„Ein Wahnsinn. Wie war das nur möglich?“ fragten sich die Menschen einst nach dem Zweiten Weltkrieg und gingen unmittelbar zur Tagesordnung über. Der harte Alltag verlangte volle Aufmerksamkeit. Aber die Erinnerungen sind nicht verblasst und die tiefen Gefühle nicht vergessen. Damit sie für heutige und kommende Generationen nachfühlbar sind, wurden Barleber Zeitzeugen befragt. Das Erinnern war für sie schwierig, denn unvorstellbar Grausames geschah in den zwölf Jahren des Dritten Reiches, das tausend Jahre bestehen wollte. Menschen wurden gequält und starben, trauerten um Ehepartner und Geliebte, um Kinder und manchmal um die ganze Familie. Verloren gingen Hab und Gut und Heimat. In dieser Zeit aber wurde auch geliebt, gelacht und sich des Lebens gefreut. Die Menschen hatten sich eingerichtet in der Zeit, in diesem Leben. Am Ende des Wahnsinns mussten fast alle ums Überleben kämpfen. Der Schock saß tief und gleichzeitig war die Freude groß, das alles einigermaßen überstanden zu haben. Barleben hatte Glück und mehr als das: weil es nördlich von Magdeburg liegt, bis 1944/45 ein Zentrum der Rüstungsindustrie, weil sich keine kriegswichtigen Betriebe direkt im Ort befanden, weil die Briketten-, Braunkohle-, Benzin-AG und Barleben zum Schutz vor alliierten Bomben oftmals eingenebelt wurden und damit von der Bildfläche verschwanden, weil – so furchtbar es klingt – die alliierten Piloten ihre vorgegebenen Ziele überwiegend sicher trafen, weil die Wetterlage oftmals mit den Barlebern war und weil einige von ihnen rechtzeitig die Lage erkannten, Flakstellungen räumten, in letzter Minute die Panzersperren beseitigten und Ruhe bewahrten. Drum blieb Barleben von schweren Zerstörungen und vielen Todesopfern verschont, nicht aber von Trauer und Leid. Die Zeitzeugen haben über zum teil sehr persönlicher Erlebnisse berichtet. Nur so war die vorliegende Arbeit möglich. Allen Interviewten und Heike Hildebrandt vom Heimatverein gebührt allergrößter Dank.
Von Olympia bis zu den ersten Bombern über Barleben
„Barleben – das Musterdorf und die „sportgestählte Jugend“
1936. Die Autobahn, der Mittellandkanal und das Schiffshebewerk Rothensee befanden sich in bau, große Betriebe entstanden in und um Magdeburg. Fast täglich änderte sich das Bild der Landschaft, so rasant wuchsen Schornsteine, Silos und Werkhallen in die Höhe. Die Menschen hatten Arbeit und Einkommen. In Barleben war Anfang 1936 die Straße von Magdeburg über die heutige A2 gerade fertig und dem Verkehr übergeben worden. Nur einige Restarbeiten waren noch zu erledigen. Siedlungshäuser wurden neu gebaut. Schließlich kamen Kinder zur Welt, nachdem die Regierung den jungen Leuten 1.000 Reichsmark Kredit gewährte und mit jeder Geburt jeweils 250 Reichsmark vom Darlehen getilgt waren. Deutschland baute auf, die Naziregierung bereitete den Krieg vor, zunächst aber die Olympischen Spiele. Vom 6. bis 16. Februar 1936 fanden in Garmisch-Patenkirchen die IV. Olympischen Winterspiele statt. Das Großereignis aber sollten die XI. Sommerspiele werden, die vom 1. bis 16. August 1936 in Berlin stattfanden. Die Nazis zielten auf einen grandiosen Prestigegewinn. Vor aller Welt wollten sie beweisen, zu welchen Leistungen die Deutschen fähig sind. In ganz Deutschland putzten sich die Dörfer und Städte heraus. Jede Straße, jede Anlage und jedes Haus sollten ordentlich und gepflegt aussehen. Es wurde in jedem Gau – das war in der Nazizeit eine regionale Gliederung, ähnlich einem Bezirk – ein Musterdorf gewählt. In Magdeburg-Anhalt kürte man Barleben zum Siegerdorf. Eigens waren die Hauptstraße neu gestaltet, große Blumenrabatten angelegt und Bäume gepflanzt worden. Zur Olympiade hatte sich jedes Haus im Dorf noch einmal extra herausgeputzt. Überall wehten Fahnen. Wie die „Mitteldeutsche Zeitung“ am 11. August 1936 überschwänglich berichtete, flatterten in Barleben „Siegerfahnen sogar an jedem Dachkämmerlein“. Schließlich kam ausländischer Besuch, eine Trachtengruppe aus Italien, die herzlich begrüßt wurde von den Einwohnern.
