zwischen zwei Elbarmen gelegen, hat schon 1866 und 1970/71 Gefangene beherbergt. In ihren alten Gemäuern, die eigentlich längst für den Abbruch bestimmt sind, erwachte bald nach Kriegsausbruch neues Leben. Höhere Offiziere der französischen und belgischen Armeen wurden hier interniert.
Geheimbefehl an das Generalkommando 4
In diesem Sommer 1917 strömen die Gefangenen in Scharen heran, ihr Marschtritt hallt über die Brücke vor dem Tor der Zitadelle, die Kasematten nehmen sie auf. Die Zitadelle beherbergt außerdem Gefangene, die im Interesse der Landesverteidigung die Freiheit wenigstens während der Kriegszeit nicht mehr erlangen dürfen. Die Zitadelle untersteht dem Magdeburger Garnisonskommando. Im Juli läuft über das stellvertretende Generalkommando 4 ein G e h e i m b e f e h l d e s K r i e g s m i n i s t e r i u m s ein. Er wird an den stellvertretenden Platzmajor Oberleutnant Sch. weitergeleitet, dieser hat nun für die Erfüllung des Befehls Sorge zu tragen. Es handelt sich um eine Angelegenheit besonderer Art, und das Ministerium hält es für notwendig, dringendst darauf hinzuweisen, daß die Durchführung des Befehls von Berlin aus besonders beobachtet und kontrolliert werden wird. In den nächsten Tagen wird ein G e f a n g n e r in die Zitadelle zu Magdeburg eingeliefert werden, dessen Betreuung nach bestimmten Richtlinien geregelt wird. Es handelt sich um keinen Kriegsgefangenen; der Mann um den man sich auf diese Weise sorgt, ist kürzlich auf Befehl des E r s t e n G e n e r a l q u a r t i e r m e i s t e r s im G r o ß e n H a u p t q u a r t i e r verhaftet worden. Seine Verhaftung erfolgte in W a r s c h a u; er ist gegenwärtig auf einer Festung am Rhein untergebracht. Aus besonderen Gründen wird er nach der Zitadelle in Magdeburg überführt. Die Sorge des Kriegsministeriums ist nicht unbegründet. Der d e u s c h e N a c h r i c h t e n d i e n s t hat in Erfahrung gebracht, daß von auswärtigen Mächten, deren Mittel nicht unterschätzt werden dürfen, bereits Pläne zur Befreiung dieses Schutzhäftling entworfen worden sind.
Generalstabsoffiziere unterwegs
Ein Auto durchquert in diesen Tagen Deutschland. Höhere Offiziere sitzen in ihm, Sie sind in besonderem Auftrage unterwegs und begleiten den Mann, der durch den Befehl des Kriegsministeriums in Magdeburg angekündigt wurde. Die Fahrt dauerte schon viele Stunden, Sie begann am Rhein; kaum, daß der Morgen kam, verließ der Wagen W e s e l. Es geht nun in den späten Nachmittag. Der Staub liegt grau auf den Uniformen der Offiziere, und seit Jahren hat man einen so heißen Sommer nicht erlebt! In den Städten, durch den sie fahren. Marschieren Soldaten, überall gibt es Uniformen auf den Straßen. Wenn das Auto da und dort eine dieser grauen Soldatenkolonnen überholt und langsamer fahren muß, grüßen die Offiziere nach diesem rastlosen Auto hin. Ein Offizier, der eine blaugraue Uniform trägt, sitzt zwischen den beiden Generalstäblern im Auto. Ein paar Mal bleiben die Menschen stehen, heben die Arme und zeigen auf diesen fremden Offizier. Die Mütze. Die er trägt, ist ihnen unbekannt, und dann – seht nur diese merkwürdige blaugraue Uniform! Das ist doch wohl ein hoher Gefangener, sagen sie, wenigstens ein General! Und auch die jungen Soldaten nicken sich zu und marschieren weiter und denken, daß es draußen doch wohl gut gehen mag, wenn Sie hohe Generäle gefangennehmen. Der Kraftwagen aber ist schon weit hinter ihnen in einer Staubwolke verschwunden; er rast unaufhaltsam vorwärts.
Schweigsamer Gefangener
Einmal halt das Auto vor einem einsamen Straßengasthaus. Die Generalstabsoffiziere wollen kurze Rast halten, die Glieder ein bißchen ausstrecken, den Staub aus dem Gesicht waschen. Sie bitten den fremden Offizier, in das Gasthaus einzutreten. Die Welt ist hier so gut wie ausgestorben, man hat keine Neugierigen zu fürchten! Es geht vielleicht gegen den Befehl; diese Fahrt aber soll der Teufel holen! Der General in der graublauen Uniform lächelt ein wenig müde und unmerklich; er hat wohl s c h l i m m e r e F a h r t e n als diese hinter sich! Jetzt steigt er aus dem Auto und geht mit schwerfälligen Schritten zur Tür des Gasthauses. Seine Gestalt ist leicht vorübergebeugt, er hält das Gesicht beständig der Erde zugewendet, wie Gefangene es zu tun pflegen, die ihre Geheimnisse mit sich umhertragen. Plötzlich bleibt er stehen, sein Ohr hat einen fernen Laut vernommen, er richtet sich in seiner ganzen Größe auf und sieht über seine Begleiter in das freie Land hinein. Dort drüben dehnen sich G e t r e i d e f e l d e r , die Zeit der Reife ist da und schon haben sie mit der Ernte begonnen. Das ferne Geräusch kommt von einer Mähmaschine, den General hat es in eine andere Welt versetzt! In seiner Heimat, weit drüben im Osten, gehen sie jetzt auch über die Felder. Sie tragen Sensen auf den Schultern, bunte Bänder an den Hüten und bringen die Ernte ein. Die Zeit aber drängt, man kann sich hier nicht lange aufhalten – und vor dem Abend müssen sie befehlsmäßig ihr Ziel in Mitteldeutschland erreichen. Der General ist einverstanden, ganz wie die Herren wünschen! Er atmet einen Augenblick den Duft dieser reifen Felder ein, dann betritt er das Gasthaus. So schnell ist es ihm gelungen, diese Erinnerungen zu verscheuchen, er hat sich ganz in der Gewalt! Dabei wird diese Fahrt für ihn vielleicht für lange Zeit ein letzter Augenblick in die Freiheit sein. Und vielleicht auch hat man heute von manchen Dingen für immer Abschied zu nehmen! Von ernteschweren Feldern in denen Kornblumen blühen und die dieser Krieg noch nicht zerstampft hat. – Eine Stunde später fahren sie weiter. Der General sitzt schweigsam in einem Winkel, des Autos zurückgelehnt, er sieht nicht mehr rechts und links auf die Felder, sein Gehirn arbeitet an anderen Dingen; nur nicht diese gefährliche Sehnsucht aufkommen lassen! In der ersten Dämmerung sehen sie weit drüben in der Ebene Türme aufragen; einer der Generalstabsoffiziere atmet auf, sie haben ihr Ziel endlich erreicht. Der General drückt sich noch tiefer in seinen Winkel, in ein paar Minuten werden wieder Mauern um ihn sein, Kerkerwände, die ihn nun schon so viele Male in seinem Leben von dieser Welt der Freiheit getrennt haben.
Die fremde Stadt
Sie kommen in die Stadt. Magdeburg! Sagt einer der Offiziere. Der General denkt nach. Er sucht diese Stadt in Gedanken auf der Landkarte von Deutschland. In den letzten Jahren hat er täglich Landkarten in den Händen gehalten, Generalstabskarten von P o l e n. Dort haben sie gekämpft, der weite Raum zwischen L e m b e r g und W i l n a ist von ihm an der Spitze der Polnischen Legion immer durchquert worden. Einmal hat er mit seinen U l a n e n einen Zug zwischen beiden Fronten unternommen, links standen die R u s s e n, rechts die D e u t s c h e n, vor ihnen lag K r a k a u. Die Weichsel hörten sie in den Nächten rauschen, so leise sind sie marschiert – Ach, Träume alles, nichts als Erinnerungen! Das Generalstabsauto kommt durch eine enge Straße, über der Türme steil aufragen. Die Straße senkt sich zu einem breiten Strom hin ab; nun bekommt man den Blick wider von den Häuserreihen frei. In diesem Augenblick entdeckt der General diese fremde Stadt auf der Landkarte. Es ist, als er drüben über dem Strom in der abendlichen Dämmerung einen g e w a l t i g e n B l o c k aufragen sieht, dunkel und lauernd, ein Wall mit Bastionen und Mauern. Der Gefangene weiß jetzt, warum ihm vorhin K r a k a u in Erinnerung kam. Als sie vor drei Jahren diesen wahnsinnigen Marsch unternahmen, sahen sie die Wälle von Krakau so vor sich aufstehen. Das damals aber war die W e i c h s e l und um das Land an ihren Ufern hatte man ein Leben hindurch gekämpft.
