Zur Charakteristik der Militärhaftanstalten habe ich in dem Buch Magdeburg und die umliegende Gegend von J. A. F. Hermes und M. J. Weigelt, erschienen 1842, auf Seite 27 folgende Zusammenfassung gefunden:
Die Zitadelle diente als "Wohnungen der Staatsgefangenen und die Kasematten [als solche] der Baugefangenen und Sträflinge. Die Staatsgefangenen werden nach der Verordnung vom 11. Mai 1797, die Festungsstuben-Gefangenen (1ster und 2ter Klasse), nach der Instruktion vom 6. März 1826, die Sträflinge nach der durch Allerh. Kabinetsorder vom 10. Januar 1837 genehmigten Instruktion vom 2. Januar, endlich die Baugefangenen, welche in Betreff der Untersuchung und Bestrafung von Kriminalverbrechen unter dem Inquisitoriate und den sonstigen Civil-Kriminalbehörden, rücksichts der Disziplin aber unter dem Festungs-Kommandanten stehen, nach der Instruktion vom 11. Dezember 1832 behandelt. Nach der Verordnung vom 11. April 1839 werden künftig nur Sträflinge der Linie hier aufgenommen; die etatsmäßige Stärke derselben beträgt jetzt 130 Köpfe, die der Baugefangenen 140 Köpfe. Bemerkt wird hierbei, daß die Militairstrafanstalt auf dem Hauptwall nach dem Ulrichsthore zu, nur als Arrestlokal während der bei den Militärgerichten schwebenden Kriminaluntersuchungen, so wie zur Vollstreckung der kleinen Disciplinarstrafen und der stand- und kriegsrechtlichen Strafen bis zu 6 Wochen strengen Arrest dient."
Ich möchte an dieser Stelle eine historische Novelle einstellen. Sie war im März 1915 in 15 Fortsetzungen in der Volksstimme erschienen. In Buchform (Abenteuer eines Kriegsknechtes) wurde sie allerdings bereits 1861 veröffentlicht. Der Autor war Levin Schücking, ein erfolgreicher Autor und Historiker (Schwerpunkt Westfalen). Der Inhalt der Novelle ist historisch wahr, musste allerdings wegen der spärlichen Quellen etwas "aufgepeppt" werden und ist bdeshalb nicht in wissenschaftlicher, sondern in Novellenform entstanden. Trotzdem sind Details enthalten, die in anderen Quellen nicht zu finden sind und einen Einblicke in das Soldaten- und Garnisonsleben Magdeburgs gestatten. Leider gibt es nicht viele solcher Werke - bzw. ich habe noch nicht viele gefunden.
In den Kasematten Magdeburgs. von Levin Schücking.
I.
In den letzten Jahren des Siebenjährigen Krieges hatte Magdeburg, die große Elbfestung, das Hauptkriegsbollwerk des preußischen Staates, nach und nach eine Menge österreichischer Kriegsgefangenen aufnehmen müssen. In jenen Tagen war das Los eines Soldaten kein beneidenswertes: Im Gegenteil, es hatte mit dem Schicksal eines geplagten Hundes weit mehr Ähnlichkeit als mit dem eines anständigen Menschen. War der Soldat namentlich einer von denen, welche man „unsicher" nannte, so war die von allen Philosophen jedem menschlichen Individuum eingeräumte bestimmte Sphäre von Rechten für ihn die reine Illusion; die ganze Theorie von den Rechten und Pflichten des Menschen, von denen Cicero so schön geschrieben, über die Kant so tiefsinnig gedacht und Mirabeau so hinreißend gesprochen hat — diese ganze Theorie stand in unglaublicher Abkürzung, aber nur sehr deutlicher grober Schrift vom Haselstock auf seinem Rücken geschrieben. Dem „Halbvertrauten", ging es nicht viel besser, und nur dem „Ganzvertrauten", dem mit Weib und Familie versehenen eingebornen Landeskind, sah man wohl etwas durch die Finger, wenn ihn einmal das ungerechtfrtigte Verlangen anwandelte, sich als Menschen zu fühlen, und wenn dies natür¬lich nicht zu oft vorkam. Man hatte ihn nötig, um den Kerkermeister der übrigen zu machen! Das ganze System schien darauf berechnet zu sein, für die mörderischen Schlachten jener Zeit möglichst viel ganz desperate Leute zu bekommen, welchen ihr Leben völlig leid geworden und die es mit Gewalt in die Schanze schlagen und los sein wollten. Wie es unter solchen Umständen den Kriegsgefangenen erging, bedarf der Schilderung nicht. In dunkle Kasematten eingepfercht, wie eine Herde behandelt, nur mit dem Unterschied, daß man die letztere aus ökonomischen Gründen gut zu ernähren sucht, die Gefangenen aber, ebenfalls aus ökonomischen Gründen, hungern ließ — unter der milden Obhut von Festungsbehörden stehend, deren väterlichste Zurechtweisungen bei Unordnungen und Balgereien um den Suppentopf darin bestanden, daß sie die Schildwachen ihre Musketen in den dicksten Haufen hinein abfeuern ließen —, waren diese Unglücklichen in der Tat oft übler daran als die Galerensklaven des Beis von Tunis. Die einzige Erleichterung für sie trat dann ein, wenn sie aus ihren Kasematten herausgeführt und mit Schanzarbeiten an den Wällen oder auch wohl mit Lohnarbeiten für Privatleute beschäftigt wurden, wo sie wenigstens frische Luft und Sonnenschein genießen, wenig arbeiten, kleine Komplotte mit den Schildwachen anspinnen und die Begegnenden anbetteln oder verhöhnen konnten. Es war an einem Sommertag des Jahres 1762, in den Morgenstunden, als solch eine Schar von mehreren Hunderten österreichischer Gefangener, nach Ausweis ihrer zerlumpten Uniformstücke allen möglichen Truppenteilen angehörig, aus der niedrigen Doppeltür einer Kasematte hervorströmte, welche sich in der Sternschanze der Festung Magdeburg befand. Als die Kolonne zwischen ihren Wächtern den Marsch zum Arbeitsplatz antrat, blieb der Leutnant, welcher die kleine und auffallend schwache Eskorte befehligte, auf der Schwelle stehen und sagte, in das Innere der Kasematte gewendet: „Wollen Sie nicht mit heraus, Herr von Frohn?" „Heut‘ nicht!" antwortete eine tiefe Männerstimme aus dem Innern. „Es wäre uns lieb, wenn Sie bei dem Volke blieben und mir beiständen, die Kanaillen in Ordnung zu halten!" „Sehen Sie, wie Sie fertig werden — ich habe keine Lust," antwortete die Stimme. „Nun, wie Sie wollen!" rief der Leutnant aus. „Korporal, schließ Er!" Ein Korporal trat hinter dem Leutnant aus dem Innern hervor, und während der Offizier dem Trupp nachschritt, schloß jener das Tor der Kasematte. Der im Innern des niedrigen, langen, durch einige Luftlöcher beleuchteten Raumes Zurückgebliebene stand jetzt von der Matratze auf, die am Ende der Kasematte für ihn hingelegt war und auf der er ausgestreckt gelegen hatte. Es mußte das eine Art Ehrenauszeichnung für ihn sein - die andern Gefangenen hatten nur das Stroh zum Lager, welches den Boden bedeckte. In der Tat zeigte seine Uniform, obwohl auch sie sich in sehr trümmerhaften Zustand befand, daß er Offizier in der kaiserlichen Armee sein mußte. Als er sich erhoben hatte und seine Glieder streckte, zeigte sich der mächtige herkulische Wuchs des Mannes. Er war mehr als sechs Schuh hoch; die ganze Gestalt verriet eine außergewöhnliche Körperkraft, und das Gesicht, dem die Haft freilich viel von der ursprünglichen Farbenfrische genommen haben mochte, zeigte doch edle, stolze Züge von großer Regelmäßigkeit und wahrhaft männlicher Schönheit. Er nahte sich jetzt der eben verschlossenen Tür und schien zn horchen, bis die Schritte der Abziehenden verhallt waren; dann ging er eine Weile auf und ad, und endlich wandte er sich zu seiner Matratze zurück. Nachdem er an einer Ecke derselben eine Naht leicht mit dem Finger gelöst hatte, zog er aus dem Stroh, welches sie füllte, einen zinnernen Becher hervor, den er lange aufmerkam betrachtete. Der Gegenstand verdiente in der Tat diese Betrachtung. Seine Oberfläche war durch Linien in sechs größere und acht kleinere Felder geteilt, und in jedes dieser Felder waren merkwürdige Darstellungen graviert, die in dem Künstler eine eigentümlich phantastische und allegorienliebende Denkweise erkennen ließen und in Erstaunen setzten über die Fruchtbarkeit seines Gehirns an solchen Erfindungen. Unter den einzelnen Bildwerken befanden sich gereimte Verse zur Erläuterung derselben; diese Unter- und Inschriften bedeckten die Ränder, den Fuß, die untere Seite, ebenso war der Deckel mit Gravierungen von innen und außen bedeckt. Zumeist waren diese Verse so mikroskopisch klein geschrieben, daß unser gefangener Offizier darauf verzichten mußte, sie zu lesen. Andre enträtselte er jedoch, und er fand, daß diese Ergniss nicht ohne poetischen Wert seien. Eins der Bilder stellte im fernsten Hintergrund auf einem Hügel einen strahlenumflossenen Tempel dar, über dem ein beflügeltes Roß zum Himmel schwebte. Auf dem Wege zum Tempel schleppt sich ein mit Ketten beladener Mann unter einem schweren Kreuze hin, gedrängt von einem Schergen, der einen Stock schwingt, über welchem das Wort „Ordre" zu lesen ist. Hinter dem Dulder aber taucht der Gott der Zeit auf, mit einem Kranze, dessen Bedeutung die Worte „der Lohn der Mühen" andeuten. Unter dieser Darstellung erblickte man einen Kerker, in welchem ein mit vielfachen Ketten und Fesseln angeschlossener Gefangener sitzt. Er hält ein Herz in seiner Hand. Hinter ihm steht eine böse Furie mit Schlangenhaar und Fackel und einem [ein unleserliches Wort], daneben die Legende: „packt ihn!“ Vor ihm aber ist eine weibliche Gestalt getreten, mit einem Licht in der Hand, ohne Zweifel die Göttin der Weisheit mit dem Lichte der Vernunft. Unter dem Fenster des Kerkers schwebt ein Genius mit der Erdkugel, dem Bilde der Welt, und spricht, wie zu Fluchtversuchen zu verlocken: „Komm und genieße!“ Die Verse unter der Darstellung lauteten: Mag das Wetter immer stürmen, Dieser Mann kann mich beschirmen, Hier erwart ich bessre Zeit! Wenn die Schicksalswetter schrecken, So soll mich mein Herz bedecken, Scheint die Hilfe noch so weit. –
Wenn die Sonne wieder scheint, O wie süß riecht dann die Erde! Wenn das Auge nicht mehr weint! Was ist Kummer, was Beschwerde? Nur ein Traum, der uns verfliegt, Wenn der Kämpfer [ein unleserliches Wort] siegt!