Die deutschen waren wieder wer
Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Versailler Vertrag, den viele in Deutschland als ungerecht empfanden, waren die Deutschen plötzlich wieder anerkannt. Olympia wurde zu einem „Politikspektakel mit sportlicher Tarnkappe“ (P. Filzmeyer, Universität Klagenfurt). Dank großzügiger Förderung und intensiven Trainings schnitten die 406 Sportler des Deutschen Reiches hervorragend ab. 33 Gold-, 26 Silber- und 30 Bronzemedaillen bedeuteten den Sieg in der Nationenwertung vor den USA, Ungarn und Italien. Sportliche junge Menschen, die sich an großen Vorbildern orientierten, waren gefragt. So wurde Barleben 1938 „um eine Sportanlage reicher.“ Der RC Falke schuf sich am Anger eine Radrennbahn. Über den Beginn dieser Gemeinschaftsarbeit und ein erstes Rennen vom 1. Mai 1938 wurde in der „Mitteldeutschen Zeitung“ berichtet: „Die Forderung unserer Zeit nach einer gesunden und sportgestählten Jugend, ist in Barleben nicht ungehört verhallt… Vorgesehen ist eine 200-Meter-Bahn, ähnlich der in Biederitz, allerdings in etwas länglicher Form.“ Probehalber wurde die begonnene bahn schon mal getestet. „jedenfalls ist durch die Initiative des RC Falke und das verständnisvolle Entgegenkommen des Bürgermeisters ein bedeutender Schritt zur Förderung des Radsports in Barleben getan worden, den sich manche Stadt und Gemeinde zum Vorbild nehmen kann“, so die Presse damals. Bürgermeister war der Bauer Heinrich Keindorf, nicht verwandt mit dem jetzigen Bürgermeister der Einheitsgemeinde Barleben, Franz-Ullrich Keindorff.
Appelle, Parolen und das ganz alltägliche Leben
Deutsche Truppen hatten im Morgengrauen des 1. September 1939 Polen überfallen. Als der „totale Krieg“ zurückkam nach Deutschland, waren seit dessen Beginn nicht einmal fünf Jahre vergangen. Am 20. August 1944 setzte ein russischer Spähtrupp östlich von Schillfelde über den Grenzfluss Scheschuppe in Ostpreußen. Der Feind hatte deutsches Gebiet erreicht. Die zeit der Siege war vorüber, keine euphorischen Schlagzeilen und Berichte mehr von deutschen Eroberungen, von Bomben über London und massenhaften Abschüssen feindlicher Flugzeuge. Ab 1940 die ersten von ihnen ins Reichsgebiet vordrangen, warnte die Propaganda in der „Magdeburger Zeitung“ eindringlich davor, „den dümmsten Gerüchten nachzulaufen“. „Das deutsche Volk werde in diesem Nervenkrieg nicht unterliegen wie 1918…“ Vielmehr wurde es eingeschworen, sein Schicksal „von neuem auf den Schlachtfeldern“ zu entscheiden. Gleichzeitig informierte die Presse darüber, was zu tun sei, wenn das Haus von einer Bombe getroffen wird, welche Beihilfen es für Bombengeschädigte gibt, warum Inventarverzeichnisse anzulegen seien und weshalb Mütter und Kinder aufs Land gehörten. „Wer entbehrlich sei, soll abreisen“, hieß es im November 1943. Die Kinderlandverschickung begann. Auch sollte jeder seine sieben „Sachen“ besser aufs Land senden. In Annoncen suchten Menschen nach einer Transportgelegenheit für ihren Hausstand unter dem Motto: Wer hat Platz auf seinen Lkw?
Anmerkung #1 " Briketten-, Braunkohle-, Benzin-AG" sowas gabs nicht!!! Gemeint ist die BRABAG. und die hieß Braunkohle-Benzin AG. Briketts sind da nicht hergestellt oder verarbeitet worden. Die stellten Sythetisches Flugzeugbenzin als Rüstungsbetrieb her. Hatte schon 2005 bei der Autorin darauf hingewiesen. Teddy, wenn du aus der Broschüre weiter zitierst, da sind noch einige Knüller drin. ZB alle Flak-Kaliber sind falsch. Schreibe die da nicht ab. Ersetze sie durch die richtigen...