Im Hofe der Zitagelle
Sie kommen über die Elbe. Die große Strombrücke ist mit Bastionen an beiden Enden versehen, sie haben heute wohl keinen Sinn mehr, in diesem Kriege keinesfalls! Und auch dieses Unding von Zitadelle, das sich vor einem in den sinkenden Tag hineinbaut, hat nun schon über ein Jahrhundert hindurch keine Feinde mehr gesehen, es sei denn, als Gefangene! Das Auto fährt jetzt über den Wallgraben; als die Wache die Uniformen der Generalstäbler erkennt, wird das Tor geöffnet. Die beiden Flügel drehen sich schwer in den Angeln, nun lauert die Einfahrt nach dem Auto hin. Sie kommen unter dem Wall hindurch, jetzt liegt der w e i t e H o f d e r Z i t a d e l l e vor ihnen. Eine weite Fläche, auf die vergitterte Fenster und die Schießscharten aus den Bastionen herabsehen. Der Hof der Gefangenen!
Das Auto wird erwartet.
Zwei Offiziere treten heran und grüßen, die Generalstäbler steigen aus und jetzt tritt ein Augenblick der Verlegenheit ein: Ist der Gefangene eingeschlafen, daß er immer noch so zusammengesunken in seinem Winkel lehnt? Nein doch kann einer mit offenen Augen schlafen! Jemand räuspert sich, der General fährt auf, er nickt kurz und steigt hastig aus dem Auto zu kommen! Einer der umherstehenden Herren will ihm behilflich sein, glaubt er, daß der fremde General krank ist? Keinesfalls, dieser Gefangene hat den verzweifelten Ausdruck von vorhin aus seinem Gesicht hinweggelöscht, her beherrscht sich vollkommen und lächelt!
JOSEF PILSUDSKI Von F. W. von Oertzen (Copyriche 1933 by Charles Colemann, Lübeck)
I.
Die Welt kennt den Namen Josef Pilsudski. Die Welt weiß, dass der erste Marschall Polens der unumschränkte Diktator seines Vaterlandes ist oder sein kann. Die Welt kennt Polen und sie kennt den Namen Josef Pilsudski. Aber wer kennt den Menschen? Es gibt schon heute eine Reihe von Lebensbeschreibungen dieses seltsamen Menschen, der als revolutionärer Sozialist begann und der heute im Alter als ein kranker, einsamer und verbitterter Autokrat seinem Tode entgegensieht. Es gibt für einzelne Abschnitte dieses romanischen und als Ganzes gesehen, tragischen Lebens Schilderungen von Pilsudski selbst. Aber was fehlt ist ein Bild des M e n s c h e n, gezeichnet auf dem Hintergrunde der dramatischen Ereignisse eines historisch bedeutsamen Lebens, ein Bild, das frei ist von den Schnörkeln des Byzantinismus, die die Biographien seiner polnischen und französischen Verehrer verunzieren, ein Bild, das Raum läßt für die Tragik eines Menschen, ein Bild, das für uns Deutsche auch deshalb von grundsätzlicher Bedeutung ist, weil sich in ihm vieles findet, woraus wir lernen können, wenn wir mit offenen Augen den Lebensweg dieses nationalistischen Sozialisten betrachten, der auf dem Höhepunkt seiner macht vergaß, daß die Stärke seines Nationalismus in der Verbindung mit dem Sozialismus gelegen hat. Der Rahmen, der diese Arbeit umspannt, bedingt die Vorwegnahme ganz weniger trockener Lebensdaten, ohne die die einzelnen Bilder zusammenhanglos sein würden. Josef Pilsudski wurde 1867 in Zulow bei Wilna als Sohn eines Vaters geboren, der aktiv am polnischen Aufstand von 1863 teilgenommen hatte und dabei den größten Teil seines ursprünglich ziemlich beträchtlichen Vermögens verloren hatte. Der junge Pilsudski, der von seiner Mutter im Geiste der romantischen polnischen Freiheitstradition erzogen wurde, besuchte zunächst das Gymnasium von Wilna und bezog dann die russische Universität Charkow, um Medizin zu studieren. Die russischen Universitäten der damaligen Zeit waren Sammelpunkte der revolutionären jungen russischen Intelligenz. Schon damals trat an Pilsudski die Anregung heran, sich an revolutionären Terrorakten, gegen das zaristische Regime zu beteiligen. Einer der Biographen legte ihm die folgende ablehnende Antwort in den Mund: „Man kann nicht wissen, welche Haltung irgendein anderes neues Regime gegenüber Polen einnehmen würde“. Trotz seiner Zurückhaltung geriet Josef Pilsudski in den Verdacht der Teilnahme an einer studentischen Verschwörung und wurde zu der höchst zulässigen Verwaltungsstrafe von 5 Jahren Verbannung nach Sibirien verurteilt. Nach seiner Rückkehr aus Sibirien fand Josef Pilsudski in seiner Heimat die ersten Ansätze einer Organisation polnischer Sozialisten vor. Ihr schloß er sich an und wurde zum ersten „Chefredakteur“ des illegalen sozialistischen Organs „R o b o t n i k“, dessen erste Nummer am 12. Juli 1894 erschien. Fast sechs Jahre arbeitete Pilsudski an diesem Blatt und dem weiteren organisatorischen Ausbau der P.P.S. (Polnische Sozialdemokratische Partei), bis er schließlich am 25. Februar 1900 in Lodz von der russischen Geheimpolizei verhaftet und zur Aburteilung in die Zitadelle von Warschau überführt wurde. Ein Jahr später gelang ihm eine beinahe märchenhaft anmutende Flucht. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in London ließ er sich in Krakau nieder, um von dort aus ungehindert durch die österreichischen Behörden die Organisation eines ständigen blutigen Kleinkrieges gegen die russische Herrschaft in Polen in die Hand zu nehmen. Nach Ausbruch des russisch- japanischen Krieges im Jahre 1904 versuchte er in Tokio die Unterstützung Japans für die Aufstellung einer polnischen Armee zu erhalten, mit der er auf eigene Faust gegen Russland Krieg führen wollte. Der Versuch schlug fehl und Pilsudski kehrte wieder nach Krakau zurück, wo er mit kurzer Unterbrechung bis zum Ausbruch des großen Krieges verblieb und – immer unter Duldung und teilweise inoffizieller Unterstützung der österreichischen Behörden – den organisatorischen Grundstock für die spätere polnische Legionen legte. Zum August 1914 übernahm er offiziell die Führung der polnischen Legion, die an der Seite deutscher und österreichischer Truppen gegen Russland focht. Wenn er sich in dieser Zeit auch den militärischen Kommando der Mittelmächte unterstellte, so betonte er doch stets, daß er einzig und allein mit seinen Leuten für die Freiheit Polens im Felde stehe. Diese Haltung führte dazu, daß Pilsudski und seine Legionäre es ablehnten, einen Treueid auf die verbündeten Kaiser von Oesterreich und Deutschland abzulegen. Die deutschen Besatzungsbehörden in Polen lösten darauf die polnischen Legionen im Sommer 1917 auf und Pilsudski selbst wurde in der Festung Magdeburg interniert. Beim Zusammenbruch im Herbst 1918 wurde Pilsudski freigelassen. Am 10. November 1918 traf er spät abends in Warschau ein. Die von den Mittelmächten eingesetzte provisorische Regierung übergab ihn sofort die Führung der Staatsgewalt. Von Ende November 1918 bis Ende des Jahres 1922 fungierte er als Staatschef. In diese Zeit fällt der polnisch-russische Krieg von 1920, der seinen Höhepunkt in der Entscheidungsschlacht vor den Toren Warschaus im August 1920 fand. Das sog. „W u n d e r a n der W e i c h s e l“ rettete Polen vor der Ueberflutung durch die rote Armee Rußlands. Als nach der Ermordung des auf Pilsudski Wunsch im Dezember 1922 zum Staatspräsidenten gewählten R a r u t o w i c z der Einfluß der rechts eingestellten innerpolitischen Gegner Pilsudski wuchs, legte er auch seine militärischen Aemter nieder und zog sich vorübergehnd ganz aus den öffentlichen Leben zurück. Unter dramatischen Umständen kam es dann im Mai 1926 zu einem bewaffneten S t a a t s s t r e i c h d e s M a r s c h a l l s, der ihm nach blutigen Straßenkämpfen in Warschau von neuem die gesamte Macht über Polen in die Hand gab. Von da an datiert die eigentliche Diktatur Pilsudskis, ohne daß der Marschall selbst die Staatspräsidentschaft übernommen hätte ohne daß er offiziell die Führung der einzelnen zeitweise sehr schnell aufeinander wechselnden polnischen Regierung innegehabt hätte.
Pläne um einen Schutzgefangenen
Das Generalkommando IV erhält im Sommer 1917 den Befehl, in der Magdeburger Zitadelle besondere Vorkehrungen für die Aufnahme eines Schutzgefangenen zu treffen. Als der Gefangene erscheint, erfährt man, daß es sich um einen höheren ausländischen Offizier handelt, der als Kämpfer für eine politische Idee ein sehr abwechslungsreiches Leben hinter sich hat.