Waren diese Bilder und Inschriften in der Tat geeignet, durch die Feinheit und Regelmäßigkeit der Ausführung, sowie durch die Erfindungsgabe, welche sich darin zeigte, Bewunderung zu erregen, so war die Bewunderung eine doppelte bei unserem österreichischen Leutnant, dem die Person, welche ihm den Becher geschenkt hatte, die Versicherung gegeben, daß der Verfertiger desselben in einem schlecht erhellten Kerker sitze, daß er die Arbeiten mit einem Nagel, den er sich spitz geschliffen, ausführe, und daß eine zwischen seinen Handgelenken befestigte Stange ihn am freien Gebrauch seiner Hände hindere. Den Namen des Gefangenen hatte er noch nicht erfahren können. Die Existenz dieses Menschen schien geflissentlich mit Geheimnissen umgeben zu werden. Wenn ich nur Mittel und Wege wüßte, mit einem Menschen in Verbindung zu kommen, der solche Becher macht," fügte der österreichische Offizier halblaut für sich. „Es muß ein äußerst anschlägiger und geriebener Patron sein, der mir trefflich dienen könnte. Aber der Teufet weiß, wo sie ihn hingetan haben!" Nach einer Weile verbarg er den Becher wieder in dem Stroh und zog nun eine Handvoll zerrissener, mit Linien bedeckter Papierstücke aus demselben Versteck hervor. Er legte sie nach einer gewissen Ordnung vor sich nieder — sie bildeten nun etwas wie eine zusammenhängende Zeichnung, die offenbar den Plan einer Festung darstellte — nur hier und da fehlte noch ein Stück, bald in der Mitte, bald an den Ecken. Der gefangene Offizier vertiefte sich in das Studium desselben, wie vorhin in das des Bechers; er stand dann von der Matratze auf, und nachdem er die Schnalle seiner Weste gelöst hatte, begann er mit dem Dorn derselben den ganzen Plan möglichst genau auf die mit schwarzem Leder überzogene innere Fläche seiner Dragonermütze zu kritzeln. Von Zeit zu Zeit hielt er mit dieser Arbeit inne, um aufzublicken und mit angehaltenem Atem zu lauschen. „Der Maulwurf wühlt!" sagte er endlich. Nach einer Pause legte er sich der Länge nach nieder, das Ohr dicht an den Boden gedrückt. Als er sich erhob, flüsterte er: „Es kann nicht lange währen, bis der Patron sich bis hierher durchgearbeitet hat. Es wird eine komische Szene werden, wenn er den Kopf in die Kasematte steckt und ich ihm hier: „Guten Morgen, Kamerad!" sage. Ich werde ihn zum Chef des Minierkorps ernennen, sobald ich Gouverneur von Magdeburg bin. Aber wo bleibt heute mein diensttuender Adjutant?" Er versteckte jetzt sorgfältig die Papierfragmente, schob die Matratze an ihren Platz und trat an eins der kleinen vergitterten Fenster oder Luftlöcher, die durch die dicken Mauern gebrochen waren. Nach einer Weile sah er die Gestalt einer auf und ab wandelnden Schildwache daran vorüberschreiten und rief sie an. „Heda, Wache, welche Stunde ist's?" „Die Uhr wird sogleich zehn schlagen." „Und das Wetter wird dem Traiteur auf den Kopf schlagen, daß er mein Frühstück nicht sendet. Meint der Schuft, ich habe hier so viel Zeitvertreib, daß ich darüber das Essen vergesse?" „Dort kommt die Esther," sagte die Schildwache und schritt weiter. In der Tat klirrte nach einer Weile das Schloß der Kasemattentür; sie wurde geöffnet, und ein Unteroffizier wurde auf der Schwelle sichtbar. Hinter ihm trat ein junges, schlankes, schwarzlockiges und die jüdische Abstammung verratendes Mädchen in die Kasematte, und während der Unteroffizier wieder verschwand, weil ihm die frische Luit und der Sonnenschein draußen angenehmer sein mochte, als die durchaus nicht reine Atmosphäre, die in der Kasematte herrschte, brachte das Mädchen einen kleinen Korb herbei, den sie vor dem gefangenen Offizier niedersetzte. Diser umschlang mit seinem rechten Arm ihre Taille und hob mit der Linken ihr Kinn in die Höhe, um sie auf die scköne schmale Stirn zu küssen. Denn Esther Heymann, das Judenmädchen, das für die leiblichen Bedürfnisse der Gefangenen Sorge trug, hatte in der Tat eine Stirn, die ein eben nicht mit wichtigeren Dingen beschäftigter Offizier wohl in Versuchung kommen konnte, zu küssen, und dies um so mehr, als sie es sich dem Anschein nach mit großer Hingebung gefallen ließ. Er küßte dann ihren vollen rosigen Mund und blickte ihr in die schönen, dunkeln, feuchtglänzenden Augen. „Hat je ein Festungsgouverneur einen schöneren Adjutanten gehabt?" flüsterte der Offizier. Sie entwand sich ihm jetzt, öffnete den Korb und ging einem kleinen Wandvorsprung zu, der ein Mittelding zwischen Tisch und Sitz war und zu beidem dienen konnte. Darüber breitete sie eine Serviette nnd stellte den Inhalt ihres Korbes darauf: Brot, Butter, ein Stück Wurst und eine Flasche, die eine kleine Ration gebrannten Wassers enthielt. Das Brot und die Butter waren durchgeschnitten, zum Beweis, dass sie durch die kontrollierenden Hände irgendeiner Festungsbehörde gegangen. Und es wäre deshalb sehr töricht gewesen, etwas in ihnen verbergen zu wollen; die schöne Esther hatte auch sicherlich nicht daran gedacht, und es war gewiß eine ihrem Verständnis sich völlig entziehende und ihr nicht weiter auffallende Bewegung, als der Offizier hastig nach dem Stück Papier griff, in welches die Wurst geschlagen war, und das jetzt zwischen dieser und dem kleinen Teller als ein höchst nutzloses Ding lag, das der Gefangene auch wohl nur deshalb entfernen wollte. Nichtsdestoweniger betrachtete er, nachdem er es sauber abgewischt, die nach unten gekehrte Seite, und die Linien, Ecken und Winkel, die hier darauf gezeichnet waren, mußten ihm so interessant vorkommen, daß ein Ausdruck offenbarer Befriedigung über seine Züge flog. „Ich danke Dir, Herzens-Esther," sagte er. „Jetzt hab ich alles zusammen, was ich bedarf. Die noch übrigen Stücke kannst Du verbrennen — ich habe genug!“ Dabei steckte er das kleine Blatt in seine Brusttasche. „Nun zu den Meldungen," fuhr er fort. „Die in Kasematte 1 in der Zitadelle haben gewählt," flüsterte Esther. „Und wen?" „Einen Major Zichy." „Kenn ihn nicht, - aber das schadet nichts." „Er läßt Ihnen sagen, daß er Ihre Befehle annehmen will. Nur kann er nicht früher anfangen, als bis er sicher ist, daß sie ihm von außen zu Hilfe marschieren, denn die Zitadelle . . .“ „Nun, wenn er mich für so dumm hält, nicht selber zu wissen, daß die Zitadelle am stärksten besetzt ist, so tut er sehr unklug, sich meinen Befehlen zu unterwerfen, der Herr Oberwachtmeister Zichy! Und weiter?" „Die unter dem Fürstenwall sind in voller Tätigkeit, um die Mauer, welche die beiden ersten Kasematten darin trennt, zu durchbrechen, daß sie zusammenkommen können. Sie denken diese Nacht fertig zu werden." „Bravo! Sie werden ein hübsches Bataillon bilden, wenigstens zwölfhundert Mann. In der vorderen Kasematte kommandiert ein Oberst Stengel und in der zweiten Rittmeister Stülpnagel. Wenn er zum Ausrücken kommt, soll der Rittmeister das Kommando über den ganzen Haufen übernehmen, ich scher mich den Henker um Rang und Anciennität — verstehst Du Esther?" Esther nickte mit dem Kopfe. Der Gefangene hatte sich unterdes auf die äußerste Ecke des gemauerten Tisches gesetzt und begann sein Frühstück zu verzehren. „Wenn Du doch“, sagte er lächelnd, „ebensogut mit Deinen schönen Frauenaugen ein paar alte Häuser in Flammen setzen könntest, wie Du das Herz eines armen Gefangenen in Flammen gesetzt hast — es wäre mir außerordentlich angenehm, wenn solch eine kleine Feuersbrunst in den nächsten Tagen da unten in der Stadt ausbräche." „Das kann ich freilich nicht für Sie tun, Herr von Frohn," antwortete sie, ernst den Kopf schüttelnd. „Glaubst Du denn, Närrchen, ich hätte Dir's im Ernst zugemutet?" erwiderte er mit einem Blick, in welchem etwas wie Rührung lag, zu ihr aufschauend. „Wahrhaftig, Du hast schon genug für uns getan - ohne Dich wäre ich hilflos wie ein Kind — und wie ich Dir'S danken soll . . .“ „Dank verlange ich ja nicht, Herr von Frohn! Wenn nur mein armer Vater dabei frei wird ... ich tue ja alles um seinetwillen!" „Um seinetwillen . . . und nicht auch ein klein wenig mir zuliebe, Esther?" [mehrere Wörter unleserlich] Blicke zu begegnen, den er bei diesen Worten auf sie heftete, und fuhr fort: „Ich weiß, das ich mein Leben dabei aufs Spiel setze, aber meines Vaters Leben ist nicht bloß aufs Spiel gesetzt, es wäre sicher verloren, wenn er nicht die Hoffnung hätte, bald befreit zu werden. Sie haben ihm neue Ketten angelegt, weil sie aus seinen zerrissenen Laken schlossen, er wolle einen Fluchtversuch machen; und doch hatte er nur aus Desperation den Entschluß gefaßt, sich zu erhängen." Esther brach bei diesen Worten in bittere Tränen aus. „Tröste Dich, Esther," sagte Frohn, indem er die Hand auf ihre Sckulter legte — „ich gebe Dir mein Wort als das eines ehrlichen Mannes, daß er in wenigen Tagen frei wird." „Sagen Sie mir doch," fuhr Esther fort, „warum ist der König so grausam . . . gegen einen Unschuldigen?" „Der König? Nun, er wird wohl über die Unschuld Deines Vaters andre Ansichten in sich aufgenommen haben, als die Deinigen sind, Esther. Ein Tyrann ist er freilich. Aber Du mußt denken, daß es unmöglich ist, wenn man über viele Millionen Menschen herrscht, lange mit dem einzelnen viel Federlesens zu machen. Er glaubt, daß Dein Vater ihn bei Lieferungen für die Armee betrogen hat. Nun ist so viel gewiß, daß es Juden wie Christen gegeben hat, die bei solchen Geschäften ihren König und ihr Vaterland betrogen . . . oder meinst Du, Esther, so etwas sei ganz unerhört und komme niemals vor?" „Es mag leider oft genug vorkommen," erwiderte Esther — „wer weiß nicht, daß es viel schlechte Menschen gibt. Aber mein Vater . . .“ „Dein Vater ist ein ehrlicher Mann, ich glaube Dir's, Esther, aber das Unglück hat nun einmal gewollt, daß er beim König in Verdacht gekommen ist, und der König hat ihn auf zehn Jahre nach Magdeburg in die Eisen geschickt, ohne so vernünftig, zu sein, vorher die liebe Esther zu fragen, ob sie dies für gerecht nnd billig halte. Das war nun allerdings unverantwortlich von dem König gehandelt, aber denke Dir, daß durch die Nachricht, wie der König mit dem ehrlichen Heymann bloß auf einen Verdacht hin verfahren sei, eine Menge andrer Lieferanten vielleicht einen tödlichen Schrecken bekommen haben: daß sie, die vielleicht im Begriff standen, große Unterschleife zu machen, nun nicht mehr gewagt haben, ihre bösen Absichten auszuführen; daß dadurch vielleicht hunderttausend Taler dem König gerettet sind. Ist das alles nicht sehr möglich? Und wenn sich Dein Vater nun sagt, daß er dem Staate 100 000 Taler auf diese Weise durch seine Haft einbringt, also weit mehr als er aus freien Füßen jemals für sich oder die übrige Menschheit nutzen und einbringen konnte - liegt darin nicht ein großer Trost für ihn?" „Sie spotten noch!" sagte Esther, nahe daran, in Schluchzen auszubrechen. „Esther," sagte er weich, „wie sollte ich Deiner spotten! Nimmst Du mir mein bißchen Gefangenen-Humor übel? Armes Kind, Du weißt ja, wie teuer Du mir bist . . .“ In diesem Augenblick trat der Unteroffizier am oberen Ende der Kasematte in die offen gebliebene Tür und rief hinab: „Mache Sie voran, Esther, das Frühstücken dauert ja heut gewaltig lang. Ich darf sie nicht so lange mit dem Gefangenen zusammen lassen!" „Kann er nicht warten?" rief ihm Frohn barsch entgegen. „Ich frühstücke so lange wie mir's gefällt." „Es ist wider das Reglement," sagte der Unteroffizier etwas kleinlaut. „Ei was Reglement! Wenn man mich schikaniert zum Danke dafür, daß ich mich hier mit den gemeinen Gefangenen habe in eine Kasematte sperren lassen, so kümmere ich mich nicht mehr um das, was sie treiben. Ihr mögt dann sehen, wie ihr hier mit der Horde fertig werdet!" Der Unteroffizier schwieg, aber er kam jetzt langsam näher heran; Frohn hatte nur noch Zeit, Esther hastig flüsternd zu fragen: „Hast Du über den Gefangenen dort drüben nichts Näheres heraus gebracht?" Sie schüttelte den Kopf. „Es ist, als ob die Leute nicht gern davon redeten,“ versetzte sie ebenso leise. Der Unteroffizier war jetzt bei ihnen. Er überzeugte sich, wie Esther das Messer und die Gabel zu den leeren Geschirren wieder in ihren Korb packte. Das junge Mädchen nahm dann mit einem stummen Kopfnicken Abschied von dem Gefangenen. Frohn rief ihr ein freundliches: „Auf Wiedersehen - bis morgen!" nach, und nach wenig Augenblicken war er einsam und eingeschlossen wie vorher. Esther begab sich aus den Festungswerken in die Stadt zu dem Traiteur zurück, bei welchem sie Dienste genommen hatte, um ihrem auf einen Befehl des Königs nach Magde¬burg gesandten und alles Vermögens durch Sequestration beraubten Vater nahe sein zu können. Diejenigen gefangenen Offiziere, welche die Mittel dazu besaßen, hatten die Erlaubnis, sich aus den Küchen von Speisewirten ihre Mahlzeiten bringen zu lassen; und obwohl dazu in der Regel Laufburschen der Wirte gebraucht wurden, so ließ doch Esther es sich nicht nehmen, an den Tagen, wo sie ihren Freund allein wusste, selber mit dem Henkelkorb am Arme zu ihm zu gehen - nachdem sie einmal auf die Bitte ihres Dienstherrn statt seines erkrankten Burschen diesen Weg gemacht hatte. Diese erste Begegnung zwischen Esther und dem österreichischen Offizier hatte hingereicht, um zwischen beiden das ernsthafte Schutz- und Trutzbündnis entstehen zu lassen, in das wir eben eingeweiht wurden. Der Offizier nahm, als das Mädchen sich entfernt hatte, das zerrissene Stück Papier, welches sie ihm gebracht, aus der Brusttasche, und nachdem er sich wieder auf seine Matratze niedergelassen, holte er die andern Papierstücke, welche wir in seinem Besitz sahen, hervor, ordnete sie und füllte einige der Lücken mit dem eben erhaltenen Fragment, das vortrefflich hineinpaßte. Dann nahm er die frühere Arbeit wieder auf und vervollständigte die im Lederfutter seiner Mütze angebrachte Zeichnung.