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„Erzeugungsschlacht“ und „Kampf dem Verderb“ Zunehmend breiteren Raum in der Berichterstattung nahm zu jener Zeit die Versorgung mit Lebensmitteln ein. Auf die Jahre „des gigantischen Ringens um die Zukunft und Sicherheit des deutschen Volkes“ wurde auch die Kreisbauernschaft Wolmirstedt-Magdeburg eingeschworen. Gleichzeitig wurde der Umgang mit verschiedenen Produkten propagiert und gemahnt: „Nahrungsmittel sind kein Kleintierfutter und Wildfelle gehören auf keinen Fall in den Mülleimer!“ Neue Zigarettenschachteln gab es plötzlich nur im Tausch gegen alte. Leere Flaschen mussten mit Korken abgegeben werden. Besonders eindringlich aber war die Warnung vor Schwarzschlachtungen. Sie galten als Verbrechen. Die Zeitung titelte: „Schwarzschlächter sind Verräter am Volk“. Wer davon Kenntnis erlangte, solle das Sondergericht benachrichtigen, hieß es. 1944 wurde die Versorgung der Bevölkerung gar zur „Erzeugungsschlacht“ erklärt. Die Existenzangst hatte alle erfasst. Lange schon galt: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Den Brotkorb hielten die Nazis seit 1933 in den Händen. Von ihren Drohungen haben sich die meisten Menschen einschüchtern lassen. Indessen ging auf dem Feld des Krieges eine Schlacht nach der anderen verloren. Immer mehr Todesannoncen gefallener Soldaten und bei Luftangriffen umgekommener Menschen füllten die Anzeigenseiten. „Hart traf uns die Nachricht…“, so begann meist der Text und endete mit der Hoffnung, dass der innigstgeliebte Mann, Herzensjunge und Bruder in der Fremde auf einem Heldenfriedhof beigesetzt wurde. „Das Leben verwirkt“ aber hatte laut Zeitungsberichten der „Volksverhetzer“, dessen Ziel es gewesen sei, den „Glauben an den Endsieg zu erschüttern“. Für gestohlenes Luftschutzgepäck wurde ein „unverbesserlicher Dieb“ ebenfalls zum Tode verurteilt. Und für Tauschgeschäfte drohten Zuchthaus, Geldstrafe und die Einziehung aller durch den Tauschhandel erlangten Gegenstände. Ein Kaufmann aus Magdeburg – berichtete 1943 die Zeitung –hatte Obst und Eier, Käse, Wurst, Fische und Geflügel von seinen Kunden angenommen und sich im Gegenzug erkenntlich gezeigt mit Strümpfen, Blusen und Stoffen. Das alles unter günstiger Anrechnung von Punkten oder weit über das vorgesehene Kontingent hinaus. Das sei eine „schwere Schädigung der Allgemeinheit“ stellte das Gericht fest. „Wer bei einem Angriff geplündert hat und erwischt wurde, der wurde auf der Stelle erschossen“, erinnert sich der Barleber Dietrich Zachau und bestätigt die hohen Strafen auf Tauschhandel während der Kriegsjahre. Eine Parole jener Zeit war: „Kampf dem Verderb!“
Der Krieg schränkte das Leben zunehmend ein Wer zu Weihnachten 1943 und über den Jahreswechsel hinaus verreisen wollte, musste dies genehmigen lassen. Tabak gab es zum Fest auf Sonderzuteilung. Und was damals unter „Biete/Suche“ in der Zeitung zum Tausch angeboten wurde, ist heute noch bezeichnend: Ein halbes Dutzend reinliche Geschirrtücher und ein Tischtuch wurden überlassen gegen einen modernen Puppenwagen, Tapeten wurden gegen eine Petroleumlampe getauscht, Pelzmantel gegen Korkkinderwagen, Umhängetasche gegen Puppe. „Deutschland kann nicht durch Bluffs vernebelt werden“, titelte die „Magdeburger Zeitung“, und gleich wurden ein paar Seiten weite händeringend Leute für die Feuerwehrreserve gesucht. „Schilauf“ war plötzlich kriegswichtig für die Landesverteidigung. Rund um Magdeburg entstand eine Flakabteilung nach der anderen und „Musterbehelfsheime“ wurden geplant und gebaut. Reichsorganisationsleiter Dr. Ley klärt die Menschen in großen Zeitungsartikeln über den Bau von Behelfsheimen auf. Die ersten Häuser wurden in