1. Fortsetzung.
Im Zuchthaus des Zaren
Der Gefangene hat viele Jahre im Gefängnis zugebracht! Kennt jemand die russischen Kerker? Die Zuchthauszellen der z a r i s t i s c h e n Zeit, in die sie die polnischen Revolutionäre einsperrt? Der gefangene General lächelt! Diese deutschen Offiziere sind wohl a n d e r s als die G e n d a m e r i e o f f i z i e r e , dir ihn vor d r e i ß i g Jahren nach dem Attentat auf den Zaren von Petersburg nach Sibirien brachten. Nein, kein Vergleich! Sie legten ihre Hände an die Helme und grüßten und einer will ihm beim Aussteigen helfen.
Danke! sagt der gefangene General. Es ist das erste Wort, daß hier über seine Lippen kommt. Und er spricht noch mehr, einen ganzen Satz, das ist viel für ihn, den sie den s c h w e i g s a m e n Gefangenen nennen. Er sagt: D a s h e u t e w a r e i n s c h ö n e r T a g m e i n e H e r r e n! Sein Blick wendet sich den Wolken zu, die eilen, er nickt zum Himmel hinauf, seine Gedanken sind nicht schwer zu erraten, die Wolken ziehen o s t w ä r t s!
Es war ein schöner Tag! Aber nun ist diese Fahrt durch die Freiheit zu Ende gegangen. Die beiden Generalstabsoffiziere verabschieden sich, ihr Auftrag ist erfüllt! Ihr Gefangener ist nicht einer von den vielen Offizieren der fremden Armeen, die man von der Front hereinbrachte. Diesen General haben sie heute von W e s e l nach M a g d e b u r g gebracht, wie sie ihn kurz zuvor von D a n z i g nach S p a n d a u und von dort an den R h e i n führten. Diese Ueberführungen erfolgten immer heimlich und rasch, man mußte ununterbrochen auf der lauer sein, und mit Zwischenfällen rechnen. Dem Nachrichtendienst war es wohl längst bekannt, daß geheime Organisationen alles versuchen würden, mit diesem Gefangenen in Verbindung zu treten.
Die Offiziere übergeben in der Kommandantur Akten, sie enthalten die Papiere des Gefangenen. Der Adjutant wirft einen Blick darauf und ist im Augenblick von seinem Stuhl hoch. Der Name, der auf dem Aktendeckel steht, ist ihm gut bekannt. Vor ein paar Tagen hat das Kriegsministerium Befehl gegeben, einen Gefangenen von b e s o n d e r e r B e d e u t u n g in der Zitadelle zu internieren. Es handelt sich um einen hohen Offizier, den Kommandeur der polnischen Legion, die während des russischen Feldzuges auf Seiten der Mittelmächte gegen die Russen gekämpft hat. Dieser polnische Kommandant, jetzt in S c h u t z h a f t in der Zitadelle zu Magdeburg, ist der Legionsgeneral Josef P i l s u d s k i.
Geheimnis aus Akten
Sie haben viele Gefangene in der Zitadelle, Engländer und Franzosen, aber keinen Polen! Außerdem weiß man wohl, was Pilsudski bedeutet. Wie man hörte, fragte der Adjutant, hat die Oberste Heeresleitung selber die Verhaftung angeordnet. In diesem Augenblick treten die Offiziere ein, die Pilsudski im Hof der Zitadelle in Empfang genommen haben. Es ist Oberleutnant Sch., der stellvertretende Platzmajor, und ein Adjutant des Garnisonskommandos. Der Platzmajor hat es sich nicht nehmen lassen, den Gefangenen selbst in seine Wohnung zu geleiten. Befehl von oben!
Hören Sie nicht zuviel! sagt er jetzt und bittet sich die Akten Pilsudskis aus, die das Kriegsministerium geschickt hat und beginnt sie zu durchblättern. Ein paar Minuten ist Stille im Zimmer, dann sieht der Oberleutnant auf. Er erkundigt sich, ob die Wachen verstärkt worden sind! Dieser Gefangene wird ihnen doch nicht mehr Kopfschmerzen machen, als die Engländer und Franzosen! Auf alle Fälle aber hat man Gründe, sich mit dem General in der blaugrauen Uniform eingehend zu befassen. Dieser Gefangene hat ein merkwürdiges Leben hinter sich; übrigens geht aus den Akten hervor, daß seine Verhaftung durch General L u d e n d o r f f erwirkt worden ist. Die Akten verraten noch mehr. In Polen beraten geheime polnische Organisationen in dieser Stunde, wie die Befreiung des Kommandanten der früheren Legionen durchgeführt werden kann. Diese Organisationen sind überaus gefährlich, sie stehen unter der Leitung von Polen, die früher in der deutschen Armee gedient haben und sich auch über die V e r h ä l t n i s s e i n M a g d e b u r g unterrichtet sein dürften. Es muß angenommen werden, daß sie, sobald die Ueberführung Pilsudskis bekannt wird, S p i o n e n a c h M i t t e l d e u t s c h l a n d entsenden werden, die mit dem Gefangenen in Verbindung treten sollen. Im Hof der Zitadelle steht hinter hohem Plankenzaun ein einstöckiges Haus. Es ist von einem Ziergarten umgeben, der an den Festungswall stößt, Akazien und Linden strecken ihre Aeste über das Dach des Fachwerkbaues, Holundersträuchern sind grüne Blenden vor den Schießscharten der Bastionen. Der Kommandant der polnischen Legionen ist im Haus unter den Schießscharten eingezogen. Ein paar Wochen vorher hat er im B e l v e d e r e in Warschau gewohnt, mit ihm hat dieses haus keine Aehnlichkeit! Aber könnte es anders sein? Kenesfalls, die Verhältnisse haben sich geändert!
Im oberen Geschoß bewohnt Pilsudski d r e i R ä u m e. Es sieht hier nicht großartig aus, da ist ein Feldbett mit Schrank und Kommode im Schlafraum und ein Wohnzimmer, in dessen Mitte ein Tisch steht, dazu kommt ein Empfangszimmer, alles einfach und militärisch! Aber haben es die U l a n e n besser, mit denen man einst gegen K i e l c e geritten? Nein. Pilsudski hat ihnen im letzten Augenblick den befehl gegeben, sich verhaften zu lassen. Heute sitzen sie in L a g e r n h i n t e r S t a c h l d r a h t, sie haben den Befehl befolgt, kann man es besser haben! Außerdem ist es hier nicht das schlechteste Gefängnis, das man kennen lernt, offen gestanden, es ist sogar a u ß e r o r d e n t l i c h!
Der Gefangene sieht vom Fenster aus über den Plankenzaun in den Festungshof. Die Dunkelheit ist längst da; in ihr ist die Zitadelle unsichtbar geworden. Weit drüben leuchtet der Himmel rot. In der ungewissen Dämmerung heben sich die Türme gegen ihn ab, sie wachsen jenseits des Stromes auf, die Stadt liegt hinter dem Wall versteckt.
Die Stadt, aus der heute die Soldaten mit Blumen an Helmen und Gewehren ausmarschierten, liegt dicht vor diesem einsamen Mann. Er braucht nur aus dem Zimmer gehen, eine schmale Treppe hinuntersteigen, durch die Tür im Plankenzaun hinauszuschlüpfen und über den Wall mitten ins tägliche Leben dieser Stadt hineinsteigen.
Lauscher in der Nacht
Die erste Nacht in der Zitadelle zu Magdeburg kommt. Der Gefangene liegt schlaflos. Er denkt und denkt, arbeitet an Plänen, die einmal verwirklicht werden sollen, wenn man wieder frei sein wird. Dann wird sein fieberhaftes Grübeln unterbrochen, draußen werden in der Stille Schritte hörbar. Ein Posten geht um das haus. In Wesel wusste man nur, daß dieser Posten vorhanden war, er blieb hinter einer hohen Mauer unsichtbar. Pilsudski hört, wenn der Soldat stehen bleibt, um zu lauschen, wie er einige Zeit später weitergeht.
Der General kommt zu keinem Schlaf. Die Zeit vergeht hörbar, man kann sie an den Schritten des Posten abzählen. Von den Steinstufen vor der Haustür geht er hundertdreiundfünfzig Schritte rund um das Haus, bis sein Stiefel wieder über die Steinplatte knallen. Später erfolgt die Ablösung, zweimal hört Pilsudski noch diese Ablösung vor dem haus, dann erst kommt der Schlaf.
Es ist merkwürdig, er schläft seit vielen Wochen zum erstenmal wieder in der Nacht ein. Im Traume sieht er Soldaten, die von Frauen Abschied nehmen, um gegen Frankreich zu ziehen.
Heimat im Kerker
Der Platzmajor kommt am nächsten Tag, er erkundigt sich nach den Wünschen des Generals. Pilsudski fragt nach seinem Adjutanten, dem Legionsoberst S o s n k o w s k i, der am 21. Juli mit ihm zusammen in Warschau verhaftet wurden ist. In Spandau und Wesel ist der Adjutant in seiner Nähe gewesen, wo bleibt Sosnkowski jetzt? Stille im Raum. Der Oberleutnant schweigt, Befehl von oben! Pilsudski duchmißt den Raum mit unruhigen Schritten, so ist er nun vollkommen von der Welt abgeschnitten. Gut, man wird das hinnehmen müssen! Diese Einsamkeit ist auch nicht das schlimmste. Es gibt Dinge, die schwerer auf den Schultern Pilsudskis lasten: D a s S c h i c k s a l s e i n e s V o l k e s!