II. Um Mittag kamen die Gefangenen von der Arbeit zurück. Es waren ihrer vielleicht vier- oder fünfhundert. Die große Kasematte wurde von dieser Menge von Menschen von einem Ende bis zum andern angefüllt. Eine Weile später wurden große Kübel gebracht, aus denen die Mittagssuppe für die Gefangenen geschöpft wurde. So stürmische Szenen sich früher mitunter bei diesen größten Tagesereignisse im Leben der Gefangenen entwickelt hatten, so ruhig und ungestört verlief es jetzt unter der Aufsicht des Leutnants von Frohn, der, wie Saul unter dem Volke Gottes, um eine Kopfeslänge die übrigen überragend, mitten zwischen den Herandrängenden stand, und sie mit seiner gebieterischen Stimme in einem Respekt hielt, den die aufmarschierte Wachmannschaft und die austeilenden Feldwebel oder Unteroffiziere weit entfernt waren zu finden. Halb oder nur zum Viertel gesättigt, streckten sich dann die meisten auf ihre Streu bin oder drängten sich in Gruppen zusammen, in denen entweder irgendein Spaßmacher, oder auch ein schmutziges Spiel Karten, oder ein von den italienischen, in Südtirol rekrutierten Leuten eingeführtes Morraspiel den Mittelpunkt der Unterhaltung bildete. Frohn war eine Weile auf und ab geschritten, hatte hier und dort dem Gespräch der Leute gelauscht, dann sich auf seine Matratze gesetzt und hier eine Zeitlang den Kopf sinnend auf die Hand gestützt. Plötzlich stand er auf, und einem vierschrötigen Obderennser Landeskind, das sich eben in einigen derben Flüchen über die schwüle, drückende Luft in der menschenüberfüllten Kasematte ergoß, winkend, sagte er: „Wenn Ihm so heiß ist, Artlebacher, so steig Er dort ins Luftloch hinein, da hat Er die Frische aus der ersten Hand!" „Möcht schon," versetzte der Mann, „'s is a Sekatur in dem Qualm hier . . . aber die andern leiden's halt nit, daß i 's ihna versperr." „Ich befehl's Ihm!" „Und weshalb?" „Danach hat Er nicht zu fragen. Mach Er sich hinein." Der Mann gehorchte; er legte sich mit seinem ganzen breiten Leib in das Luftloch und sog sehr befriedigt die frischere, dort einströmende Atmosphäre ein. Bevor noch die Opposition der Nächststehenden oder -liegenden gegen diese ordnungswidrige Verkümmerung des allen gemeinsamen Licht- und Luftquantums laut wurde, gab Frohn mit flüsternder Stimme weitere Befehle: „Zehn Mann hierhin, in meine Ecke!" sagte er. „Die vier stärksten heben mir da, neben der Mauer, die Steine aus dem Boden aus. Die sechs andern nehmen die Steine und den Schutt in Empfang und verbergen alles unter dem Stroh. Kommt eine Runde oder eine Inspektion in die Kasematte herein, so treten die übrigen Leute so in der Mitte derselben zusammen, daß niemand sieht, was hier am Ende vorgeht. Habt Ihr verstanden?" Die Leute verlangten nichts Besseres, als in einer solchen Arbeit einen kleinen Zeitvertreib zu finden. „Ihr dürft nicht das leiseste Geräusch machen, damit die Schildwache draußen nichts hört! Dafür, daß sie nicht Hereinschauen kann, sorgt der Artlebacher mit seinem breiten Rücken." „Aber mit den Fingernägeln können wir die Steinplatten nicht aufreißen," sagte einer der Leute, die zur Arbeit herangetreten waren. „Wie gescheit der Kerl ist!" versetzte Frohn. „Nein, Sepp, mit den Nägeln geht's freilich nicht? Aber damit, mein ich, geht's!" Bei diesen Worten zog er aus seiner Matratze zwei Hälften eines in der Mitte durchgebrochenen eisernen Ladestocks, die beide scharf abgeschliffen waren, dann den einen Schenkel einer schweren Schneiderschere und endlich einen großen rostigen Schiffsnagel, wenigstens so lang wie eine Männerhand hervor. „Das ist ja ein ganzes Zeughaus," flüsterte Sepp, während Frohn die Werkzeuge austeilte. „Das Wiener mit der alten Türkenkette ist halt nichts dagegen," lachte ein andrer. „Für uns allerdings ist dies wichtiger," fiel der Offizier ein — „nun macht Euch an die Arbeit!" Sie gehorchten, und zwar so eifrig, daß trotz der unvollkommenen Werkzeuge die kleinen Steinplatten, die den Boden bildeten, auf einer etwa vier Quadratschuh großen Fläche bald beseitigt waren. Unter ihnen befand sich Bauschutt, der, in Mörtel gelegt, einen festen und schwerer zu beseitigenden Boden bildete, um so mehr, als man nur leise und alles Geräusch vermeidend, daran brechen und wühlen durfte. Die acht eifrig und mit gespannten Sehnen daran arbeitenden Arme wurden aber im Verlauf etwa einer Stunde auch damit fertig und fanden in einer Tiefe von zwei Fuß den reinen Sand. Besonders gründlich fundamentiert ist das preußische Festungswesen nicht, "sagte Frohn bei diesem Anblick; „aber desto besser. Ihr könnt Euch jetzt ablösen; zehn andre treten jetzt für Euch ein; vier wühlen ein Loch in den Sand, sechs tragen den Sand in ihren Mützen beiseite, unter ihr Stroh ... er wird Euch die Nacht als Kopfkissen dienen." Die Arbeit wurde gefördert, bis gegen sieben Uhr Frohn aufzuhören befahl und seine Matratze über das ausgegrabene Loch warf. Er wollte die um sieben Uhr eintretende Inspektionsrunde und die Störung, die das Hereinbringen von Wasser und Kommißbrotrationen hervorbringen mußte, abwarten. — Eine Stunde später, gegen acht Uhr, war die Arbeit wieder in vollem Gange. Nachdem das von den Gefangenen der Kasematte gegrabene Loch so tief geworden war, daß Frohn bis unter die Achseln darin stak, als er hineinsprang, ließ er den Sand seitwärts, unter der äußeren Mauer der Kasematte fortwühlen. Es konnten nur noch zwei Leute da unten nebeneinander arbeiten, weil nur so viel Platz fanden; zwei andre hoben den Sand nach oben, wo wieder andre ihn beiseiterschafften. Es war eine regelmäßige Minenarbeit, die auffallend rasch in dem weichen Erdreich gefördert wurde. Plötzlich, und mitten in ihrer Tätigkeit, welche die zwei Wühler trotz der fast völligen Dunkelheit, die jetzt da unten herrschte, fortgesetzt hatten, hörten sie auf, kamen aus ihrer Mine zurückgekrochen und hoben sich, während der Sand wie ein Regenguß von ihnen niederrieselte, in die Höhe. „Ihr könnt nicht mehr sehen?" sagte Frohn — „ich habe ein Licht, das ich Euch geben will ..." „Es ist nicht darum," versetzte einer der Leute, mit einem Gesicht, auf dem man, wenn es heller Tag gewesen wäre, deutlich eine gewisse Ueberraschung hätte lesen können — „aber der Sand ist vor uns zusammengestürzt, und es liegt ein offenes Loch wie eine Höhle vor uns. „Das wußt ich, und dahinein wollt ich eben!" sagte der Offizier. „Kommt jetzt nur heraus," fuhr er fort, indem er tastend aus seiner unerschöpflichen Matratze allerlei Dinge hervorzog, deren nähere Beschaffenheit die Umstehenden nicht mehr unterscheiden konnten. Dann warf er seine Mütze ab, knöpfte den knappen Uniformrock dicht über der Brust zusammen und sprang in das Loch hinunter. Unten begann er sofort eine Manipulation, die zeigte, daß er sich mit Feuerzeug versehen habe, und nachdem er eine kleine Diebslaterne angezündet, leuchtete er mit dieser in den ausgeworfenen Minengang hinein. Nach einer Weile sagte er, sich halb aufrichtend: „Ich werde da hineinkriechen, Leute, hab aber einen zur Begleitung nötig. Freiwillige vor? Wer meldet sich?" Zwei, drei verwegen aussehende Kerle waren sofort bei der Hand. „So mag's der Auerhuber sein," sagte der Offizier; „also Du folgst mir, Auerhuber, so daß immer vier Schritt Entfernung zwischen uns bleibt; wenn der Sand über mich einstürzen sollte, so säumst Du nicht, mich bei den Beinen zurückzuziehen — verstehst Du?" „Versteh Eur Gnaden schon, hob'ns kein Trema!" sagte der Auerhuber, und nachdem er sein leinenes Wams zusammengeknöpft, sprang er dem Offizier in die Grube nach. Dieser verschwand nun in die aufgeworfene Miene und trat seine Wanderung auf allen vieren an. Der Gang, dem seine Leute entgegengearbeitet, und den sie so glücklich getroffen hatten, lag etwas seitwärts, zur Linken; um hineinzukommen, bedurfte es jedoch nur einer kleinen Schlangenwendung. Er war allerdings nicht so weit und bequem zu passieren, wie der, welchen Frohn hatte auswühlen lassen — aber er bot doch für einen starken Mann mit breiten Schultern hinlänglich Raum dar; seine Höhe mochte ungefähr drei Schuh betragen. Er war in der Form eines Gewölbes oben ausgerundet. Frohn arbeitete sich rasch in diesem Gange vorwärts. Als er etwa zwanzig Fuß weit gekommen war, flüsterte er seinem Begleiter zu: „Nun, wie geht Dir's, Auerhuber — hast Du Luft?" „Es tut's halt noch, Euer Gnaden," flüsterte Auerhuber zurück — „aber neugieri bin i doch, wos der Fuchs sogt, der dies Loch graben hat, wenn's in sein Nest einischau'n!" „Wir sind nicht mehr weit von dem Neste, mein ich," antwortete Frohn, „denn ich fühle frischere Luft mir entgegenströmen." „Na, desto besser is'," meinte Auerhuber. Die unterirdische Reise wurde fortgesetzt. Nach einer Weile sah Frohn beim Scheine seines glimmenden Laternchens, daß er sich nicht mehr zwischen Sand, sondern zwischen starken durchbrochenen Mauern befand, welche hier viel dicker und tiefer fundamentiert waren als diejenigen, die vorher seine Leute zu überwinden gehabt hatten. Es mußte außerordentlich viel Mühe und unsägliche Ausdauer gekostet haben, den Gang durch sie hindurch zu führen. Dann sah er sich in einem oben offenen, brunnenartigen Loch, ähnlich, nur viel kleiner als das, welches drüben in seiner Kasematte den Eingang zu der Mine bildete. Als Frohn so weit gekommen war, hob er sich auf seinen Knien in die Höhe, leuchtete mit der Laterne rings umher und richtete sich dann leise auf, indem er die Leuchte so hoch wie möglich emporhielt. Er stand bis an die Brust in dem Loch; ein offenbar ausgeschnittener Boden von dreifachen, festen Planken umgab ihn in dieser Höhe. Der Schein seines kleinen Lichtes zitterte schwach und unzulänglich in dem Raum, in welchem sich Frohn, wenigstens mit dem Kopf und den Schultern, befand, umher. Der gefangene Offizier nahm zuerst nur ein niedriges Gewölbe, dann eine nackte Wand, dann etwas, was dicht vor ihm lag und einem gefüllten Sacke glich, wahr . . . dann — er erschrak dabei trotz all seiner Herzhaftigkeit — hörte er einen tiefen Atemzug. Als er rasch die Blicke nach der Seite warf, woher der Laut kam, sah er eine hohe, geisterhafte, weißgraue, über und über mit Ketten behangene Gestalt dicht an der einen Mauer des etwa zehn Schuh im Quadrat haltenden Raumes stehen. Die Gestalt sah ihn mit großen, weit offenen Augen an; sie stand trotz ihrer Kettenlast hoch anfgerichtet, fast drohend da. Frohn erfaßte ein unwillkürlicher Schauder bei dem Anblick. „Zum Teufel, in welche Galeere bin ich da geraten?" fragte er sich halblaut „das muß ein Wahnsinniger sein, einen vernünftigen Menschen braucht man nicht so mit Ketten zu behängen!" Er stand einen Augenblick unentschlossen da, einen Augenblick, in welchem er seinen Gefährten Auerhuber in der Gegend seiner Beine anlangen und sich jetzt ebenfalls aufrichten fühlte. Dann flüsterte er: „Gut Freund, Kamerad!" Die weißgraue Gestalt streckte ihm jetzt mit starkem Kettenklirren die Arme entgegen und antworte ebenso leise: „Wer ist Er? — was will Er?" „Was ich will? — nun, Ihm einen Besuch machen, wie Er sieht..." „Er ist kein Scherge, kein Verräter?" Frohn wollte, bevor er antwortete, sich in die Höhe schwingen und aus seinem Loch emporsteigen, in der menschenfreundlichen Absicht, seinem Auerhuber Raum zu machen und ihn heranzulassen; aber der Mann in Ketten flüsterte heftig und gebieterisch: „Bleib Er, wo Er ist!" „Will Er mich hindern?" fragte Frohn ruhig, indem er mit einem Sprunge sich so weit in die Höhe schnellte, um sich auf den von den ausgeschnittenen Dielen gebildeten Rand des Loches setzen zu können. „Meint Er etwa, die Ketten hielten mich ab, Ihm den Schädel einzuschlagen?" sagte der andre. Zugleich begann er mit einer unglücklichen Schnelligkeit eine dicke Kette, die an seinem Fuße befestigt war, zu lösen, dann die Hände aus zwei schweren, durch eine Stange miteinander verbundenen Handschellen zu befreien, eine andre Kette, die von einem breiten Halsring niederhing, abzulösen — und nach wenigen Augenblicken stand er von allen Fesseln bis auf das breite eiserne Halsband befreit da, in seiner Rechten die Stange mit den Handfesseln haltend, die in seiner kräftigen Faust keine zu verachtende Waffe war. Er richtete auf den fremden Eindringling einen triumphierenden Blick, der offenbar die Bewunderung desselben herausforderte. „Ich sehe, daß Er wahr machen könnte, was Er sagt," bemerkte Frohn erstaunt - „wie Teufel hat Er das angefangen?" Der andre lachte höhnisch auf. „Ein Mann, wie ich, wird mit allem fertig," sagte er. „Aber erst will ich wissen, wer Er ist, und wie Er in meinen Gang geraten ist!" „Ich bin ein österreichischer Kriegsgefangener," versetzte Frohn, „nenne mich von Frohn und stehe bei den Prohaska-Dragonern. Ich habe in der Kasematte drüben, wo ich eingesperrt bin, Sein Arbeiten und Wühlen unter dem Boden gehört, und habe Ihm den Gefallen tun wollen, um die Sache zu erleichtern, indem ich Ihm entgegenkam." Der Gefangene schwieg eine Weile. Dann sagte er: „Wir wollen uns erst mehr Licht verschaffen, damit wir uns besser sehen können." Mit diesen Worten holte er aus einer Ecke ein halb niedergebranntes Talglicht auf einem niedrigen Blechleuchter hervor, zündete es an Frohns Laterne an und stellte es auf einen aus Steinen aufgemauerten Tisch, der sich in der Mitte der einen Wand befand, dicht neben dem schweren eingemauerten Ringe, von welchem die Ketten niederhingen. Zur Seite des Tisches, gerade unter dem Ringe, lag auf dem Boden ein Strohsack mit einer Decke; der Gefangene hatte als Frohn ihn zuerst erblickte, darauf gestanden, was seine Gestalt um so größer und seine ganze Erscheinung um so gespenstehafter gemacht hatte. „Nun, kommen Sie nur aus dem Loche heraus, Herr Kamerad, und der da unter Ihnen krabbelt, auch," sagte der Gefangene, und indem er sich so stellte, daß das volle Licht auf seine Züge und seine Gestalt fallen mußte, fuhr er mit einem gewissen Pathos fort: „Ich bin der kaiserlich königliche Rittmeister Freiherr von der Trenck!" „Von der Trenck?" antwortete Frohn verwundert. „Von dem Sie gehört haben werden," sagte der Gefangene mit stolzem Selbstgefühl. Frohn schüttelte den Kopf. „Von dem Obersten von der Trenck, der die Panduren . . .