Das Gesicht des Gefangenen ist finster, es drückt M i ß t r a u e n aus. Vielleicht scheint es Oberleutnant Sch. Nur so, die Augenbrauen des Mannes vor ihm sind zusammengewachsen, sie sind eine Wildnis im Gesicht! Der Schnurrbart hängt zu beiden Seiten des Mundes herab, das alles läßt ihn wohl grimmiger erscheinen, als es ist!
Pilsudski unterbricht plötzlich seinen Gang. Er bleibt vor dem Oberleutnant stehen, ein prüfender Blick sticht unter den Augenbrauen hervor. Der Oberleutnant schweigt. Gut, so liegen Gründe für diese Haftverschärfung vor! denkt Pilsudski. Da war zuerst die unerwartete Ueberführung aus Wesel, jetzt die Trennung von Oberst Sosnkowski. –
Nun erlebt der Oberleutnant, daß Pilsudski lächelt. Jawohl, dieser Gefangene, der eben noch unzufrieden aussah, lächelt, er ist ein unerschöpflicher Mensch! Pilsudski fühlt sich in diesem Augenblick nicht mehr einsam, auch in dieser Stille nicht! Wenn man ihn in der Zitadella einschließt, so folgerte er, müssen draußen Kräfte am Werk sein, ihn zu befreien. Es ist klar, seine Leute werden ihn nicht vergessen, nichts unversucht lassen, ihn hier herauszuholen!
Der Schutzhäftling der Magdeburger Zitadelle ist in seinem Leben schon mehrmals von Kameraden aus russischen Kerkern befreit worden. Er hat auch jetzt die Hoffnung auf eine schnelle Befreiung noch längst nicht aufgegeben!
2. Fortsetzung
Im zehnter Pavillon
In diesen Tagen sind bald sechzehn Jahre vergangen, seitdem sie ihn aus dem berüchtigten z e h n t e n P a v i l l o n d e r W a r s c h a u e r Z i t a d e l l e zur Freiheit verhalfen. Gegen diesen fürchterlichen Kerker zu Warschau ist dieses Haus im Festungshof zu Magdeburg so gut wie nichts, ein heiterer Sommeraufenthalt ist es!
Ein paar Wochen sind vergangen, als man in Warschau seinen vierzigsten Geburtstag feierte, aber was ist das Leben bisher gewesen! Es ist so gut wie nicht mehr vorhanden, man hat überwunden, man ist jung wie am ersten Tag, man sieht nur Zukunft und Pläne!
Der General muß dem Platzmajor eine Freundlichkeit sagen, er bedankt sich, es gefällt ihm ganz ausgezeichnet! Er spricht sehr gut Deutsch, aus seiner österreichischen Verbannungszeit, er sagt: Es ist wie daheim, Herr Oberleutnant! Sie wissen doch. Kerker sind mit zur z w e i t e n H e i m a t geworden…
Abenteuer“ denkt der Oberleutnant. In den letzten Jahrzehnten sind sie zahlreich hier eingezogen, die Zitadelle hat Festungsgefangene aus allen Gebieten des Reiches aufgenommen. Stubenarrestanten, die in diesem Hause lange Zeit verbrachten, weil sie wegen v e r b o t e n e n Z w e i k a m p f e s bestraft worden waren, politische Gefangene in den Monaten vor Ausbruch des großen Krieges! In diesem Hause hat bis vor wenigen Tagen ein belgischer General gewohnt, Kommandant der Festung Lüttich, der sich bis zum letzten Augenblick verteidigt hat und verwundet wurde. Nein, dieser Gefangene hat wirklich keinen Grund, sich zu beschweren! Immerhin – sein Besuch hat eine besondere Bewandtnis, er muß Pilsudski mit dem R e g l e m e n t für die Gefangenen der Zitadelle bekanntmachen.
Eine bloße Formalität, Herr General! Sagt Oberleutnant Sch, Pilsudski lächelt, er kommt dem Offizier, der ihn mit aller erdenklichen Höflichkeit behandelt, freundlich entgegen und bittet sich das Reglement aus. Jetzt atmet der Oberleutnant auf, ihm bleibt die Notwendigkeit erspart, seinem Gefangenen klar zu machen, daß die Tage in der Zitadelle bis zur letzten Minute aufgeteilt sind – nach einem Stundenplan für Häftlinge!
K e r k e r h e i m a t! Dasein zwischen Mauern, hinter Zäunen, mit Posten vor den Türen. Der erste Schritt am Tage wird durch das Regelement für Gefangene bestimmt, es bestimmt den letzten Schritt. Das Leben hat hier seinen Sinn verloren. Und doch – der gefangene General lächelt!
Der Platzmajor verabschiedet sich, immer liebenswürdig und gemessen, Josef Pilsudski hört, wie die schmale Stiege unter seinen Stiefeln knarrt, dann wird die Haustür geschlossen. Einige Minuten später erscheint eine Ordonnanz, der Soldat wohnt in den unteren Räumen des Hauses und teilt mit einem Kameraden und einem Unteroffizier die Gefangenschaft des Generals. Der Plankenzaun draußen umgibt Wächter und Gefangenen. Es ist neun Uhr, die Ordonnanz macht auf das Reglement aufmerksam, der Gefangene hat sich täglich von neun bis elf Uhr im Freien aufzuhalten, in der Zwischenzeit werden die Räume in Ordnung gebracht.
Gut, mein Sohn! sagt Pilsudski. Er macht sich für diesen merkwürdigen Ausgang fertig; als er die Treppe hinabsteigt, ist er gespannt, zu erfahren, was die Ordonnanz unter diesem „Aufenthalt im Freien“ versteht. Auf alle Fälle aber beschließt er, noch heute das Reglement zu studieren, um die Ordonnanz nicht wieder in Verlegenheit zu bringen. Nein, er möchte nicht weiter ohne Unkenntnis der notwendigsten Dinge in den Tag hineinleben.
Eine Minute später tritt Pilsudski in einen strahlenden Sommertag. Er steht unter Akazien, vor ihm liegt ein Z i e r g a r t e n, den er gestern schon von seinem Fenster aus gesehen hat, ein Gärtchen zwischen Haus und Festungswall, ein P a r a d i s u n t e r G i t t e r n! In ihm gibt es eine Grasfläche mit Strauchwerk, in das sandbestreute Wege eingeschnitten sind, Holunder mit dunklen Beeren und drei Apfelbäumchen. Das Fachwerkhaus ist mitten in den Garten gestellt, das ist eine Herrlichkeit, die man nicht erwartet hatte.
Fünfzig Schritte geht Pilsudski, dann ist er am Ende des Paradieses angelangt. Er bleibt hier stehen und lauscht in die Stille, vernimmt Rauschen und Plätschern. Der Wall, an dem der Garten hier endet, fällt auf der anderen Seite zum Strom hin ab. Die Zitadelle steht auf einer Insel. Es gibt wenig Hoffnung, hier so leicht hinauszukommen. Nein, solche Gedanken haben wohl keinen Sinn! Pilsudski geht zurück, schreitet um das Haus dreimal den gleichen Weg, jetzt ertappt er sich dabei, dass er der Spur des Posten folgt, die der Posten um das Haus ausgetreten hat. Nun wird er unzufrieden mit sich, dieser Trott durch den Garten ist entschieden ein Rückfall! Als Z w a n z i g j ä h r i g e r ist er in Sibirien auf diese stumpfsinnige Weise den Spuren gefolgt, die ein Zug von Gefangenen vor ihm ausgetreten hatte. Es ging nicht anders, sie waren mit Ketten aneinandergeschlossen, man mußte den gleichen Weg, wie der Vordermann gehen. Vier Jahre hindurch, einer hinter dem anderen, Schicksal in Sibirien. Die Geheimpolizei hatte ihn verdächtigt, in Petersburg 1887 ein Attentat auf den Zaren geplant zu haben. Vier Sommer und Winter unschuldig in Sibirien, zudiktiert vom maßlosen Haß! Pilsudski meidet den ausgetretenen Pfad um das Haus, er erinnert sich zu sehr an diese verfluchte Zeit, die man nutzlos durchleben mußte. Der Kerker ist wieder seine Heimat geworden. Er hat geheime Organisationen aufgestellt und die Heeresleitung mußte ihn in Schutzhaft nehmen. Ja, er hat damit von Anfang an gerechnet, nun muß man abwarten müssen. Die Zeit wird kommen, der Augenblick, in dem man sich wieder in die Dinge einschaltet, die auf Jahrzehnte hinaus die Welt erschüttern werden. Diese allgewaltige Erschütterung soll den Staat gebären, für den man sein Leben hindurch ringt!