“ „Das ist mein Vetter! Ich bin der Rittmeister von der Trenck, vom Regiment Cordna-Dragoner." „Also auch Kriegsgefangener — und man behandelt Sie auf solche Weise?" fiel der Leutnant von Frohn ein. „Wo haben Sie denn gesteckt in der Welt, fragte der andre, „daß Sie von dem Rittmeister von der Trenck nichts gehört haben, von dem doch, mein ich, alle Welt weiß? Nein, Herr Kamerad, ich bin ein Vogel, den man um andrer Dinge willen in diesen Käfig gesteckt und, weil er durchaus nicht darin bleiben wollte, endlich mit achtundsechzigpfündigen Ehrenketten behängt hat, um ihn zu bewegen, es sich hier als Gast des großen Friedrich auf längere Zeit gefallen zu lassen. Aber ich kehr mich wenig an die Ketten und werde mich in den nächsten Tagen bei Sr. Majestät beurlauben!" „Weshalb legt denn der König so großen Wert auf Ihr Hierbleiben, wenn ich fragen darf, Herr Kamerad?" „Das sind Familienverhältnisse," entgegnete Trenck lächelnd; „Geheimnisse zwischen mir und meinem Herrn Schwager. Nehmen Sie, um die Sache in einem romantischen Lichte zu sehen, an, es hätte uns ein und dieselbe Dame nahegestanden, aber mit verschiedenen Gefühlen freilich — auf seiner Seite seien mehr die brüderlichen ins Spiel gekommen . . .“ Frohn blickte überrascht den mit einem eigentümlichen Tone von Renommisterei sprechenden Gefangenen an. War der Mensch am Ende doch ein Wahnsinniger? Aber nein, er fuhr mit vollständiger Ruhe und Klarheit zu reden fort: „Glauben Sie etwa, ich sei ein Aufschneider? Nun, es steht bei Ihnen. Ich wüßte nicht, weshalb ich mich darum ereifern sollte. Ich bin der beste Soldat im Heere des Königs gewesen. Jetzt sorgt der große Friedrich, der ja leidenschaftlicher Liebhaber der Phisolophie und der Philosophen ist, dafür, daß ich mich hier auch zu einem Weltweisen wie Sokrates ausbilde. Gewiß, um mich dann zum Präsidenten seiner Akademie zu machen. In der Tat, wenn dies seine Absicht ist, so habe ich in den neun Jahren, die ich hier zugebracht habe, derselben glänzend entsprochen. Ich kann Ihnen meine Schriften zeigen, meine Gedichte, alle mit meinem Blute geschrieben ... sie werden mehrere Foliobände füllen — aber davon ein andermal, in diesem Augenblick wollte ich Ihnen nur andeuten, daß meine Philosophie darüber erhaben, was ein kaiserlich-königlicher Leutnant von den Prohaska-Dragonern von mir denken mag!" „Weshalb sollte ich Ihnen nicht glauben, Herr Kamerad?" antwortete Frohn auf diesen Erguß; — „daß man auf Ihre Person einen besonderen Nachdruck legt, zeigen diese schweren Ketten, die Sie mit einer ganz unerklärlichen Leichtigkeit abgestreift haben." „Wollen Sie sehen, wie ich es mache? fragte von der Trenck, ganz begierig, wie es schien, das Staunen seines Gastes noch einmal zu genießen. Frohn trat näher zu ihm heran; während des Vorigen hatte Auerhuber sich auf den Rand der Grube gesetzt und glotzte jetzt mit derselben Verwunderung wie vorher sein Leutnant den Gefangenen an. „Sie baben da eine Eskorte bei sich" sagte dieser, den Menschen ins Auge fassend — „kann man sich auf ihn verlassen?" Frohn nickte mit dem Kopf. „Ich stehe für ihn ein, antworte er. Von der Trenck zeigte nun, wie leicht er seine Fesseln löste; zunächst die Handschellen, die sehr weit waren. „Sie waren ursprüglich schlimmer,“ bemerkte er dabei; „es war eine Höllenpein, heraus- und hineinzukommen; später jedoch fand ich einen guten Freund unter den Offizieren, der mir ein paar weitere machen ließ. Für eine Handvoll Gold bekommt man eben alles. Mit Gold macht man sich sogar Fesseln und Ketten bequem!" „Gold? — und haben Sie das? — hat man es Ihnen gelassen?" Der gefangene Freiherr antwortete nicht; er fuhr fort, seine Ketten zu zeigen, wie er hier durch sorgsames Ausfeilen der Nietungen, dort durch Aufbiegen von Haken, durch Lücken, die nachher mit schwarzem Brote verstrichen wurden, es dahin gebracht hatte, die ganze Last nach Belieben abwerfen und, wenn sein Kerker inspiziert wurde, was, wie er sagte, täglich einmal, um Mittag, geschah, wieder anlegen zu können. Nachdem er hierüber Frohns Verwunderung sattsam erregt, wandte er sich der von starken Eichenbohlen gefertigten und eisenbeschlagenen Tür seines Kerkers zu, und arbeitete ein Paar Augenblicke lang an der Einfassung derselben, ohne daß Frohn sehen konnte, was er beginne. Dann trat er in einen Winkel der Zelle und machte sich unten an dam Fußboden zn schaffen. Endlich hielt er Frohn die offene, mit kleinen Geldrollen gefüllte Hand hin. „Sie fragten nach Gold?" sagte er, „da sehen Sie Gold, und ich habe noch mehr. Es macht mir Vergnügen, es hier zu haben, obwohl ich nicht ein Stück Brot dafür kaufen kann. Aber ich mache mir zur Abwechslung zuweilen das Vergnügen, mir einzubilden, ich sei ein Geizhals, der in seinen Keller gestiegen ist, um seine Schätze zu hüten. Kann ich nicht hier bei meinen Dukaten ebenso stolz, so neidisch, so mürrisch lächeln, als der Mammonsknecht, der ängstlich bei seinem Golde schwitzt? Und noch besser als dieser, denn ich bin vor Räubern sicher! Ein andres Mal bilde ich mir ein, ich sei ein Bergmann, der in einem tiefen Schachte sitzt und arbeitet, auch von Licht und den Lebendigen fern, auch bei seinen Goldadern. Freilich leistet das Gold mir auch wesentliche Dienste. Von den vier Offizieren, welche abwechselnd die Inspektion bei mir haben, habe ich drei bestochen. Ich erhalte von ihnen alles mögliche, was ich wünsche." Frohn hatte sich während dieser Rede des Gefangenen auf den Sandsack gesetzt, der in der Mitte des Raumes lag, während Auerhuber neben ihm auf dem Rande der Grube saß; Trenck stand perorierend vor ihnen, in der einen Hand sein Licht, in der andern seine Goldrollen; es war ein merkwürdiges Bild, dessen Seltsamkeit durch die charakteristische Erscheinung Trencks um vieles erhöht wurde. Der berühmte Gefangene der Magdeburger Sternschanze war groß und kräftig gebaut, so daß er Frohn wenig nachgab. Seine Züge waren womöglich noch edler und schöner als die des letzteren; die Blässe, welche die Kerkerluft darauf gelegt hatte, ließ der rote Lichtschein wenig wahrnehmen, und seine dunkeln, großen Augen zeigten das Feuer eines ungebeugten Mutes. Eigentümlich war sein Kostüm. Es bestand aus einem Kittel von grobem blauem Tuche; weil aber die Fesseln ein Aus- und Anziehen der Kleidungsstücke, wenn sie nach gewöhnlichem Schnitte gemacht worden wären, verhindert hätten, so zeigten diese von oben bis unten an den Seiten Reihen von Knöpfen, vermittels deren sie angelegt und festgehalten werden konnten. Ein Paar wollene Strümpfe und Pantoffel bedeckten die Füße. Man sah übrigens, daß dem Gefangenen trotz seiner langen Haft nicht die Lust an einer gewissen Sorgfalt für sein Aeußeres geschwunden war; sein langes, schwarzes Haar war wohl gekämmt und hing in dichten Locken auf seiner Schulter; sein Kinn war glatt, wie eben rasiert — er hatte sich die schmerzhafte Operation nicht verdrießen lassen, die Haare immer einzeln auszurupfen. „Und wie bekommen Sie das Gold?" fragte Frohn nach einer Pause. „Sie haben gehört, daß ich Schreibzeug besitze," antwortete der Gefangene, indem er ging, seine Goldrollen wieder an ihren Platz zu bringen. „Ich schreibe an einen Freund in Wien; ich sende ihm Anweisungen auf meine großen Herrschaften in Ungarn und Slawonien; er besorgt mir die Summen nach Gommern, zwei Stunden von hier, jenseits der sächsischen Grenze; dort werden sie durch einen Vertrauten abgeholt. Bedürfen sie vielleicht Geld, Herr Kamerad? — es steht zu Ihrer Disposition." Frohn antwortete im Augenblick nicht — er war innerlich zu beschäftigt, sich Rechenschaft über den rätselhaften Charakter des Mannes zu geben, der ihm eine seltsame Verbindung von Unerschrockenheit, Mut, geistiger Energie, Eitelkeit und Prahlerei schien — dann sagte er: „Eine Rolle Gold würde allerdings meine Pläne wesentlich erleichtern, aber ich will es nicht eher annehmen, als bis ich Ihnen angedeutet habe wozu Sie es hergeben. Sagen Sie mir erst, welche Fluchtpläne Sie haben — wir wollen sehen, wie wir unsre Entwürfe kombinieren können." „Meine Fluchtpläne? Wollen Sie auch das wissen? Nun, Sie sehen ja, ich habe den Gang unter der Mauer dort ausgegraben, um in die Kasematte drüben zu kommen. Es ist eine Arbeit von vielen Monden, von Jahren. In dem Sande unten ist leicht zu wühlen. Aber die Schwierigkeit war, den Mauerschutt und den Sand fortzuschaffen. Es wäre nicht möglich, wenn ich nicht einen Grenadier bestochen hätte, der von Zeit zu Zeit vor dem Fensterloch meiner Zelle draußen Wache steht. Er hat mir ein paar Sandsäcke zukommen lassen, die ich ihm durch die Stangen des Fensters zuschiebe, und die er dann ausleert, so gut er es kann. Und nun ist das Schlimmste, daß ich die Stunden vor Mittag stets damit verlieren muß, den Fußboden wieder so herzustellen, daß man bei dem täglichen Besuch meines Kerkers nichts bemerkt. Eine entsetzliche Arbeit war es auch, diesen Fußboden zu durchschneiden. Wie Sie sehen können, besteht er aus drei Lagen von je drei Zoll dicken eichenen Bohlen. Ohne die Stange zwischen meinen Handschellen, die ich mir an dem einen Ende scharf geschliffen habe, wäre es gar nicht möglich gewesen. Aber ein Kopf und eine Hand wie die meine werden mit allem fertig. Ich würde heute beinahe bis unter die Kasematte drüben gekommen sein, wenn ich nicht das Arbeiten jenseits gehört hätte, was mich bewog, innezuhalten und mich in meine Zelle zurückzuziehen, um abzuwarten, was kommen werde." „Und wenn Sie bis in die Kasematte vorgedrungen wären?“ „So würde ich die Arbeit so lange haben ruhen lassen, bis eine Auswechslung von Kriegsgefangenen oder das Ende des Krieges die Kasematte von ihren jetzigen Bewohnern befreit haben würde. Meine Verständnisse mit gewissen Leuten haben mir den Schlüssel zu der Tür der Kasematte verschafft, die sich damit von innen aufschließen läßt. In einer sternlosen Nacht kann ich ganz bequem zu dieser Tür hinaus, über die Festungswälle, durch die Gräben ins Weite: ich habe an einem bestimmten Orte meine gesattelten Pferde stehen!" „Sie haben den Schlüssel zu unserer Kasematte?“ fragte Frohn. Von der Trenck nickte mit dem Kopfe. „Damit freilich,“ versetzte Frohn, „haben Sie eine große Chance, daß Ihre Flucht gelingen kann." „Eine Chance? Gewißheit!" „Nun, es ist immer gut, sich auf Zufälle und unvorhergesehene Ereignsse gefaßt zu machen, die unsre besten und klügsten Pläne zunichte machen können." „Soll ich Ihnen die Geschichte meiner Flucht aus der Festung Glatz erzählen?“ fiel Trenck selbstbewußt ein. „Sie werden dann keinen Zweifel mehr an dem hegen, was ich zustande bringen kann." „Ein andres Mal," erwiderte Frohn, „wir wollen die Zeit in diesem Augenblick besser benutzen; aber Sie reden ein wenig laut, Herr Kamerad - die Schildwache, die ich draußen gehen höre, könnte Verdacht schöpfen . . ." „Haben Sie deshalb keine Sorge," antwortete Trenck lächelnd - „die Wachen wissen, daß zuweilen die Herren Offiziere von der Besatzung bis tief in die Nacht hinein bei mir sind und sich meiner geistreichen Unterhaltungsgabe erfreuen. Hineinschauen in meinen Kerker kann die Wache nicht - ich habe, wie Sie sehen, eine Decke vor das Fenster gehängt." „Desto besser," versetzte Frohn — „so haben wir Muße, den Vorschlag zu diskutieren, den ich Ihnen machen will, Herr Kamerad." „Sprechen Sie." „Zuerst will ich meinen Begleiter beurlauben. Auerhuber, Du kannst die Rückreise antreten. Kriech in die Kasematte zurück: Du kannst dort erzählen, daß ich hier eine sehr anziehende Bekanntschaft gemacht habe, mit der ich mich noch eine Weile unterhalten werde." Auerbuber hätte eigentlich vorgezogen, dieser Unter¬haltung beiwohnen zu dürfen, er gehorchte jedoch, und während Frohn ihm die Laterne hielt, tauchte er alsbald unter, um wie ein Maulwurf unter der Erde zu verschwinden. „Mache nur, daß Dich ja die Schildwache nicht hört." flüsterte Frohn ihm nach; er löschte darauf sein Licht aus um die Kerze zu sparen, und dann sich zu Trenck wendend, sagte er: „Wir sind jetzt allein und ich will Ihnen meinen Plan anvertrauen. Vielleicht sind Sie geneigt, Ihren Plan mit dem meinigen zu kombinieren. Ich glaube, ebensowenig wie Sie mein Ehrenwort auf unbedingtes Stillschweigen verlangt haben, brauche ich das Ihrige zu verlangen. Ich traue Ihnen zu, daß Sie lieber sich foltern ließen, als einen Kameraden ins Unglück zu bringen . . ." „Sie tun sehr wohl, ein solches Ehrenwort nicht von mir zu verlangen — ich würde unter meiner Würde halten, es zu geben," erwiderte von der Trenck stolz. „Nun wohl, so hören Sie denn. Es ist mir gelungen, diejenigen Leute, zu denen ich mich in die Kasematte habe sperren lassen, mir unbedingt gehorchen zu machen. Ich habe Verbindungen mit mehreren andern Kasematten der Festung anzuknüpfen gewußt, in denen ebenfalls einzelne Offiziere, die ihr Ehrenwort, nicht zu fliehen, verweigert haben, mit Gemeinen zusammengesperrt sind. Ich habe dort überall Anführer wählen lassen, die gelobt haben, meine Befehle anzunehmen. Ich habe mir einen Plan der Festung verschafft. Ich bedarf jetzt nur noch sehr weniger vorbereitender Schritte, um das Signal geben zu können, nach welchem alle diese Gefangenen im selben Augenblick losbrechen, ihre Wachen überwältigen und sich zum Herrn der Festung machen werden. Ich übernehme dann das Kommando von Magdeburg und halte die Festung so lange, bis unsre große Kaiserin mir ihre Befehle hat zugehen lassen."
Am folgenden Tag erwartete Frohn mit doppelter Ungeduld seine junge Freundin. Er hatte am Morgen frühzeitig dafür gesorgt, daß das aufgewühlte Loch in der Ecke der Kasematte verdeckt wurde, wobei seine Matratze die wesentlichsten Dienste leistete. Dann hatte er, sobald die Leute, die sich heute wieder zur Arbeit führen ließen, entfernt waren, auf kleine Streifchen des zerrissenen Papiers, worauf Esther ihm den Plan der Festung zugeschmuggelt, mit einem Bleistift allerlei Hieroglyphen gekritzelt, kurze und unverständliche Sätze, als z. B. O. 3. Objekt Elbtor. Besetzt, oder C. 5. Objekt Bastion Kurfürst. Marktplatz, und dergleichen mehr. Den Rest der Zeit [mehrere unleserliche Worte] damit zugebracht, über die merkwürdige Bekanntschaft nachzudenken, welche er am Tage vorher gemacht hatte. Dieser energische, in seinem tiefen Elend so mutige und so viel frische Lebenskraft zeigende Mann hatte ihm imponiert, er mußte ihn bewundern — aber er fühlte auch, daß es eine wunderlich angelegte komplizierte Natur sei, die ihm ein gewisses Mißtrauen einflößte, oder etwas wie ein Unbehagen vielmehr, das Frohn hinderte, eine volle warme Teilnahme für ihn zu empfinden. Es war diesem wenigstens klar, daß in dem Freiherrn von der Trenck ein Ehrgeiz, ein Hochmut und eine Ueberhebung liegen müsse, die ihn zu einem sehr gefährlichen Freunde mache, und zu einem sehr gefährlichen Menschen überhaupt, wenn er endlich wieder frei und im Vollbesitz seiner Kräfte und seines anscheinend so großen Reichtums sei. Endlich kam die Stunde, die Esthers liebliche Erscheinung in die düstere Wohnung des Gefangenen brachte. Sie kam eilig mit ihrem Korbe herein. Frohn nahm ihn ihr ab und drückte sie an sein Herz, so daß die schwarzen Locken über seinen Oberarm flossen: - höher reichte sie an der mächtigen Männergestalt nicht hinauf. „Du hast gute Nachrichten“, sagte er – „ich seh’s Dir an.“ Sie nickte mit dem bei seiner Umarmung tief dunkelrot gewordenen Gesicht. „Ja“, sagte sie, „es ist mir gelungen die Frau des Oberfeuerwerkers kennen zu lernen, der nachts die Schlüssel zu dem Pulverturm zu sich nimmt. . .“ „Zu dem Laboratorium neben dem Tore der Sternschanze?" „Zu demselben, von dem Sie mir früher sprachen." „Und weiter?" „Die Frau liebt den Branntwein; der Mann ist abends im Bierhaus in der Stadt. Ich werde sie heute abend besuchen, und wenn es mir gelingt, die Frau trunken zu machen, werde ich mir Wachsabdrücke von den Schlüsseln machen können, die über dem Bette der Leute, an einen Nagel aufgehängt werden. Hätten wir nur Geld, dann würde es auch nicht schwer sein, einen Schlosser zu finden, der die Schlüssel nachmacht." „Geld, mein Herz? — daran fehlt es nicht! Sieh her!" Frohn zog die Goldrolle Trencks hervor und gab Esther einen Teil der [mehrere Wörter nicht lesbar] hast Du acht Friedrichsdor … fünfzig Taler [?]; reicht’s nicht, so kannst Du mehr bekommen, schönster Engel - obwohl ich meine, Du könntest Bestechungsversuche wohlfeiler haben — mir einem Kuß könntest Du alle Männer der Welt ihren Pflichten abtrünnig machen!" Sie wand sich bei diesen Worten von ihm los. „Sie machen wieder Ihre abscheulichen Späße,“ sagte sie. „Wenn Sie mich nur ein klein wenig lieb hätten, würde Sie daran denken, wie weh Sie mir damit tun!" „Was sich neckt, das liebt sich, weißt Du, Esther,“ antwortete Frohn. „Ach Sie wissen viel von Liebe!“ erwiderte Esther traurig lächelnd. „Herzenskind, versündige Dich nicht an meinem treuen Herzen“, fiel Frohn zärtlich ein. „Siehst Du, wenn wir beiden, ich, der Kommandant, und Du, mein getreuer Adjutant, meiner Kaiserin, der Gott ein langes Leben schenken soll, die Hauptfestung ihres bösen Feindes in die Hände geliefert haben, dann macht sie mich zum wenigsten zum Grafen und Feldmarschall-Leutnant – und dann wirst Du und niemand anders meine Gräfin und Feldmarschall-Leutnant . . .“ „Danach steht mein Sinn nicht – dafür setze ich mein Leben nicht der Gefahr aus.“ erwiderte Esther. „Ich will für meinen Vater die Freiheit . . .“ „Und für Dich selbst nichts?“ fragte Frohn, indem er die Hand unter Esthers Kinn legte und ihr schönes Gesicht zu sich emporhob. „Nichts — als etwas, was Sie gar nicht zu verschenken haben — als ein — ein treues Herz!" sagte sie, indem sie das Auge zu dem Frohns aufschlug und nach einem sprechenden innigen Blick sofort wieder senkte. „Und das sollst Du finden," entgegnete er mit lebhaftem und warmem Gefühl — „ein treues Herz — ich wäre der schlechteste Mensch auf Erden, wenn Du es nicht fändest! Aber," fuhr er nach einer stummen Pause fort - „die Zeit eilt — zu den Geschäften! Ich habe noch andre Aufträge für Dich. Sieh hier dieses Papierstückchen. Es ist nötig, daß es sicher in die Hände des Rittmeisters Stülpnagel komme. Was darauf steht, bedeutet: „Kasematte Nr. 3“ - Das ist die erste unter dem Fürstenwall, weißt Du; „Objekt Elbtor“, das heißt: das, was die in dieser Kasematte Einquartierten tun sollen, wenn das Signal von mir gegeben ist, besteht darin, das Brück- oder Elbtor zu nehmen. „Besetzt“ bedeutet: sie sollen es besetzt halten und dort bleiben, bis ich zu ihnen stoße. Wenn Stülpnagel das Papier nur zugesteckt erhält, er wird schon begreifen. Kannst Du ihn sprechen und es ihm erklären, desto besser. Und nun ist hier eine zweite Order für die Kasematte 5, d. h. für den Obristwachtmeister Ehrentraut – sie sollen die Bastion Kurfürst nehmen. Wenn es geschehen ziehen sie sich nach dem Marktplatz hinab – das bedeutet der Pfeil. Das Signal kennen sie alle?“ „Alle“ antwortete Esther. „Und was ich Dir gestern auftrug ist ausgerichtet?“ „Ich habe gestern für den Rittmeister Stülpnagel ein Zettelchen mit Ihrer Weisung, an einen kleinen Stein gebunden, in die Kasematte in dem Fürstenwall geworfen.“ „Bist Du auch vorsichtig?“ „Sorgen Sie nicht,“ erwiderte Esther, indem sie eins der kleinen Papiere nahm, zusammendrückte und sich ins rechte Ohr steckte, wonach sie das andere auf der entgegengesetzten Seite ebenso verbarg und dann ihre schwarzen Locken darüber niederfallen ließ. „So findet sie niemand,“ sagte sie. „Oder,“ erwiderte Frohn lachend, „man denkt Du trügst etwas gegen Zahnweh in den Ohren, was freilich, wenn man Deine Perlenzähne sieht, ein wenig verdächtig wäre! Also die Schlüssel zu dem Laboratorium . . .“ Frohn schwieg plötzlich und begann sehr eifrig sein Frühstück zu verzehren, denn eben trat der Korporal, der Esther begleitet batte, von draußen herein und mahnte das junge Mädchen zum Gehen. „Nur noch einige Minuten Geduld!" sagte Frohn, „Er würde auch nicht gleich und zuerst ans Essen denken, Kamerad, wenn Er gefangen säße und es trete ein so herziges Mädel bei ihm ein. Aber sag Er mir, Korporal, wer sitzt denn da drüben in dem Cachot, um das die hohen Palisaden eingerammt sind, daß die Schildwachen die davor stehen, nicht einmal in das Fensterloch sehen können?" „Das hat der König so befohlen," versetzte der Unteroffizier, „damit der Gefangene nicht mit den Leuten auf den Posten reden und sie bestechen kann." „Wer ist es denn?" Der Korporal zuckte die Achseln. „Es muß wohl ein schlimmer Gesell sein. Man weiß es nicht recht. Das Gefängnis ist auf Befehl des Königs für ihn vor Jahren extra gebaut, und er soll in Ketten stecken, daß es zum Erbarmen ist. Man sagt auch, der König würde dem Kommandanten den Kopf vor die Füße legen lassen, wenn er fortkäme." Der Korporal wußte weiter nichts anzugeben, oder wollte es nicht. — Esther packte ihr Eßgerät zusammen, und beide gingen.
Am Tage darauf brachte Esther unserm Gefangenen wieder die besten Nachrichten. Es war ihr gelungen, ihre Depeschen an ihre Adressen zu befördern, Frohn gab ihr neue, die letzten, welche nötig waren, so brauchte er nur das schon früher bekanntgemachte Signal zu geben und jeder, der zum Handeln berufen, eilte an seinen Posten. Es fehlten nur noch die Schlüssel zu dem Laboratorium. Esther hatte, wie sie berichtete, die Wachsabdrücke. Aber es war ihr noch nicht gelungen, die Schlüssel selber machen lassen zu können; der Schlosser, der es übernommen, gegen Bezahlung von acht Friedrichsdor sie anzufertigen, wollte erst am folgenden Tage gegen Mittag damit fertig werden können, da er nur daran arbeiten durfte, wenn er allein und sein Geselle nicht in der Werkstatt war. Gegen die Abendstunde schickte Frohn sich an, seinen Besuch bei Trenck zu machen. Er kroch in seinen Minengang und gelangte darin ungehindert bis an die Stelle, wo ihm seine Laterne die Fundamentmauer des Trenckschen Kerkers zeigte. Hier aber hörte zu seiner Verwunderung heute sein Weg vollständig auf. Die brunnenartige Austiefung, durch welche er gestern noch in die Zelle Trencks gekommen, war mit einem Paar Sandsäcken zugeworfen und darüber lagen dicke Holzbohlen. Frohn schaffte sich zwar trotz der Säcke so viel Raum, daß er den Versuch machen konnte, die Bohlen zu heben. Aber sie schienen fest zugekeilt. Er klopfte. Nichts über ihm rührte sich. Er rief? „Trenck . . . Herr Kamerad" . . . erst leise, dann lauter. Keine Antwort! Im höchsten Grade beunruhigt mußte er sich zum Rückzug entschließen. Größere Anstrengungen, die Bohlen zu heben, durfte er nicht machen, ebensowenig lauter rufen. Dies hätte die Schildwache, die zwischen seiner Kasematte und den Palisaden, welche Trencks Kerker umgaben, auf und ab schritt, aufmerksam machen können. Frohn mußte unverrichteterdinge zurück. Aber die Rückreise war sehr unbequem. Der Raum war nicht weit genug, daß ein so starker, breitschultriger Mann wie Frohn sich hätte wenden können. Er mußte wie ein Krebs rückwärts kriechen. Als er wieder in seiner Kasematte angekommen war, setzte er sich auf seine Matratze nieder und dachte eine Weile stumm über die Bedeutung dieses auffallenden Umstandes nach, daß Trenck ihm geflissentlich den Weg zu sich verschlossen. Oder hatte man Trencks Arbeiten entdeckt? Es war nicht wahrscheinlich; man würde dann gleich den ganzen Gang zugeworfen haben. Es war möglich, daß er krank war, daß er eine außergewöhnliche Inspektion seines Kerkers zu fürchten Grund erhalten . . . es war aber auch möglich, daß Trenck Frohn verraten, um durch die Mitteilung einer so wichtigen Tatsache an dis Festungsbehörden seine eigne Begnadigung zu erkaufen. Frohn grübelte lange darüber nach, ob eine solche Handlung mit den Charaktereigenschaften verträglich sei, welche ihm Trenck in seinen beiden Unterredungen mit ihm gezeigt hatte. Er wurde nicht ganz klar darüber. Der Charakter Trencks sprach dawider . . . und doch, ein großer Egoismus lag in diesem merkwürdigen Menschen, und was war ihm Frohn? ein völlig Fremder, eine Bekanntschaft von zwei Tagen. Der letztere mußte jedenfalls auf seiner Hut sein! Endlich sprang Frohn auf. Es war so dämmerig in der Kasematte geworden, daß von draußen nicht bemerkt werden konnte, was darin vorging. Er rief die sämtliche Mannschaft um sich her. „Es wird Zeit. Ihr Leute," „daß wir uns zum Losschlagen bereit halten. Macht Euch darauf gefaßt. Vielleicht gebe ich schon morgen früh, wenn mir mein Frühstück gebracht und die Kasematte dabei aufgeschlossen wird, das Signal — mit dem Rufe: „Es lebe die Kaiserin!" Ihr wißt, was Ihr dann zu tun habt! Es stürzt sich alles zum Tore hinaus. Die Schildwachen, die uns in den Weg kommen, werden niedergeschlagen, die Musketen und Patronentaschen, die scharfe Patronen enthalten, ihnen genommen; die ganze Mannschaft eilt auf den Platz mitten in der Sternschanze. Hier aber folgen nur alle die, die in der Artillerie gedient haben — Wieviel sind Euer? Die Artilleristen treten vor!" — Etwa vierzig Mann traten aus den übrigen heraus. „Gut — Ihr alle kümmert Euch weiter nicht um die andern, sondern Ihr bleibt auf meinen Fersen und folgt mir. Alle die andern aber werfen sich auf die Wache vor der Kaserne; Ihr schlagt die paar Leute zu Boden, reißt ihnen die Gewehre weg und stürzt Euch dann in die Kaserne, wo Ihr Gewehre findet. Ihr werdet mit dem kleinen Häuflein von Landmiliz, das darin liegt, bald fertig sein, könnt deshalb auch Pardon geben. Das Totschlagen nimmt nur Zeit fort, die Hauptsache ist, daß Ihr Waffen bekommt! — Habt Ihr nun die Leute in der Kaserne überwältigt und die Gewehre in der Hand, so besetzt Ihr das Tor der Sternschanze, bis ich komme und weitere Befehle gebe. Ihr habt nichts zu fürchten. Wenn unsre Unternehmung auch scheitert, so ist dafür gesorgt, daß wir freien Abzug haben; die Kameraden aus einer der Kasematten am Fürstenwall besetzen das Brücktor, so daß uns von drüben aus der Zitadelle keine Gefahr droht, auch im Falle die Gefangenen in derselben sich ihrer nicht bemächtigen können. Der Weg ins Freie bleibt uns immer offen, und nach einem Marsche von zwei Stunden sind wir an der sächsischen Grenze. Es sind auch keine Truppen in der Gegend, die eine Kolonne wie die unsrige angreifen könnten . . . Die Leute waren in der mutigsten Zuversicht und erwarteten gespannt den kommenden Tag, der vielleicht die Entscheidung brachte. Frohn befand sich bei dem Gedanken daran in einer leicht begreiflichen Aufregung. Er schloß erst sehr spät in der Nacht die Augen zu einem unruhigen Schlummer. Der Morgen kam, und die ersten Stunden desselben verliefen sehr ruhig. Der gefangenen Mannschaft wurde ihr Frühstück gebracht. Zur Arbeit wurden sie heute nicht geführt; die Leute hatten den Befehl von Frohn, wenn sie hinausgeführt werden sollten, sich der Arbeit zu weigern und zu bleiben. Unterdes hatte am frühen Morgen eine ganz eigentümliche Szene in Trencks Kerker stattgefunden. Der gefangene Freiherr hatte nämlich einen höchst merkwürdigen Entschluß ausgeführt, einen Entschluß, der unbegreiflich sein würde, wenn wir ihn uns nicht aus einem Charakter erklärten, in welchem Eitelkeit und Ruhmsucht alle übrigen Eigenschaften beherrschten. Trenck glaubte seinen Fluchtplan so gut vorbereitet, daß er am Gelingen desselben keinen Zweifel hegte. Er hatte schon im voraus den ganzen Triumph genossen, den es ihm gewähren würde, wenn er durch eigne Kraft und Klugheit sich aus einem Kerker wie dem seinigen befreit; er hatte bereits ganz Europa erfüllt von Bewunderung für eine so unglaubliche Tat gesehen. Das Anerbieten des österreichischen Leutnants, welches ihm jetzt, wo er sechs Monate hindurch und noch länger seine Flucht vorbereitet hatte, die Freiheit ohne sein Zutun als Geschenk geben wollte, war ihm deshalb keineswegs willkommen gewesen. Wie er schon in seiner Haft in Glatz vorgezogen hatte, die Freiheit, welche er durch ein Gnadengesuch bei seinem König hätte finden können, mit entsetzlichen Mühseligkeiten und von tödlichen Gefahren umringt zu gewinnen, so hatte sein unbeugsamer Kopf auch jetzt sich dawider empört, von den Schultern eines andern bequem aus seinem Kerker getragen zu werden. Dies hatte ihm seinen Entschluß eingegeben. Schon gestern hatte er deshalb den Weg in seine Zelle für Frohn versperrt gelassen, und jetzt, am frühen Morgen, hatte er verlangt den Offizier du jour zu sprechen. Ein Stabsoffizier, begleitet von einem Leutnant, trat bald hernach in sein enges Gemach. „Herr Obristwachtmeister," redete er diesen an — „ich habe mir Kunde darüber zu verschaffen gewußt, daß der Gouverneur der Festung, der Herzog von Braunschweig, gegenwärtig in den Mauern von Magdeburg ist. Ich ersuche Sie, sich zu Seiner Durchlaucht begeben zu wollen und ihm zu sagen, der Freiherr von der Trenck lasse ihn bitten, sich selbst zu überzeugen, welche Maßregeln ergriffen sind, ihm nur jeden Gedanken au die Möglichkeit einer Flucht zu nehmen. Der Herzog möge selber sehen, wie jedes meiner Glieder mit schweren Eisen gefesselt ist; wie zwei dicke, mit Platten überzogene Bohlentüren mein Gefängnis von dem Vorraum abtrennen; wie zwei andre Türen den Vorraum schließen und eine fünfte die Palisadenwand rings um das Gebäude. Er möge sehen, wie Tag und Nacht die Schildwachen auf ihrer Hut sind. Wenn er sich davon überzeugt hat, mag er mein Gefängnis visitieren lassen, die Schildwachen verdoppeln und dann befehlen, zu welcher Stunde morgen am hellen Tag ich mich außerhalb der Werke der Sternschanze, auf dem Glacis bei Kloster Bergen, in vollkommener Freiheit soll sehen lassen!" „Wir reden irre, Trenck!" sagte der Major kopfschüttelnd und wie sich zum Gehen wendend. „Ich weiß, was ich sage, mein Herr Obristwachtmeister," fuhr der Gefangene fort. „Wozu ich mich anheischig mache, das führe ich auch aus. Dagegen aber sagen Sie der Durchlaucht das, dagegen verlange ich von dem Herzog, daß er, was ich getan, dem König meldet und mir seine Protektion bei dem Monarchen gewährt; der König mag aus meiner Handlungsweise entnehmen, daß ich ein reines Gewissen habe und verschmähe zu fliehen, obwohl es mir ein leichtes ist trotz aller seiner Gewaltmaßregeln!