Nachricht aus Polen
Drei Bäumchen stehen unter dem Festungswall, sie tragen ihre ersten Früchte, schon beginnen sie sich zu färben und die Reifezeit ist nicht mehr weit. Josef Pilsudski denkt an einen Garten in der Nähe von W i l n a, dem Landhaus, das seinen Eltern gehörte. Eines Tages spielte er als Kind unter dem großen Apfelbaum, als im Hause Geschrei ertönte. General M u r a w j e f f hatte seine Soldaten geschickt, sie führten Pilsudskis Vater hinweg. Der Polizeichef wollte ihm die Beteiligung am Aufstand gegen den Gouverneur nicht vergessen, jetzt plünderte man ihn aus.
Später kam die Mutter mit verweinten Gesicht aus dem Hause, sie stürzte auf ihn zu, voller Freude, daß die Kosaken ihn nicht ebenfalls davongeführt hatten. Unter dem Apfelbaum hatte seine Mutter geschworen, diesen g l e i c h e n Weg zu gehen, wie der Vater, den sie davonschleppten. Pilsudskis Vater aber war polnischer Revolutionär. Pilsudski ging seinen Weg. Er vergisst ihn keinen Augenblick. Drei Bäumchen an der Mauer der Zitadelle zu Magdeburg haben ihm neue Hoffnung gegeben. Das Leben ist nie umsonst gelebt, solange noch ein Herz in uns schlägt. Das ist der andere Trost des Schicksals für uns: W i r d ü r f e n a l l e H o f f n u n g f ü r u n s b e h a l t e n!
Pilsudski besitzt diese Hoffnung in starkem Maße, er kennt seine Leute in Warschau und Polen. Männer sind dabei, die Jahre hindurch mit ihm die russischen Kerker geteilt haben, einmal schon haben sie den Weg gefunden, ihn zu befreien. Jawohl, sie heben es fertig gebracht, ihn aus der W a r s c h a u e r Z i t a d e l l e zu holen, sie haben ihm die Türen aus dem P e t e r s b u r g e r K r a n k e n h a u s geöffnet, er ist voller Zuversicht, eines Tages werden sie auch den Weg finden, der in die Zitadelle zu Magdeburg führt. Pilsudski kennt seine Leute zu gut, als daß er vergebens auf sie warten würde!
Wir Menschen leben mit unseren Hoffnungen, wir sterben mit ihnen. Diesen Gefangenen haben drei Apfelbäumchen in einem Paradies unter Gittern die Erinnerungen freigegeben!
Weg in die Zitadelle
Pilsudski, der in der Magdeburger Zitadelle interniert ist, darf täglich einen langen Spaziergang im Garten unter dem Wall der Festung unternehmen. Bei diesen Spaziergängen kommen ihm stets Erinnerungen an Fluchtpläne aus früheren Kerkerzeiten. Als er eines Tages in seine Wohnung in der Zitadelle zurückkehrt, findet er eine erste Nachricht seiner Freunde, die ihn befreien wollen.
3. Fortsetzung
Pilsudskis Peowiaken
Die Ordonnanz kommt, es ist elf Uhr, die drei Stunden sind vorüber. Der General muß sich ins Haus zurückbegeben, er ist nicht mehr als ein Gefangener. Ja, aber einer, der draußen nicht vergessen wird, über dessen Geschick kein Gras wächst, er ist einer von denen, der das Glück hat, Kameraden zu haben. Als er die Räume betritt, die ihm hier als Wohnung zur Verfügung gestellt worden sind, findet er auf dem Tisch einen Zettel. Die Ordonnanz achtet nicht darauf, es ist ein ganz gewöhnliches zerknittertes Stück Papier, das dort liegt. Jawohl, für alle anderen, die hier aus und eingehen, aber nicht für Josef Pilsudski! Auf diesem Papier steht flüchtig mit Bleistift geschrieben die drei Buchstaben POW. Und das ist alles, was er erwarten konnte. Es ist ein G r u ß s e i n e r F r e u n d e, den nur er versteht!
In diesen Tagen findet in P o l e n eine geheime Versammlung von Polen statt, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den Kommandanten der Legionen aus Magdeburg zu b e f r e i e n. Die Teilnehmer an dieser Versammlung gehören der „P o l n i s c h e n M i l i t ä r- O r g a n i s a t i o n“ an, deren streng geheimes Ziel ist, auch die B e f r e i u n g P o l e n s im geeigneten Augenblick mit Waffengewalt zu erzwingen.
Diese Organisation, „POW“ genannt arbeitet gegenwärtig daran, besonders alle Polen zu erfassen, die im d e u t s c h e n H e e r e Dienst tun. Sie hat bereits Tausende von polnischen Soldaten der deutschen Armee in ihr unsichtbares Netz eingesponnen. Diese Polen erhalten bestimmte Aufträge, die sie im Interesse ihres Volkes durchzuführen haben. Die größere Zahl der Männer, die zu der Sitzung erschienen sind, gehörten früher ebenfalls dem deuten Heer an, sie flüchteten nach Polen, dort wurden sie der POW einverleibt, um nun als „P e o w i a k e n“ stille Arbeit zu verrichten, deren Endziel das unabhängige Polen ist. Die P o l n i s c h r M i l i t ä r- O r g a n i s a t i o n d e s p r e u ß i s c h e n T e i l g e b i e t e s, also Polens, hat es sich in den Kopf gesetzt, mit Pilsudski in Verbindung zu treten. Es ist für sie klar, daß allen denen, die an einem Befreiungsversuch teilnehmen, größte Gefahren drohen, aber ist nicht schon die Teilnahme an dieser Versammlung, die so gut wie unter den Augen der Polizei stattfindet, ein Wagnis, das bei seiner Entdeckung zum mindesten schwere Haft zur Folge hat?
Die POW in Polen hat es leichter, in Posen aber stehen sie auf preußischem Gebiet. Sie sind trotzdem zusammengekommen, es mußte wohl sein; ohne den Kommandanten ist nicht weiterzukommen. Alle Freiheitsbestrebungen der Polen fallen zusammen, wenn es nicht gelingt, ihn aus der Gefangenschaft zu befreien.
Der Leiter dieser Versammlung erinnert an den langen und beschwerlichen Weg, den Polens Freiheitskämpfer seit anderthalb Jahrhunderten gehen mußten. In diesem Augenblick, so sagt er, in dem das polnische Volk nahe dran ist, seine Unabhängigkeit zu erhalten, drohen alle Hoffnungen zuschanden zu werden. Sollen die Tausende, die unter der z a r i s t i s c h e n Herrschaft bluten mußten, umsonst gestorben sein, sollen wir selber für nichts gekämpft haben? Nein, ihr wisst, B l u t d a r f n u r v e r g o s s e n w e r de n, w e n n e s i m I n t e r e s s e d e s V a t e r l a n d e s n o t w e n d i g i s t. In dieser Stunde brauchen wir Männer, die einen kühnen Plan durchführen, Polen, die sich nicht fürchten, für unsere Idee zu sterben. Die Sitzung dauerte noch keine halbe Stunde, da wird der erste Vorschlag zur Befreiung des Gefangenen von Magdeburg angenommen.
Erster Befreiungsplan
Der Mann, der sich bereiterklärt, den Kommandanten aus der Zitadelle zu Magdeburg zu entführen, heißt Andrzej K o r z e n i o w s k i. Er gehört seit Monaten zu den Prowiaken. Als er jetzt vor sie hintritt, um ihnen seinen Plan zu erläutern, schütteln sie zuerst ungläubig die Köpfe, es gibt viele zweifelnde Gesichter, als sie erkennen, das Korzeniowski – ein s t e i f e s B e i n hat. Und ausgerechnet er will den Kommandanten aus der Zitadelle herausbringen.
Jawohl, ausgerechnet ich werde den Plan durchführen! Ruft ihnen Korzeniowski zu. Und gerade mein steifes Bein, über das ihr jetzt noch lacht, soll mir helfen, den Weg zum Kommandanten zu gehen!
Der Peowiake erklärt, schon in den nächsten Wochen nach M a g d e b u r g zu reisen. Er wird sich die U n i f o r m e i n e s p r e u ß i s c h e n L e u t e n a n t s anziehen, die Montur ist vorhanden, ebenso die notwendigen Ausweise. Alles hat Korzeniowski bedacht, er zieht sogar ein M o n o k e l hervor, das er tragen wird.
Er wird sich als Invalide ausgeben, als Frontsoldat, der heimkehrt, weil er für den Kriegsdienst untauglich geworden ist. Sein steifes Bein ist doch ein vollgültiger Berweis! Außerdem – und das ist die Hauptsache – Korzeniowski spricht f l i e ß e n d d e u t s c h, ein gutes Deutsch sogar, ohne jeden polnischen Akzent. Es wird für ihn eine Kleinigkeit sein, den Plan durchzuführen, ohne alle Gefahren! In Magdeburg will er einen Weg finden, die Zitadelle zu betreten und den Kommandanten zu befreien. Korzeniowski bittet, er stellt alles so leicht und überragend hin, daß die meisten Teilnehmer der Sitzung seinem Plan zustimmen. Die anderen bleiben voller Zweifel. Es ist möglich, da? Korzeniowski bis zum Kommandanten kommt. durchaus möglich, er ist außerordentlich tüchtig! Aber über die Durchführung der Befreiung selbst ist noch alles unklar, der Plan muß weiter ausgearbeitet und der Z e n t r a l e der Organisation in Warschau vorgelegt werden.