“ Der Major glaubte in der Tat, Trencks Prahlereien seien aus Irrsinn hervorgegangen, und nur das energische Drängen des Gefesselten bewog ihn endlich zu dem Versprechen, sich zum Herzog begeben zu wollen. In kurzer Zeit, schon nach einer halben Stunde, kehrte der Major mit seinem Adjutanten und begleitet von dem Kommandanten, dem Platzmajor und einem dritten Stabsoffizier in die Kasematte zurück. „Wir bringen Ihnen eine Botschaft vom Herzog, Trenck." sagte er: „Seine Durchlaucht läßt Ihnen mitteilen, wenn Sie Ihre Worte wahr machten, so wolle er Ihre Bitte gewähren: er sichert Ihnen seine nachdrückliche Protektion und auch die Gnade des Königs zu: auch sollten Ihnen dann sofort alle Fesseln abgenommen werden." „Ich danke Seiner Durchlaucht," versetzte Trenck, „und verlasse wich auf sein fürstliches Wort. Wann befiehlt er, daß ich morgen ausführen soll, was ich versprochen habe?" Der Kommandant hatte sich unterdes, mit scharfen Blicken umherspähend, in dem Kerker umgesehen. „Glauben Sie uns denn wirklich zum Narren halten zu können?" fiel er jetzt ein. „Durchaus nicht!" versetzte Trenck stolz und kalt: „ich bin weder ein Narr, noch halte ich Sie dafür!" „Machen Sie andern Leuten weiß, daß Sie mit dem Teufel im Bunde stehen," sagte der Platzmajor lachend. „Es handelt sich hier nicht um den Teufel, sondern um den Befehl des Herzogs, um welche Stunde morgen ich auf dem Glacis spazierengehen soll." „Nun wohl," sagte der Kommandant, „der Herzog läßt Ihnen sagen, es bedürfe dessen nicht — es reiche hin, wenn Sie uns nur genau angäben, wie Sie es bewerkstelligen wollen, und wir die Möglichkeit einräumen müssen." Trenck blickte forschend in die Gesichter derer, die ihn umstanden. Es lag ein Ausdruck darin, der ihm nicht gefiel und der ihn hätte zum Mißtrauen führen müssen. Aber er war zu sehr in Aufregung bei dieser ganzen Szene, er dürstete zu sehr nach dem Triumph von Staunen und Bewunderung, den ihm der nächste Augenblick bringen konnte, als daß er besonnen geblieben wäre. „Hat der Herzog das in der Tat gesagt?“ „Zweifeln Sie an unsern Worten?“ „Er sichert mir die Gnade des Königs zu, auch wenn ich Ihnen bloß den Beweis führe, daß ich frei und ungehindert davongehen kann, ohne, wie der Herr Platzmajor glaubt, die Hilfe des Teufels in Anspruch zu nehmen?" „Ja!“ „Nun wohl, meine Herren!" rief jetzt Trenck laut aus — „so geben Sie acht!" Damit begann er den rechten Fuß aus seiner Fessel zu lösen, dann die Kette, die an seinem Halsring hing, dem Kommandanten trotzig vor die Füße zu werfen und die Handschellen mit der Stange dazwischen ebenfalls; darauf schleuderte er das Halseisen dem übrigen nach und dann trat er stolz und aufgerichtet ein paar Schritte vor, daß die Offiziere bestürzt zurückzucken. Er wandte sich nun der Ecke zwischen seinem Lager und der Wand zu, hob hier ein kleines Stück des Fußbodens auf und zog einen mit Gold gefüllten Beutel, ein Pistol, ein paar Schlüssel, Pulver und Blei und mehrere Feilen hervor, die er auf seinen Tisch legte; dann nahm er die zwischen seinen Handschellen befindliche Stange vom Boden auf, löste sie von den Fesseln los und schritt nun nur die andre Seite der Zelle, wo er vorsichtig ein großes Stück des Bodens aus den geschickt mit Brotkrumen zugestrichenen Fugen hob. Dann hob er ein zweites darunter liegendes und endlich ein drittes auf. Aus der Tiefe darunter zog er zwei kleine Sandsäcke hervor und sagte nun die Arme wie ein Triumvator über der breiten und kräftigen Brust verschlingend: „Sie sehen, meine Herren Offiziers, daß ich die Wahrheit gesagt. Meine Ketten habe ich den Herren vor die Füße geworfen; dort liegt eine Waffe, um mich, auf der Flucht vor dem Wiedereinfangen zu schützen … [es folgen unleserliche Passagen] … der Eingang zu dem Wege, der mich aus meinem Kerker führt. Ueberzeugen Sie sich selbst. Untersuchen Sie den Gang; Sie werden sehen, daß er siebenunddreißig Schuh lang ist. Er mündet in der Kasematte drüben. Die österreichischen Gefangenen, welche dort eingesperrt sind, werden meine Flucht nicht hindern; das Tor der Kasematte wird es auch nicht, denn dort liegen die Schlüssel, welche es von innen öffnen. Höchstens würde die ganze dort eingesperrte Mannschaft mich als Eskorte begleiten. Die Leute haben mir schon jetzt ihren guten Willen gezeigt, denn sie haben das Ende meines Ganges entdeckt und mich dennoch nicht verraten. Und was, wenn ich einmal draußen bin, meine weitere Flucht angeht, so ist dafür gesorgt. Der Ort, wo ein vertrauter sicherer Mann mit zwei gesattelten Pferden meiner wartet, ist mir genau bekannt. Bin ich aber einmal im Sattel, ein zuverlässiges Pistol in der Faust – dann fangt ihr Herren mit allen Euern Deserteur-Kordonlinien den Trenck nicht wieder ein, weit eher den Teufel mit einer Leimrute auf flachem Felde.“ Die Offiziere sahen sich allerdings, ganz wie der Gefangene es erwartet hatte, mit stummer Verwunderung an. Die ganze Szene war so überraschend, namentlich für den Kommandanten, der zunächst für seinen Gefangenen verantwortlich war, daß er mehrmals die Farbe wechselte und kaum wußte, was er erwidern sollte. Der Platzmajor richtete unterdes seine Aufmerksamkeit auf den Minengang Trencks, er sprang in die Tiefe hinab und verschmähte es auch nicht, um sich zu überzeugen, in den Gang hineinzukriechen. Als er sich wieder aufrichtete, versicherte er: „Es ist wirklich und wahrhaftig ein tiefer Gang unter der Erde her – so weit ich den Arm vorgestreckt habe, ist kein Ende zu finden!“ „Er ist siebenunddreißig Schuh lang!“ fiel Trenck ein. Jetzt ist die Kunst, aus dem Loche wieder herauszukommen,“ sagte der Platzmajor, der weder so groß gewachsen, noch so ein guter Voltigeur war, wie Frohn, um sich mit einem Sprung auf den Rand des Loches schwingen zu können. Zwei Leutnant faßten ihn unter die Arme und schroteten ihn in die Höhe. Da sollte man ja rein des Teufels werden,“ brach jetzt der Kommandant aus, der schaudernd überdachte, welche zahlreichen Mitwisser Trenck gehabt haben müsse, um sich alle die Gegenstände zu verschaffen, welche er jetzt offen vorzeigte . . . „es scheint, man hat mir die halbe Garnison bestochen und verführt!“ „Niemand, der in Ihrer Gewalt wäre, Herr Kommandant,“ versetzte Trenck. Ich habe Ihnen nicht dazu meine Karten offengelegtdaß Sie jetzt … [es folgen einige unleserliche Worte] … Der einzige Schuldige ist mein Witz, der stärker war, als der Witz derer, die alles taten, um mir das Entkommen unmöglich zu machen. Und von Schuld kann ja bei mir keine Rede sein. Der König hat mich hier ohne Urteil und Recht, ohne daß ich nur ein einziges Mal verhört worden wäre, ohne daß mir nur angegeben wäre, wessen ich beschuldigt bin, in der unmenschlichsten und grausamsten Haft gehalten. Mich ihr zu entziehen, wie ich kann, das ist mein unveräußerliches Menschenrecht!“ „Kommen Sie jetzt mit uns“ sagte der Kommandant. „Ich nehme Sie mit in meine Wohnung. Ich werde von dort aus dem Herzog die Sache melden und wir werden seine weiteren Befehle abwarten.“ Trenck war natürlich sehr bereit dazu. Er schritt zwischen den Offizieren aus seinem Kerker heraus und dann der Wohnung des Kommandanten zu, die nicht in der Sternschanze, sondern in der Stadt lag. In zuversichtlicher Stimmung, voll sanguinischer Hoffnungen, sog er die für ihn fast berauschende frische Luft ein, die er seit fast neun Jahren nicht mehr gekostet. Wie wenig ließ er sich träumen, daß von allem, was vorgegangen, der Herzog von Braunschweig keine Ahnung hatte, daß er nach acht Tagen wieder in seinen neubefestigten Kerker zurückgebracht, daß sein Fuß mit einer doppelt so schweren Kette an die Mauer geschlossen sein würde.
Es mochte halb elf sein. Frohn hatte Esther heute nicht gesehen, denn wenn die Gefangenen nicht draußen arbeiteten, so wagte sie sich nicht zu ihm, durch die Menge von Männern, welche die Kasematte füllten. Ein Laufbursche hatte Frohn das Frühstück gebracht. Dieser hatte dasselbe kaum verzehrt, der Laufbursche war kaum gegangen, als zur Ueberraschung der Gefangenen sich das Tor der Kasematte noch einmal öffnete und ein Offizier eintrat, dem drei oder vier Handwerker, mit Schaufeln und Schiebkarren versehen, folgten. Sechs Mann Wache besetzten das offen bleibende Tor. Frohn trat dem Offizier entgegen. „Wozu kommen der Herr Kamerad?" fragte er ihn. „Man fragt noch lange?" versetzte dieser barsch und von Diensteifer erregt. „Man hat sich in ein Komplott eingelassen; Man wird die Folgen schon zu fühlen haben. Wo ist der Eingang zu dem Loche, durch welches man mit dem Trenck konspiriert hat?" Der Offizier war offenbar vortrefflich orientiert, denn er schritt, ohne eine Antwort abzuwarten, dem obersten Ende der Kasematte zu, wohin die Arbeiter ihm folgten. Bei dem Erscheinen des Offiziers war es natürlich Frohns erster Gedanke, daß er verraten sei. Bei den Worten desselben, bei dem Vorwurf, daß er sich in ein „Komplott" eingelassen, durchzuckte es ihu wie ein Blitzschlag. Es war gewiß, Trenck hatte den Verräter gespielt. Was war zu tun? War das große Unternehmen aufzugeben, in der Furcht, daß die Festungsbehörden bereits alle Maßregeln ergriffen, um es scheitern zu machen? Dazu war es zu wohl überlegt, dazu sicherte die unverhältnismäßige Ueberzahl der Gefangenen über die Besatzung zu sehr den Erfolg! Nein — der Streich mußte geführt werden — aber auch sofort! Es war jetzt keine Zeit mehr zu verlieren. Jeder weiter verlorene Augenblick war für die sich gegen einen Angriff der Gefangenen rüstende Besatzung ein Gewinn. Frohn war bald entschlossen. Der Offizier hatte unter Frohns Matratze das Loch, welches in Trencks Kerker führte, bald aufgefunden, Er gab jetzt den Arbeitern, die herantretend ihn umgaben und das aufgewühlte Loch betrachteten, seine Befehle. Frohn benutzte diesen Augenblick. Er winkte seinen Leuten — drängte sich an den Offizier, riß ihm mit Blitzesschnelle den Degen aus der Scheide, faßte ihn im selben Augenblick am Kragen und warf ihn in das Loch hinunter. Zugleich rief er mit einer donnernden Stimme: „Es lebe die Kaiserin!" Es war ein entsetzliches Gebrüll und Gejauchze, was diesem Rufe folgte und die niedrige Kasematte mit einem Getöse erfüllte, welches allein hinreichend schien, die kleine, sofort bereinstürzende Eskorte des Offiziers zu betäuben und zu überwältigen. In der Tat war dies halbe Dutzend ziemlich harmloser Landmiliz ohne alle Schwierigkeit zu Boden geworfen, und sechs Musketen und ebensoviele Patronentaschen und Seitengewehre waren in den Händen der Gefangenen. Frohn, den blanken Degen in der Faust, stürzte nun zur Kasematte hinaus — die zwei davor aufgestellten Schildwachen konnten nicht daran denken, den Menschenstrom, der sich hinter ihm her daraus ergoß, Widerstand zu leisten; sie waren entwaffnet, ehe sie zur Besinnung über das, was vorging, gekommen. Der entzügelte Haufe rannte nun über den inneren Hof der Sternschanze fort, der Hauptwache zu. Diese war mit einer so geringen Mannschaft besetzt, daß Frohn über den Ausgang nicht zweifelhaft sein konnte; er hielt es deshalb nicht für nötig, den Angriff zu leiten, sondern trennte sich von der Schar und lief quer über den Platz den Wällen zu. Vierzig Mann der Schar hatten sich ihm zunächst gehalten; diese folgten ihm jetzt. Es waren die Artilleristen unter den Gefangenen. Durch seinen Plan orientiert, fand er es nicht schwer, sein Ziel zu erreichen, nämlich die Alarmkanonen auf dem Walle der Sternschanze. Zwei schwere Geschütze waren stets geladen, um jeden Augenblick, sobald die Meldung kam, daß ein Deserteur entsprungen, abgefeuert werden zu können und die Landbevölkerung in der Umgegend der Festung auf ihre Posten zum Schließen eines doppelten Kordons zu rufen. Ein Artillerist schritt als Wache neben den Geschützen auf und ab; als er die herbeistürzenden Gefangenen erblickte, deren laute Zurufe ihm ans Ohr schlugen, ohne daß er sie verstand, blieb er wie vor Schrecken regungslos stehen und ließ sich ohne Widerstand entwaffnen. Frohn fand augenblicklich in einem der Protzkasten das nötige Pulver, schüttelte es auf das Zündloch der zwei Geschütze, schlug mit dem Stahl und Stein, den er bei sich führte, Feuer, entzündete die Lunte, die er an ihrem richtigen Platze neben der Lafette fand, und einen Augenblick nachher flammte ein heller Blitz auf — ein weithin krachender Schuß donnerte über die Festungswerke, die Stadt und die Elbe fort; ein zweiter Blitz, ein zweiter Donner folgte, und aufgeregt von seiner eignen Tat, schrie Frohn, die Mütze schwenkend: „Vivat Maria Theresia! Der Tanz beginnt! Jetzt vorwärts, ihr Mannen! Ein Bombardier und sechs Mann bleiben hier und halten die Batterie besetzt. Die andern folgen mir!" Er eilte fort, von seinen Artilleristen gefolgt, die bren¬nende Lunte in der Hand. Als er den Hof inmitten der Sternschauze wieder erreicht hatte, sah er, daß seine früheren Anordnungen befolgt und bereits ausgeführt waren. Die Wache war von seinen Leuten besetzt, das Tor der Sternschanze war in ihren Händen; viele von ihnen waren schon bewaffnet — sie hatten bei dem kleinen Häuflein, welches die Besatzung des Forts bildete, nirgends Widerstand ge- funden. Vor der Wache standen zwei kleine Kanonen, so¬genannte Bataillonsgeschütze, wie sie damals den eignen Regimentern zugeteilt waren, aufgefahren. Sie waren wegen der zahlreichen in der Festung aufgenommenen Kriegsgefangenen geladen, und standen auch gegen den Eingang in die Kasematte gerichtet — den sie freilich zu bewahren sich heute wenig dienlich gezeigt hatten. Frohn erkannte augenblicklich ihre Wichtigkeit für ihn. „Kommt her, Ihr Burschen!" rief er seinen Leuten zu, „die Geschütze müssen mit — spannt Euch davor und dann mir nach!" Die Leute griffen augenblicklich zu, und indem an jeden der beiden Vierpfünder sich etwa fünfzehn der Artilleristen spannten, wurden sie ohne große Schwierigkeit in Bewegung gebracht. Frohn schritt auf das Tor zu: in der Nähe desselben ließ er halt machen und den beiden Geschützen eine Wendung nach rechts geben. So richteten sich ihre Mündungen wider ein niedriges, aber festes Bohlentor, welches den Eingang in ein kleines, blockhausartiges Gebäude verschloß. Eine Kartusche wurde zerrissen und gab Pulver für die Zündlöcher her. Frohn selbst visierte dann, trat zur Seite, legte die Lunte an, das Geschütz krachte los, und als der Dampf sich verzogen hatte, sah man, wie das Tor zer¬splittert aufgeflogen war. Der Eingang zu dem Pulverhaus, zu den Munitionsvorräten war gewonnen. Ein Eijen- und Vivatschreien der Leute folgte. Alles stürzte dem Gebäude zu, auch die Mannschaft, welche nach seinem früheren Befehl das Tor besetzt hatte, lief herbei, um sich mit Munition zu versehen. Frohn rief mit seiner weithinschallenden Stimme die Leute zurück; aber erst nach einigen Minuten hatte er so viel Mannschaft wieder um sich, um mit seinen Geschützen vorgehen zu können. Er verließ die Sternschanze und rückte durch das Sudenburger Tor vor. Bald hatte er vor sich ein noch von den ältesten Befestigungen übriges zweites Stadttor. Durch dasselbe blickte er in die Gasse hinein, welche in das Innere der Stadt führte. Er sah, wie dort in der Straße die Menschen, erschrocken über den Tumult, zusammentreten, und zu gleicher Zeit, wie die Straße herunter ein Haufe Soldaten von der Besatzung unter der Anführung eines Offiziers herbeigeeilt kam. Im ersten Augenblick dachte er, daß dieselben kämen um der Besatzung der Sternschanze zu Hilfe zu eilen, und lachend rief er aus: „Vortrefflich, sie kommen, um uns ihre Gewehre zu bringen —" Dann aber durchblitzte ihn der Gedanke, daß sie beabsichtigen konnten, das alte Stadttor zu schließen. In diesem Falle war Frohn mit einem großen Zeitverlust bedroht — wenn er nämlich genötigt war, das Tor zu forcieren. Augenblicklich gefaßt, sprang er deshalb an das noch geladene Bataillonsgeschütz, faßte den Schwanz der Lafette, warf ihn mit seiner Riesenkraft herum, so daß es gerade in die Straße hineingerichtet stand, dem drüben herbeistürzenden Haufen entgegen; dann griff er nach der noch brennenden Lunte, visierte noch einmal . . . drüben leuchtete etwas wie ein weißes, hochgeschwungenes Tuch vor seinem Auge auf — aber nur einen Moment; als er von dem Geschützrohr aufsah, erblickte er nur die jetzt dem Tore ganz nahe gekommenen Feinde, während der Haufen der Bürger erschrocken zur Seite stob. Frohn legte den Zünder an . . . ein Krach — und eine Kartätschenladung schlug in den Trupp ein, der augenblicklich auseinanderstob. Zu gleicher Zeit kamen die noch im Pulverhaus Zurückgebliebenen mit ihrer gemachten Beute herangestürzt. Frohn rief sie um sich: „Alle, die Musketen haben, in die ersten Glieder hinter mir!" rief er ihnen zu. „Die Artilleristen laden die Geschütze wieder; sobald das geschehen, folgen sie damit. Vorwärts!" Er schritt voran, durch das alte Sudenburger Stadttor, dessen schwache Besatzung, statt an Widerstand zu denken, bei dem Heranströmen von mehreren hundert Leuten zu kapitulieren verlangte und gegen Abgabe der Gewehre freien Abzug erhielt. Dann eilte Frohn seinen Leuten voraus in die Stadt hinein. Ein schwer Blessierter lag vor ihm: andre von dem Kartätschenschuß verwundete hatten sich aufgerafft und schleppten sich den zersprengten Kameraden nach, Frohn rief den erschrockenen, unter ihren Türen stehenden oder zum Fenster herausblickenden Bürgern zu, sie sollten Sorge für den armen Teufel tragen, im nächsten Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit von einer Gruppe von Menschen in Anspruch genommen, die ein wie leblos in ihren Armen ruhendes Mädchen eben auf die Treppenstufen eines Hauses trugen und niederlegten. Frohn [zwei unleserliche Worte] stand wie vom Donner gerührt ... er erkannte Esther, über und über von Blut bedeckt, das aus einer Brustwunde strömte und das die Umstehenden vergeblich zu stillen suchten. „Esther! Esther! Um Gottes willen, was ist geschehen?" rief er entsetzt aus, alle andern beiseiteschiebend, neben ihr ins Knie sinkend und ihr totenbleiches Haupt mit seiner Rechten erhebend. Sie schlug die geschlossenen Augen auf. Der Klang dieser Stimme hatte sie zum Bewußtsein zurückgerufen. „Sie sind's?" sagte sie mühsam und kaum verständlich. „Sie haben mir den Tod gegeben!" „Ich? . . . O mein Gott!" „Sahen Sie mein weißes Tuch nicht? Ich winkte Ihnen — ich wollte Ihnen die Schlüssel bringen!" Sie zog mit mühsamer Bewegung zwei schwere neue Schlüssel aus einer Tasche ihrer Schürze hervor. „Ich winkte Ihnen," fuhr sie fort, weil ich sah, was Sie zu tun im Begriff standen. Aber der Schuß krachte -— und ich . . .“ „Herr Gott des Himmels." rief Frohn in furchtbarem Schmerz aus, „ich bin Dein Mörder geworden. — Esther, das ist entsetzlich . . . Esther, Esther, das bricht mir das Herz. Er warf sich händeringend neben sie auf die Treppenstufen. „Grämen Sie sich nicht. Lassen Sie mich sterben; ich konnte ja nicht leben für Sie ... es war unmöglich! Nun sterbe ich für Sie. . . . Jehovah sei mit Ihnen . . . der Gott meiner Väter — er hat es gefügt. Denken Sie an mich — und — an meinen Vater . . . armen Vater.“ Die Anstrengung, womit Esther dies gesprochen, hatte das Bluten ihrer Brustwunde verstärkt. Ihre letzten Worte fielen fast unhörbar von ihren Lippen. Sie schloß die leuchtend auf Frohn ruhenden Augen wieder. Ihr Antlitz wurde wachsbleich; sie fiel in völlige Ohnmacht zurück. „Märtyrerin . . . Heilige!" schrie Frohn in entsetzlichem Schmerz auf, und dann begann er, laut schluchzend ihr Antlitz mit Küssen zu bedecken, verzweifelnd, da sie sie nicht wieder erwecken konnten — er war fassungslos wie ein Kind. „Herr von Frohn, Herr von Frohn! Kamerad Frohn!“ rief es hinter ihm - zugleich erscholl in der Nähe ein donnernder Jubelruf aus mehr als tausend Kehlen. Die Gefangenen aus der großen Kasematte, die unten rechts von dem Sudenburger Stadttor im Fürstenwall lag, debouchierten eben, über 1000 Mann stark, weiter oben in die Straße hinein. Sie hatten auf die Signalschüsse Frohns sofort ihr vorbereitetes Befreiungswerk begonnen, ihre Kasematte forciert, ihre Wachen entwaffnet und kamen jetzt, auf ihrem Wege alles aufgreifend, was ihnen als Waffe dienen konnte, um nach Frohns Weisung auf den Marktplatz zu marschieren. Ihr Jubel begrüßte die aus der Sternschanze hervorgedrungenen Kameraden. Von diesen letzteren umringten jetzt mehrere Frohn um ihn zu mahnen, nicht zurückzubleiben; er wurde angerufen, am Arme gefaßt, aus seinem Schmerze fortgerissen in die stürmischen Szenen, die seiner harrten. Er mußte sich losreißen von dem Anblick des sterbenden Mädchens der ihm das Herz brach; der Strom, dessen Dämme er selbst durchbrochen, erfaßte ihn und schleuderte ihn weiter. Die Offiziere, die sich bei den befreiten Gefangenen befanden, kamen herbei und umringten ihn, schüttelten seine Hände bestürmten ihn mit Fragen, er mußte seinen Platz an der Spitze wieder einnehmen, verbindern, daß die Leute nicht in die Häuser stürzten, um zu plündern, mußte Abteilungen absenden, um sich bestimmter Punkte auf den Wällen, derer Lage er den Offizieren beschrieb, und der Festungsgeschütze, die dort aufgefahren waren, zu bemächtigen; wohl niemals ist es einem Menschen weniger vergönnt gewesen einem persönlichen Schmerze nachzuhangen als in diesem Augenblick unserm armen Dragonerleutnant Joseph von Frohn. Man rückte vorwärts den Breiten Weg hinunter. Unterdes hatte die Kunde von dem Alarm sich durch die ganze Stadt verbreitet. In der Ferne ertönte der Generalmarsch. Es tönten Hörnersignale. Die erschrockenen Einwohner rannten hin und her über die Gasse vor der rasch weiterdringenden Kolonne, deren erste Glieder, bestehend aus denen, welche Musketen erbeutet hatten, Frohn zu geschlossenen Zügen batte antreten lassen. Es wurde rechts abgeschwenkt, über den Domhof, dem Marktplatz zu. Schon hatte man diesen erreicht, als aus einer Seitengasse der Major du jour herangesprengt kam. Er sah sich plötzlich von allen Seiten umringt. Frohn eilte auf ihn zu. „Herr Obristwachtmeister," schrie er ihm entgegen, „ich bitte um Ihren Degen und um Ihr Pferd!" Der Offizier starrte ihn an, als ob er vor Ueberraschung seine Sinne verloren habe, - zwanzig kräftige Fäuste hatten ihm im nächsten Augenblick das Absteigen erleichtert und den Degen entwunden. Frohn schwang sich in den leer gewordenen Sattel und ritt seinem Gewalthaufen vor. Auf dem Markplatz wurde aus allen Kräften der Generalmarsch geschlagen. Soldaten der Besatzung liefen mit ihren Musketen herbei, der großen Hauptwache zu. Die Mannschaft war aufgestellt und lud eben die Gewehre. An den zu beiden Seiten aufgefahrenen Regimentsgeschützen waren Kanoniere beschäftigt. Frohn rückte vor. Seine Truppe erfüllte bald die ganze eine Seite des Marktplatzes. „Herr Obristwachtmeister," wandte er sich an den gefangenen Offizier, „hier kann ich Sie als Parlamentär gebrauchen. Stellen Sie dem Offizier auf der Wache vor, daß er über kaum fünfzig Mann zu gebieten hat und ich über mehr als hundert, die mit Musketen und Munition versehen sind, und ein paar tausend, die Knittel, Stangen, Wagenhölzer und andre Waffen führen. Ich werde sofort die Hauptwache umringen lassen und keinen Pardon geben, wenn der Leutnant seine Leute nicht augenblicklich die Waffen strecken läßt. Auch werde ich den Tambour niederschießen lassen, wenn er noch einen Schlag auf sein Kalbfell führt. Wenn die Leute die Waffen gestreckt haben, können sie sich zerstreuen und in ihre Quartiere oder in ihre Heimat begeben. Es wird ihnen nichts geschehen, bei meinem Wort!" Der Obristwacbtmeister übernahm den Auftrag und näherte sich der Wache, indem er dem Tambour winkte, mit seinem Trommeln einzuhalten. Frohn ließ seine Leute aufmarschieren, so daß sie eine Front, so breit wie der Platz es erlaubte, bildeten. Der Major du jour sprach jetzt mit dem Wachthabenden Offizier. Es war ein lebhaftes Hin und Wider — der Offizier schien andrer Ansicht als der Major —, da trat ein Ereignis ein, das ihn schnell umstimmte. Von jenseits des Platzes donnerte ein lautes: „Vivat die Kaiserin!" und eine Kolonne, mindestens 1500 Mann stark, marschierte aus einer auf den Marktplatz mündenden Straße auf, dem Haufen Frohns gerade gegenüber; die beiden Truppen begrüßten sich mit dem Schwenken ihrer Mützen und donnerndem Jauchzen. Dem Offizier von der Wache mußte jeder Gedanke an Widerstand schwinden. Er befahl seinen Leuten, die Gewehre zusammenzustellen. Frohn sprengte hinzu. „Auch die Patronentaschen und die Seitengewehre lassen Sie ablegen!" rief er herrisch dem Leutnant zu. Dieser wendete ihm zähneknirschend den Rücken, brach seinen Degen mit dem Fuß entzwei und warf die Stücke vor die Hufe von Frohns Pferd. Der letztere ließ ihn ruhig abziehen, während die Wachmannschaft seine Befehle vollzog. Er ließ dann die Waffen von Leuten der eben angekommenen Kolonne aufnehmen, durch diese die Wache besetzen, sandte ein starkes Detachement nach dem Brücktor, um zu rekognoszieren, ob dieses von der Abteilung der Gefangenen, die früher die Anweisung dazu bekommen, besetzt sei, und versammelte nun die Offiziere der Truppen zu einem Kriegsrat um sich. Sie umringten ihn inmitten des Marktplatzes in dichter Gruppe, und diese verstärkte sich in jedem Augenblick durch diejenigen Offiziere, die ihr Ehrenwort gegeben hatten, nicht fliehen zu wollen, und deshalb frei in der Stadt wohnten, jetzt aber alarmiert von allen Seiten herbeieilten. Die Meldung, daß das Brücktor besetzt sei, wurde gebracht. „Dann, meine Herren." rief Frohn über die Menge fort, „dann, meine Herren, ist Magdeburg unser! Nur unsre Kameraden von der Zitadelle scheinen ihre Aufgabe nicht gelöst zu haben — ich höre dort drüben immer noch den Generalmarsch schlagen. Wir werden ihnen zu Hilfe kommen müssen — die Zitadelle wird uns allen Waffen liefern, denn dort ist das Zeughaus!" Er gab dann mehreren der Offiziere Befehle, mit denen sie zu den Leuten eilten, deren Kasematten sie geteilt hatten, ordnete die frei gebliebenen Offiziere einzelnen Abteilungen zu, sprengte von dem einen Haufen zum andern, und so gelang es ihm bald, seine ganze Mannschaft in vier starke Bataillone zu teilen, deren jedes eins der gewonnenen Regimentsgeschütze erhielt. Die mit Musketen Bewaffneten bildeten die vordersten Glieder. Eine halbe Stunde später marschierte die Kriegsmacht der Elbbrücke zu. Frohn ritt ihr voraus über die Brücke. Zu seiner Seite ging der preußische Major du jour, den er bei sich behalten hatte, um ihn als Parlamentär zu gebrauchen. Vor der Zitadelle angekommen, sah er bald, daß in Beziehung auf diese sein Anschlag mißglückt sei. Das Tor war verschlossen, die Zugbrücken waren aufgezogen, auf den Wällen waren Artilleristen neben den Wallgeschützen mit brennenden Lunten bereit, die Feinde zu empfangen. Frohn sandte sofort seinen Parlamentär vor, um die Zitadelle am Feuern zu verhindern. Der Major eilte, ein weißes Tuch schwenkend, an das Tor und rief die Wach oben auf der Plattform desselben an. Nach etwa fünf Minuten Harrens erschien ein Stabsoffizier an der Brüstung. Die Unterredung währte ziemlich lange, Frohn sprengte ungeduldig über das Glacis, um daran teilzunehmen. „Mit wem habe ich die Ehre?“ fragte der Stabsoffizier von der Plattform herunter. „Ich bin der kaiserlich königliche Oberleutnant von Frohn. Chef der Truppen, die in diesem Augenblick die Festung Magdeburg im Namen ihrer Kaiserin in Besitz genommen haben." „Davon ist mir, dem königlich preußischen Oberst Reichmann, Kommandanten der Zitadelle und Stadt Magdeburg nichts bekannt," rief der Offizier zurück. „Das meuterische Gesindel, das dort aus der Stadt hervordringen zu wollen scheint, werde ich sogleich niederkartätschen lassen!" „Sie verkennen Ihre Lage, mein Herr Oberst," antwortete Frohn kühl, „die Stadt und die Sternschanze sind in unsrer Hand, und bei der geringen Garnison der Zitadelle wäre es sehr töricht von Ihnen, dieselbe verteidigen zu wollen. Die Gefangenen in derselben . . ." „Haben allerdings ausbrechen wollen,“ schrie der Oberst zurück, „wir haben sie aber bereits zur Räson gebracht und völlig unschädlich gemacht, darauf verlassen sie sich!“ „Wenn Sie die Zitadelle nicht sofort auf Gnade und Ungnade ergeben,“ rief Frohn zur Antwort, „so lasse ich alle Geschütze zusammenfahren und damit vom Fürstenwall herunter Bresche in Ihre Zitadelle schießen; dann lasse ich stürmen und alles massakrieren, was darin ist.“ „Versuchen Sie es!“ entgegnete der Oberst. „Auf Ihren Kopf kommen die Folgen." versetzte Frohn. „Ich werde meine Leute nicht abhalten können, die Stadt zu plündern . . ." „Daran kann ich Sie nicht hindern. Tun Sie, was Sie verantworten zu können glauben. Ich werde meine Schuldigkeit tun." Mit diesen Worten zog sich der Oberst zurück.