Die Peowiaken müssen bedenken, daß ein Scheitern des Versuchs dessen Wiederholung auf lange Zeit unmöglich machen würde, erklärt der Versammlungsleiter. Das gibt den Ausschlag! Warschau muß unterrichtet und befragt werden, bis der endgültige Entscheid fällt. Bis dahin aber muß man versuchen, mit dem Kommandanten in Verbindung zu treten und Helfershelfer in Magdeburg werben. Sollte ses nicht möglich sein, jemanden in der Zitadelle für die polnischen Interessen zu gewinnen?
Die POW ist am Werk. Der Gefangene der Zitadelle indessen vermag nicht mehr, als zu warten. In der langen Zeit der Stille und der Hoffnung, die nun für ihn beginnt, können Gedanken allein die Brücken nach der Heimat bauen. Im übrigen muß man versuchen, sich mit seiner Umgebung abzufinden, man muß mit ihr fertig werden, sie wird einem dann weniger drückend erscheinen.
Josef Pilsudski hat in schlimmen Gefängnissen gesessen, das hier ist, mit ihnen verglichen kein Gefängnis, keinesfalls! Das merkwürdige Haus mitten im Hof der Zitadelle, hinter Büschen von H o l u n d e r, unter L i n d e n und A k a z i e n heißt nach dem Festungsreglement „H a u s d e r F e s t u n g s – S t u b e n – G e f a n g e n e n“ und die Räume tragen nach den in ihnen hängenden Tafeln die Bezeichnung „S o m m e r o f f i z i e r s a r r e s t s t u b e n“ Diese Tafeln sind neu aufgehängt worden, die Ordonnanz möchte wohl nicht, daß der Gefangene eine der Vorschriften übersieht.
Festungsgefangene
Das Reglementbuch liegt seit dem Besuch des Platzmajors auf dem Tisch. Pilsudski blättert es auf, zahlreiche Arrestanten haben ihre Namen hineingeschrieben, Namen von Klang stehen hier, sie erinnern an S k a n d a l a f f ä r e n, über die einst an den europäischen Höfen gesprochen wurde. Diplomaten, Offiziere, Bankiers haben in diesen Zimmern ihre Arrestzeit verbracht, auch politische Gefangene! Später soll Pilsudski noch mehr als einmal an sie erinnert werden.
Dieses Reglementbuch ist übrigens ein Ding zwischen bitterem Ernst und heiterer Wirklichkeit! Aus ihm erfährt Josef Pilsudski, daß er am Tage zweimal drei Stunden im Garten spazieren gehen darf.
„Es ist verboten, die Ziersträucher im Garten auszureißen und dafür Gemüse zu pflanzen!“ steht da zu lesen. Gut, daraus ersieht man, wie die Gefangenen sich früher hier die Zeit vertrieben haben. Pilsudski denkt an den Garten, er sieht Herren, die in der Gesellschaft eine außerordentliche Rolle spielten, ganz unberührt von ihrer Umgebung in Hemdsärmeln in diesem Garten stehen und Radieschen säen. Er lacht, laut und herzlich, das vermag dieser Revolutionär, laut und herzlich zu lachen, daß der Posten unten seinen Schritt anhält und lauscht. Das Reglement nämlich besagt in der nächsten Vorschrift, daß diese Radieschen, die auf Grund der Bemühungen der Festungs-Stuben-Gefangenen wachsen, E i g e n t u m d e s G a r n i s o n s k o m m a n d o s sind und daß alle Gefangenen des Hauses Anrecht darauf haben. Es muß ein ganz außerordentlicher Streit gewesen sein, den die Gefangenen um die wachsenden Radieschen ausgefochten haben, wenn ein Reglement sich um diese Dinge bemüht. W a s e r h e b t d e r M e n s c h n i c h t a l l e s z u r N o t w e n d i g k e i t i m D a s e i n, w e n n i h m d i e M ö g l i c h k e i t g e n o m m e n w i r d, a n d e n W i r k l i c h g r o ß e n D i n g e n d e r m e n s c h l i c h e n E n t w i c k l u n g n i c h t m e h r m i t z u w i k e n.
Ziemlich zum Schluss unter #341 ist vom Schießverbot für die kaiserlichen Truppen die Rede. Dazu folgende Kopie des Extrablatts des "Vorwärts" vom 9. November 1818.
In seiner Schutzhaft in Magdeburger Zitadelle, aus der Ihn eine geheime polnische Militärorganisation befreien will, erinnert sich General Pilsudski an die Zeit, die er mit seinen Legionären im Felde verbracht hat.
4. Fortsetzung
Lustige Gefangene
Als die Ordonnanz erscheint und das Essen bringt, erschrickt sie über den grimmigen Ausdruck im Gesicht des Gefangenen. Pilsudski rührt das Mittagsmahl nicht an, die Ordonnanz räumt die vier Emailletöpfe wieder vom Tisch. In ihnen hat sie das Essen aus einem S t a d t r e s t a u r a n t geholt, nun steht der Soldat unschlüssig da. Die Gefangenen in diesem Hause früher sind lustiger gewesen, vielleicht auch ein bißchen berühmter, wie dieser polnische Offizier in seiner unscheinbaren blaugrauen Uniform.
Da war G r a f K ö n i g s m a r k doch ein anderer Kerl. Die ganze Welt kannte ihn als Herrenreiter. Beim D e r b y i n H a m b u r g hatte er sieben Herren vom Senat auf einmal gefordert. Als diese Angelegenheit bekannt wurde, kam er auf ein Jahr in die Magdeburger Zitadelle. Aber, was machte ihm das aus! Im Garten richtete er sich einen Sportplatz ein, die Kinder des Feldwebels kamen jeden Vormittag, er verteilte Schokolade unter sie. China und Afrika hatte Königsmark bereist, die Ordonnanz bekam von ihm Dinge zu hören, daß einem die Haare zu Kopf standen! Uebrigens erhielt dieser Graf alle Tage Besuch; eine Exzellenz aus der Stadt saß Stundenlang hier; einmal, als der Platzmajor unerwartet erschien, mußte sie in den Schrank steigen!
Mit diesen lustigen Zeiten ist es für immer vorbei! Die Ordonnanz kann wohl nicht erwarten, daß dieser gefangene ihr Geschichten aus China und Afrika erzählt!
Sosnkowski aus Kielce
Die Tage sind ohne Ende. In den Nächten stülpt sich die Stille gleich einer unsichtbaren Glocke über die Gefangenen und läßt sie mit ihrem fiebernden Denken allein. Diese Einsamkeit ist immer der beginn des Zweifels gewesen. Wehe aber dem, der an dem zweifelt, was ihm bisher als Sinn des Lebens erschienen ist! Josef Pilsudski schüttelt die Leere von sich; daß kann einer, dem das Leben E r i n n e r u n g e n läßt.
Es sind immer die größten Dinge auf dieser Welt gewesen, denen man nachgestrebt hat. Als der Krieg kam, ist man mit hundertsechzig Strezloy am ersten Tage gegen die Russen geritten. Eine handvoll Ulanen mit alten Gewehren, die ihre Patronen in den Rocktaschen hatten, gegen eine allgewaltige Armee! Einmal hatte man in einer schlimmen Sache Bedenken, da kam der Legionär S o s n k o w s k i und verlachte alles, hatte einen kühnen Plan, verlangte, daß man auf eigene Faust gegen die Russen Krieg führte. Jawohl, damals besetzte man K i e l c e, stand allein gegen den Feind, hat der ganzen Welt die Stirn, schrie es hinaus, daß man für seine Idee sterben könnte. Und die Ulanen starben, wenig genug, die übriggebliebenen sind aus diesen Tagen.
Der Legionär Sosnkowski ist übriggeblieben. Jawohl, Oberst Sosnkowski ist noch vorhanden; irgendwo in der Welt sieht er diesen Nachthimmel über sich, irgendwo…
Pilsudski läuft durch die Räume seiner Gefangenschaft. Drei Stuben, zwei Türen, sechs Fenster; er hetzt mit drei Sprüngen hindurch, das Fieber jagt ihn. Oberst Sosnkowski wurde mit ihm zusammen in Warschau verhaftet, wo blieb Sosnkowski…?
Ich werde Befehl geben, Sosnkowski zu bringen! Schreit der Gefangene. Er reißt am Glockenstrang, es läutet grell und unheimlich durch das Haus. Die Posten im Hof der Zitadelle bleiben stehen. Einen Augenblick später dröhnen Schritte, die Ordonnanz Kommt, öffnet die Tür steht mit erschrecktem Gesicht auf der Schwlle, starrt Pilsudski an.