Frohn begab sich zu den Seinigen zurück. Er befahl zunächst, die Mannschaften in den Straßen gedeckte Aufstellungen nehmen zu lassen. Dann wurde abermals Kriegsrat gehalten. Frohn war entschieden für den Angriff auf die Zitadelle. Er glaubte, daß ein Sturm, ohne weiteres unternommen, glücken müsse. Sollte er mißlingen, so konnte die Zitadelle einem Feuer aus den ihre Flanken bestreichenden Geschützen der nächsten Festungswerke, namentlich des Fürstenwalls, nicht vierundzwanzig Stunden lang widerstehen. Dann war man Meister der Hauptfestung des Reiches, ihres Zeughauses, ihrer unermeßlichen Vorräte – es war ein Gewinn, der dem ganzen Krieg eine andere Richtung geben konnte! Aber Frohn wurde überstimmt. Die Stabsoffiziere, ein paar alte Generalmajors, die unter den Gefangenen waren, bemächtigten sich bald des Wortes und der Leitung der Debatten. Frohn sah, daß man ihm, dem jungen Oberleutnant, nicht lange die Anführerschaft lassen werde; daß der Geist, der sich unter den Kameraden geltend machte, ihn sehr bald zwingen werde, seinen jungen Oberbefehl der verjährten Autorität Seiner Exzellenz dem kaiserlich königlichen österreichischen Feldmarschalleutnant Baron Zopf zu überlassen. Die Meinungen neigten sich entschieden einer Kapitulation über eine friedliche Auseinandersetzung zu. Die Bedingungen derselben wurden dann endlich in einem der nächsten ansehnlichen Bürgerhäuser niedergesetzt; sie lauteten: „Der Gouverneur von Magdeburg läßt sofort sämtliche noch in der Zitadelle befindlichen kaiserlich königlichen Kriegsgefangenen in Freiheit setzen. Die durch ihr gegebenes Ehrenwort gebundenen kaiserlichen Offiziere werden dieses Ehrenwortes enthoben. Die kaiserlichen Truppen quartieren sich bis morgen in der Stadt ein und werden von der Bürgerschaft verpflegt. Sie halten so lange sämtliche von ihnen eingenommenen Posten und Werke besetzt. Es werden ihnen die Bestände der Festungskasse abgeliefert und unter sie als Reisezehrung verteilt. Dagegen werden sie alles andre königliche und Privateigentum respektieren. Die Gefangenen Freiherr von der Trenck und Wechsler Isaak Heymann werden sofort in Freiheit gesetzt und nehmen ihren Weg nach Österreich unter dem Schutze der Kolonne. Das königliche Gouvernement der Festung Magdeburg verspricht auf Ehrenwort, daß keine Untersuchung und Verfolgung derjenigen Einwohner stattfinden soll, die bei der stattgefundenen Befreiung der kaiserlich königlichen Kriegsgefangenen etwa mitgewirkt haben können.“ Der Gefangene Major du jour wurde mit diesem Entwurf in die Zitadelle gesandt. Ein österreichischer Offizier wurde beauftragt, ihn zu begleiten. Bis zur Rückkehr der beiden Herren wurden Anstalten getroffen, die Truppe zu verpflegen. Ein Teil erhielt die Erlaubnis, sich selbst in den Bürgerhäusern einzuquartieren, ein anderer sollte auf einigen freien Plätzen biwakieren. Ein Offizier wurde mit einem Detachement auf das Rathaus gesandt, um die nötigen Requisitionen zu machen. Nach einer halben Stunde kamen beide Parlamentäre zurück. Die Bedingungen der Kapitulation waren angenommen bis auf zwei Artikel. Die Geldbestände der Gouvernementskasse auszuliefern wurde entschieden abgelehnt. Die Befreiung des Freiherrn von der Trenck wurde ebenfalls abgelehnt. Es wurde dagegen angeführt, daß Trenck auf einem anderen Wege seine Freiheit und die Gnade des Königs zu gewinnen beschlossen habe, und daß er allbereits in einer milderen Haft sich auf der Zitadelle befinde. Frohn hatte nicht gerade Gründe, sich um des Freiherrn willen zu ereifern, und beruhigte sich bei dieser Erklärung. Die Debatte über den anderen Punkt wurde in dem Kriegsrat lebhafter geführt; aber da man einmal am Nachgeben war, tat man es auch hierin und begnügte sich mit der Forderung, daß morgen vor dem Abmarsch und nach Uebergabe der eingenommenen Wachen und Posten jedem abziehenden Oesterreicher ein Taler Reisegeld ausbezahlt werde. Die letztere Bedingung wurde von den Festungsbehörden genehmigt. Als die Kapitulation abgeschlossen war, unterzeichnete Frohn sie zuerst — dann bat er den ältesten Generalmajor, statt seiner das Commando zu übernehmen; der alte Herr willigte begierig ein, um einen so reglementwidrigen Stand der Dinge, daß ein Oberleutnant über Stabsoffiziere kommandiere und in Gegenwart hoher Vorgesetzter die Prärogative des Verdienstes habe, nicht länger fortdauern zu lassen. Die Verpflegung und Ablösung der Truppen auf den einzelnen besetzten Posten, die Bestimmung der Marschroute für die Heimreise am andern Tage, die natürlich in getrennten Kolonnen angetreten werden mußte — alles das überließ jetzt Frohn den Uebrigen. Er selbst hatte an Anderes zu denken. Er begab sich mit denen, welche die unterschriebene Kapitulation in die Zitadelle brachten, in diese letztere. Am Tor wartete er, bis nach einer Viertelstunde Harrens eine jubelnde, jauchzende wilde Menge von Männern daraus hervorströmte, ein buntes Durcheinander von den verschiedensten Uniformtrachten, Physiognomien und Gestalten, der blonde, kräftige Tiroler neben dem schmalen, zigeunerhaften Serbier nnd Bosniaken, der rumänische Reiter neben dem bärtigen, von den letzten Fetzen seines roten Mantels bedeckten slavonischen Panduren. Es waren die Gefangenen der Zitadelle, die nach dem Inhalt der Kapitulation in Freiheit gesetzt wurden. Frohn ließ sie an sich vorüberziehen; er drückte sich zur Seite, statt sich in den Zug derer zu mischen, welche ihm ihre Freiheit verdankten, und die ihn auf den Händen getragen hätten. Es verlangte ihn nicht, von ihnen zu erfahren, wie sie am Morgen seine Anweisungen befolgt, wodurch ihre Versuche loszubrechen gescheitert seien ... er sah nur voll Ungeduld, daß der lange Zug nicht enden wolle. Endlich waren die Letzten vorüber; ein einzelner Mann, der nicht zu ihnen gehörte, der sie offenbar scheu vermied und einen weiten Raum zwischen sich und dem Letzten gelaßen hatte, ein Mann, dessen großer dreieckiger Hut eine jüdische Physiognomie beschattete, folgte ihnen. Zu ihm trat Frohn. „Isaak Heymann?" sagte er. Der Jude hob sein blaßes, abgezehrtes Gesicht auf. „Wer ruft Isaak Heymann - Was soll geschehen mit dem armen Isaak, der ist errettet aus seinem Kerker, aus den Händen der Gojim, und weiß nicht, ob es ist ein Traum wie der Traum Jakob's, oder ob es ist die Wahrheit und die Wirklichkeit?" »Kommt mit mir, Isaak,“ versetzte Frohn, »ich will für Euch sorgen!" »Der Herr will für mich sorgen? Wer ist der Herr, daß er will sorgen für einen armen Juden, den er nicht kennt, und den die Mizraimiten haben gebrandmarkt mit Schande, obwohl er ist unschuldig wie Joseph, da seine Brüder ihn verkauften . . .“ „Laßt Euer altes Testament jetzt und kommt mit mir, Heymann, ich habe mit Euch zu reden." „Ich will nicht kommen mit irgend Jemand," sagte Isaak, „ich will gehen zu . . .“ Er endete nicht und verschluckte das letzte Wort, indem er einen furchtsamen Seitenblick auf Frohn warf. „Ihr wollt gehen zu Eurer Tochter," sagte dieser — „gerade von ihr wollte ich mit Euch reden!" Damit nahm Frohn den Alten unter den Arm und schritt mit ihm durch das Tor der Zitadelle, über die Elbbrücke der Stadt zu. Was der österreichische Leutnant auf diesem Wege zu dem armen Juden geredet — brauchen wir es zu erzählen? Es reicht hin, wenn wir dem Leser ein dunkles und ergreifendes Bild zeigen, in welchem wir die beiden Männer nach wenigen Stunden wieder finden. Eine große, niedrige, dürftig meublirte Kammer eines Judenhauses der Stadt Magdeburg bildet den Rahmen desselben. In der Mitte, unter einer angezündeten dreiarmigen Hängelampe von blankem Messing, auf Kissen, die auf den flachen Boden gelegt sind, ruht ein Frauenbild, die Züge wachsbleich, die Hände gefaltet. Zu ihren Füßen kniet ein Mann mit grauem Haar, Gebete murmelnd, dann leise mit sich selber sprechend, dann plötzlich laut aufschluchzend und sich niederwerfend, daß seine Stirn den Boden berührt, seine Arme die Füße der Leiche umschlingen. Ihm gegenüber, zu Häupten der Todten, steht eine hohe, breite Männergestalt, die Arme über der Brust verschränkt, aber das Gesicht zu Boden gewendet, so daß der Strahl der Lampe sie nicht berühren und den Ausdruck tötlichen Schmerzes nicht zeigen, nicht in der Träne glänzen kann, die an den Wimpern des Mannes hängt.
Beide Männer sind am andern Tage, in der Frühe des Morgens, Reisegefährten. Sie schreiten zusammen der Grenze Sachsens zu, wo sie sich trennen wollen, Isaak Heymann, um Verwandte in Polen aufzusuchen, Joseph von Frohn, um zu seinem Regiment in Böhmen zurückzukehren. Beide schreiten den dichten Haufen voraus, welche nach wenig Stunden durch dieselbe Gegend marschiren werden, in getrennten Schwärmen, die Einen nach links, die Andern nach rechts hinaus durch die Gegend fouragirend und marodirend, ein Schrecken der Dörfer, durch welche ihr Weg führt. Und so schwinden sie aus unseren Augen.... hinter den Wäldern und Hügeln des Sachsenlandes, so wie das Gedächtniß an sie, an Frohn, den mutigen Befreier seiner gefangenen Kameraden aus den Büchern der Geschichte geschwunden ist.*)
*) In einzelnen historischen Werken finden sich nur flüchtige Andeutungen an die erzählten Tatsachen. So z. B in Trencks Lebensbeschreibung, dessen Unzuverlässigkeit schon aus seinen Zahlenangaben erhellt. Er gibt die Anzahl der Gefangenen auf 16,000, der Besatzung bald auf 1500, bald auf 900 Mann an und behauptet, das Unternehmen Frohn's sei gescheitert, ohne recht zu motivieren, weshalb. Ueber den Erfolg Frohns vergleiche von Stramberg, Rhein. Antiq. II. 1. S. 534, wo auch das Schweigen der zeitgenössischen Geschichtsquellen erklärt wird.
Zur Problematik der durch den Zitadellenbau (und die Aufhöhung des linken Elbufers durch den Eisenbahnbau) verursachten Erschwernisse für den Schiffsverkehr füge ich drei Bilder an.
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Quelle der bearbeiteten Bilder ist die Veröffentlichung der Bundesanstalt für Gewässerkunde - "Historische Abflussdaten für die Elbe – Ableitung von Tagesabflüssen am Pegel Magdeburg-Strombrücke im Zeitraum von 1727 bis 1890" (Mitteilungen Nr. 34 vom Februar 2020)