Der Gefangene erwacht aus seinem Fieber. Die Ordonnanz ist kein Ulan in blaugrauer Uniform, nein, ein preußischer Infanterist, umgeschnallt und im Dienst, abkommandiert zur Bewachung des Legionsgenerals Pilsudski in der Zitadelle zu Magdeburg, der in Schutzhaft ist wegen geheimer Agitation gegen die verbündete deutsche Heeresleitung! Ach. Glaubt man, im Belvedere zu Warschau zu sein? Nein, ein F i e b e r t r a u m, nicht mehr! Pilsudski nickt drr Ordonnanz zu. Er bittet um frisches Wasser, es sei ihm nicht besonders gut. E i n G l a s f r i s c h e s W a s s e r, Ordonnanz!
Am nächsten Tag erscheint Oberleutnant W. Die Ordonnanz hat eine Meldung gemacht, der Gefangene fühlt sich nicht wohl. Aber es war nur ein bißchen Fieber, nicht mehr!
Sehnsucht nach Krieg
In Pilsudski ist eine Sehnsucht erwacht, er will in den Krieg hinaus! Jawohl, an die Spitze seiner Ulanen und kämpfen! Er bittet um Papiere, will ein Gesuch an das Kriegsministerium schreiben. Im gleichen Augenblick aber überlegt er, daß dieses Gesuch Unsinn wäre. Die Ulanen sollen nur noch einmal marschieren, wenn es Polen gilt.
Pilsudski erkundigt sich nach seinem Adjutanten, Legionsoberst Sosnkowski. Der Platzmajor möchte dem General die Haft erleichtern, er teilt ihm mit, daß Sosnkowski sich gleichfalls in Magdeburg befindet. Die H a u p t a r r e s t a n s t a l t in der Stadt ist als Aufenthalt für ihn bestimmt worden.
Diese Nachricht ist alles wert. Sosnkowski, Kamerad aus der Revolutionszeit, ist in der Nähe. Ein paar hundert Meter über dem Strom im Stadtgebiet liegt die Arrestanstalt, in der Offiziere aus allen Gegenden der Welt als Gefangene untergebracht sind und von einem Tag zum anderen auf eine Veränderung ihres Schicksals hoffen. Wenn es gelingt, das Kriegsministerium zu veranlassen, Sosnkowski ebenfalls in der Zitadelle unterzubringen, wird der Gefangenschaft ihre größte Härte, der Einsamkeit, genommen!
Der General entschließt sich, das Kriegsministerium zu bitten, seine Gefangenschaft mit Sosnkowski teilen zu dürfen. Die Sehnsucht nach Kameraden, nach dem Kriegsleben, nach den schlammigen Straßen zwischen den Fronten im Osten ist wieder da, sie ist unüberwindbar. Vielleicht wird sie eines Tages diese Fesseln sprengen, die einem hier umgeben; was sind Kerkermauern gegen Kameradschaft!
Oberleutnant Sch. ahnt von dem Toben in Pilsudski nichts, er wird seinem Gefangenen heute noch den Wunsch nach Schreibmaterial erfüllen. Nun verabschiedet er sich, der General ist äußerlich ruhig wie vorher, aber er hält den Blick dem Boden zugekehrt. Gefangene, die lange Zeit im Kerker zugebracht haben, wissen auf diese Weise ihre Gedanken zu verbergen.
Josef Pilsudski ist wieder allein. Aber kann einer, dem die Erinnerungen so reich kommen, jemals ganz vereinsamt sein! Keinesfalls, in diesen Stunden lebt einer nicht heut, er lebt zwischen gestern und morgen. Das Gestern aber ist Pilsudski nicht auszulöschen!
Der Gefangene blickt zum Fenster hinaus. Das Fieber erfaßt ihn wieder. Dort wollen die Mauern der Zitadelle über den Strom wachsen. Sie ragen zu den Wolken hinauf; ein einsamer Flecken Himmel sieht auf Pilsudski nieder. Und nun ist das hier nicht mehr die Festung Magdeburg; der zehnte Pavillon der Warschauer Zitadelle scheint ihn zu umschließen. Kosaken halten Wache, sie sind unerbittlich gegen den gefangenen Polen, der Väterchen Zaren nach dem Leben getrachtet haben soll.
Fieberträume
Eines Tages finden sie Pilsudski scheinbar wahnsinnig in seiner Zelle. Monate hindurch s i m u l i e r t e er Wahnsinn. Schließlich halten die Russen ihn wirklich für verrückt und bringen ihn nach einer Anstalt in Petersburg. Dort erkennt ein junger polnischer Arzt Pilsudski, verschafft ihm Zivilkleider, beide verlassen, kühn zwischen den Posten hindurchgehend, die Anstalt, so gelingt die Flucht.
Jetzt verschwinden die mauern drüben, ein grasbewachsener Wall bleibt, hinter ihm fließt die Elbe und ein Lastzug gleitet vorüber, der Ton der Sirene des Schleppdampfers reißt Pilsudski aus seinen Träumereien auf. Die Wirklichkeit hat ihn wieder. Diese Wirklichkeit besteht aus drei Arreststuben, einem Garten unter Gittern und dem Posten, der Tag und Nacht im gleichen Schritt um das Haus geht.
Der Infanterist F i e d l e r hat schon vor dem Kriege als Ordonnanz die Häftlinge im Offiziersarresthaus betreut. Als er in diesen Tagen dreimal das Essen aus Pilsudskis Zimmer trägt, ohne daß es angerührt worden wäre, versucht er es mit einem letzten Mittel. Er wagt etwas Außerordentliches und fragt Pilsudski, ob er ihm Bier bringen dürfe und verweist auf das Reglement. Die Gefangenen haben täglich Anspruch auf sechs Flaschen Bier oder eine Flasche Wein. Pilsudski lehnt ab. Er spricht den Wunsch aus, Zeitungen zu bekommen. Jawohl, Z e i t u n g e n, Ordonnanz, sind wichtiger als Bier! Fiedler läßt sich nicht so leicht abweisen. 1913 hatten wir einen Professor hier, der täglich zehn Flaschen Pilsener trank. Außerdem ließ er sich zweimal Essen aus dem Restaurant in der Stadt kommen. Sogar die vier französischen Kaplane, die 1914 hier waren, verlangten täglich R o t w e i n auf den Tisch.
Pilsudski erkrankt
Fiedler ist ratlos, der gefangene läßt ihn einfach stehen, er beachtet ihn nicht, steht wie immer am Fenster und starrt hinaus, er ist doch nicht krank geworden! Die Ordonnanz verschwindet und macht seine Meldung. Eine Stunde später betritt ein M i l i t ä t a r z t das Zimmer des Generals. Er bittet, Pilsudski untersuchen zu dürfen. Jetzt gleitet ein Lächeln über die Züge des Gefangenen. In S i b i r i e n hat er einmal bei 40 Grad Kälte krank in einem Stall von Lagerhaus gelegen, die Kosaken hielten ihn schon für erledigt und nahmen ihm die Decke fort. Die Kälte überwand das Fieber; er lebt noch heute! Hier steht ein Arzt in der Tür, der sich nach seinem Befinden erkundigt, weil er dreimal die Mahlzeit ausgeschlagen hat, Pilsudski dankt, er braucht keinen Arzt! Nein, aber wenn ihm der Doktor zu einer etwas größeren B e w e g u n g f r e i h e i t verhelfen könnte.
Der Arzt macht ein besorgtes Gesicht; Pilsudskis Aussehen gefällt ihm nicht. Die Augen liegen tief, Fieber brennt in seinem Gesicht; der V i e r z i g j ä h r i g sieht bedeutend älter aus. Aber es hat wohl wenig Sinn, ihn zu überreden, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, so verspricht er lediglich, dem Gefangenen größere Bewegungsfreiheit zu erwirken.
Gefangene von der Somme
In seiner Schutzhaft in der Magdeburger Zitadelle, aus der ihn eine geheime polnische Militärorganisation befreien will, erinnert sich General Pilsudski an die Zeit, die er mit seinen Legionären im Felde verbracht hatte. Zwischen Traum und Wirklichkeit sieht er eines Nachts lange Kolonnen Gefangener in den Hof der Zitadelle marschieren
5. Fortsetzung
Grausame Nacht
Die Dunkelheit kommt. Pilsudski sieht, wie sich die Tür im Plankenzaun öffnet und ein Mann mit einer Leiter auf der Schulter eintritt. Er lehnte sie an das Haus, steigt die Sprossen aufwärts und entzündet eine G a s l a m p e unter dem Fenster. Seine Arbeit nimmt ihn ganz in Anspruch; er beginnt, die Scheiben der Laterne zu putzen. Einmal fällt sein Blick auf das nahe Fenster, da fährt er zusammen, ein g r a u e s Gesicht starrt ihn an. Da steht ein Mann, dem ein gewaltiger Schnurrbart über den Mund herabhängt und sieht ihm bei der Arbeit zu. Ihm wird unheimlich; er beendet seine Arbeit und atmet erst auf, als er wieder unten neben dem Posten steht. Dieses haus hat von heute ab für ihn seine Geheimnisse!
Die Nacht ist das. Sie kamen wie ein schleichendes Bettelweib über die Wälle gekrochen, nun hüllt sie alles in ihren Mantel. Die Gestalt der Nachtfrau richtet sich über dem Fluß auf, da zwingt die Finsternis auch den Nebel, sie hechelt weiter über das Land; das nächtliche Rot über der Stadt verschwindet. Ein dunkler Fetzen flattert vor die Türme des t a u s e n d j ä h r i g e n Domes.
Es gibt nichts Grausameres für einen gefangenen, als diese Nächte ohne das Licht der Sterne; sie sind ohne Hoffnungen. Sie werfen den Einsamen auf sein Lager und legen unsichtbare Lasten auf seine Brust. Der Schlaf wird unruhig. Gestalten hetzen vorüber, die aus dem Geschehen von gestern in unbekannte Welten hineinwachsen, Pilsudski fiebert wieder.
Schweigende Kolonnen
Er reitet vor den Strzeley gegen Kielce. Es ist im August 1914 und er ist mit seinen Schützen der österreichischen Armee weit voran. Sie marschieren dem Tod entgegen. Wenn die Russen sie gefangen nehmen, droht ihnen unbarmherzig der Henker. Und die Russen kommen; Regimenter stürmen gegen die Stadt, die Strzeley sinken hin, einer nach dem anderen. Eine Handvoll wehrt sich noch. Als die Russen zum neuen Sturm ansetzen, sind plötzlich die Deutschen da. S c h l e s i s c h e L a n d w e h r rückt an; ihre Hornisten blasen zum Sturm; die Deutschen werfen den Feind. Die Russen müssen zurück, Polen wird frei; sie sterben zu Tausenden für Polen! Da liegt schon die W e i c h s e l vor ihnen: Die Zitadelle über dem Strom speit den Tod; die >Deutschen stürmen durch die Stadt. Warschau fällt. P o l e n ist f r e i.
Ein einsamer Mann sitz im Belvedere, er nickt dem Gefangenen Pilsudski zu, er trägt dessen eigene Züge. Die Deutschen machen Polen zum s e l b s t ä n d i g e n S t a a t; sie erlassen Aufrufe, die Polen sollen sich als Freiwillige in die Armee einreihen. Im Westen tont der Krieg in seiner größten Gewalt, das deutsche Hauptquartier braucht Soldaten. L u d e n d o r f f weist auf Polen; er rechnet mit achthunderttausend polnischen Freiwilligen. An diesem Tage erhebt sich der Einsame im Belvedere, spricht zur polnischen Legion, schickt Agenten aus. Der Revolutionär sieht in die Zukunft, von Russland wird sich morgen schon die b o l s c h e w i s t i s c h e Zerstörungswelle über Polen wälzen, dann braucht der Kommandant im Belvedere jeden Polen; dann beginnt der letzte große Kampf um die polnische Freiheit.
Die Aufrufe der Deutschen werden in Warschau von den Mauern gerissen. Die achthunderttausend Mann bleiben aus, eintausendvierhundert melden sich zum Heeresdienst. Da greift die Okkupationsbehörde zu; der Kommandant der Legionen wird verhaftet.
In dieser Nacht geht ein Brüllen durch die Welt. Im Westen stürmen die Deutschen, achthunderttausend Mann fehlen, die Kolonnen wanken. Die Kanonen brüllen von Flandern bis Verdun, über der Somme dampfen rote Nebel. Die große Schlacht tobt, Geschützlärm dröhnt über den Kanal, die Welt lauscht auf ihn. Der Gefangene in der Magdeburger Zitadelle weist die stumme Anklage dieser Nacht zurück. Was lehrt uns die Welt, was Europa, was der Rhein, er hat für das L a n d a n d e r W e i c h s e l gekämpft, dreißig Jahre hindurch.
Sieh doch mein Gesicht, das Fieber ist seit S i b i r i e n nicht aus ihm gewichen. Hör doch mein Herz, es schlägt schneller seit den durchquälten Jahren in Lodz. Ich habe alles für Polen gegeben, hörst du, alles!
Die Kolonnen marschieren, Sie singen nicht mehr, sind zu einem langen Zug schweigender Gestalten geworden, sie sind ohne Helm und Gewehr. Als Pilsudski erwacht, bleibt das Geräusch. Die Kolonnen marschieren, er hört den Lärm von tausend müden Schritten, er ist wie Regen, der auf die Straßen niederschlägt. Pilsudski schleppt sich zum Fenster. Da bietet sich ihm ein Bild, das aus seinem furchtbaren Traum zur Erde niedergelassen und Wirklichkeit geworden ist.
4 französische Kapläne
Eine Kolonne marschiert in den Hof der Zitadelle, Männer ohne Gewehr und Helm halten Einzug durch das Festungstor. Der General sieht ihre Züge im Schein der Gaslaterne. Sie sind müde und eingefallen, sein eigenes Gesicht starrt ihn tausendfältig an, sein eigenes Schicksal marschiert dort in die Zitadelle. In dieser Nacht sind französische Gefangene angekommen. Soldaten die gestern über die Somme den Rhein entgegenstürmen wollten, die heute Soldaten ohne Helm und Gewehr sind, G e f a n g e n e!
Der Hof der Zitadelle ist zum G e f a n g e n e n l a g e r geworden, eine Handvoll Landsturmmänner sind die Wächter. Ueber diese Mauern aber entflieht so leicht kein Gefangener, sie fallen steil zum Strom ab.
In diesen Tagen bekommt Pilsudski Besuch. General von R., der Garnisonsälteste, erkundigt sich nach dem Befinden des Kommandanten der Legion. Als Pilsudski wieder von Oberst Solnkowski spricht, schweigt General R. Nun erkennt der gefangene, daß man die Entwicklung der Verhältnisse abwarten will. Von diesem Tage an aber tritt eine E r l e i c h t e r u n g der Haft ein. Die Ordonnanz bringt Pilsudski die täglichen Zeitungen, er erhält auf seinen Wunsch ein Schachspiel und Kartenmaterial von den Kriegsschauplätzen. Er kann also die Kriegsereignisse verfolgen: von jetzt ab lehnt er wieder in der Welt! Dem Infanteristen Fiedler ist ein Stein vom Herzen genommen, sein Gefangener beginnt wieder zu essen! Pilsudski erkundigt sich einmal nach den früheren Gefangenen des Hauses Er möchter wissen, wer vor ihm hier „gewohnt“ hat!
Da weiß Fiedler wohl bescheid! Der K o m m a n d a n t v o n L ü t t i c h befand sich hier in Festungshaft, nachdem er von seiner Verwundung geheilt war. Dort. Wo der Herr General stehen, am gleichen Fenster, hat er die längste Zeit des Tages verbracht.
Pilsudski hat eine Entdeckung gemacht: auf der inneren Seite der Schranktür sind französische Worte eingekratzt; nun möchte er wissen, wer sie hingeschrieben hat. Der Kommandant von Lüttich? Es sind Schmähungen auf Deutschland!
Vor dem Kriege wohnten hier vier Häftlinge von der französischen Grenze, sagt Fiedler. Er erinnert sich und steckt mitten in einem großen Erlebnis! Die Gefangenen waren vier G e i s t l i c h e a u s E l s a ß-L o t h r i n g e n , die wegen S u b o r n a t i o n zu einem Jahr Festungshaft verurteilt waren. Im Dezember 1913 kamen sie in die Zitadelle, der Pfarrer H e n i q u i n und die Kapläne M a rt h i e u, A d a m u n d S p a c h e r. Sie machten Fiedler mancherlei Kopfschmerzen, keiner der anderen gefangenen wollte mit ihnen etwas zu tun haben! Sobald sie allein waren, begannen sie unverhohlen auf Deutschland zu schimpfen. Nach neun Monaten Haft wurden die vier begnadigt und reisten – nach F r a n k r e i c h ab.
Was Heniquin sagte
Das war im M a i 1914, meint Fiedler beim Abschied sagte einer der Geistlichen, daß Im Herbst K r i e g sein wird. Jawohl, Herr General, die vier wußten besser Bescheid als wir alle! Sie hatten wohl ihre Verbindungen. Wenn Sie in den Krieg kommen, sagte M a t h i e u zu mir, und wenn Sie in französische Gefangenschaft geraten, dann nennen Sie nur meinen Namen, es soll dafür gesorgt werden, daß es Ihnen gut geht! Fiedler lacht, er war an der Front, aber Gefangenschaft! Nein, wars der Franzose sich gedacht haben mag, bin ich ein Hundsfott?
Stille. Pilsudski geht ans Fenster, er wendet ihm den Rücken zu, starrt in den Hof, da lagern sie in Reihe, blinzeln in die Sonne, und der Krieg ist für sie aus! Da wendet sich Pilsudski schon wieder ihm zu. Alles hat seinen Sinn, sagt er, der Tod und die Gefangenschaft! Immer kommt es nur darauf an, daß einer das Ganze will! Und das wollen wir doch beide, Mann, dieses Große Ganze – unser Vaterland.