der zweiten Hälfte des Monats Oktober 1943 bezogen. „Das ganze Häuschen wird durch einen Herd geheizt. Gestaltung und Anordnung von Fenster und Tür, die Raumhöhe, der Herd der Schornstein usw. müssen gründlichst überlegt werden. Da weder Kanalisation noch Installation vorgesehen sind, bedarf die Standortwahl wegen der Wasserversorgung und die Abortanlage wegen der hygienischen Erfordernisse besonderer Überlegungen. Um die räumliche Beschränktheit zu mildern, erhält jedes Behelfsheim mindestes 200 Quadratmeter Garten, gewissermaßen das grüne Zimmer. Leider können wir aus Rücksicht auf die Ernährung nicht viel mehr an Bodenfläche geben“: („Magdeburger Zeitung“)
In Erwartung von Luftangriffen „Zum Schutz der Hauptstadt Berlin aber auch anderer wichtiger militärischen Anlagen und Rüstungszentren war der Luftgau III (Magdeburger Raum, Verf.) im Vergleich mit anderen Luftgauen sehr gut mit schweren (12,8cm; 10,5cm; 8,8cm), mittleren (3,7 cm;) und leichten (2 cm) Flakbatterien bestückt.“(Manfred Wille: „Dann färbte sich der Himmel blutrot…“) Im Norden Magdeburgs galt es, vor allem die Braunkohle- Benzin AG. (Brabag) und die Zinkhütte der Junkerswerke vor Angriffen zu schützen. Flakbatterien von jeweils vier bis sechs Geschützen standen auf dem Weinberg bei Hohenwarthe, bei Barleben, Wolmirstedt-Elbeu und im Westen am Umspannwerk Diesdorf. Auch im Süden und Osten waren Flakstellungen errichtet. Jene in Barleben stand nördlich der Bahnlinie, etwa da, wo sich heute die neue Siedlung befindet. Nicht weit davon entfernt in Richtung Meitzendorf war die „Schein-Brabag“ errichtet worden, ein mit Masten bestücktes und beleuchtetes Gelände, das feindliche Flugzeuge zum Bombenabwurf verleiten sollte. Was aber nie funktioniert haben soll, berichten Zeitzeugen. Anni Beauer erinnert sich, dass die Betriebsräume der Schokoladenfabrik Ravia-Spoer an jedem Feierabend die Akten zusammengepackt und in den Luftschutzkeller gebracht werden mussten. Anni Brauer hatte im Büro der dort befindlichen Siemens-Motorenwerkstatt gearbeitet.
Im Visier: die Brabag Das Gebäude der Braunkohle-Benzin AG (Brabag) sah einst aus wie „Klein-Leuna“, wie das Chemiezentrum bei halle-Merseburg. Runde Silos standen neben flachen Werkhallen, Lagerschuppen und hohe Verlade- und Abfüllgebäuden. Dazwischen durchzogen Stränge von dicken Stahlrohren das Gelände mit Eisenbahnanschluss. Die Brabag befand sich südöstlich von Barleben, am ehemaligen Schwerin-Krosigk-Damm, dem heutigen August-Bebel-Damm. Sicherlich haben auch Barleber in dem Unternehmen gearbeitet, das 1934 auf „direkte Veranlassung des Führers“ gegründet worden war. Schon im Frühjahr 1936 wurde der Richtkranz in Form einer Glocke mit bunten Bändern gehisst. Hunderte Menschen nahmen daran teil. NS-Fahnen wehten und am großen Silo hingen Girlanden. Die in Deutschland führenden und mittleren Braunkohleunternehmen hatten sich zusammengeschlossen, um einen der wichtigsten Treibstofferzeuger des Landes zu bilden. Die Brabag stellte synthetische Treibstoffe aus Braunkohle her, produzierte synthetischen Kautschuk sowie Schmieröle, Treib- und Heizgas. Ziel von NSDAP und Reichswehr war es , Deutschland vor der Verflechtung mit den Welthandel abzuschirmen und aufzurüsten. Die jährliche Gesamtproduktion der Brabag stieg 1943 auf knapp eine Millionen Tonnen flüssige Produkte. Im Jahr 1944 produzierte das Unternehmen ca. 12% des deutschen Treibstoffaufkommens. Allerdings war der Betrieb –wie Göring sagte –„blödsinnig aufgebaut, weil unzureichend getarnt. Der Reichsmarschall verlangte die Einrichtung von „Hydrierfestungen durch Flak, Jagdschutz und Nebel“.(Tobias Bütow und Franka Bindernagel: „Ein KZ in der Nachbarschaft“)
Barleben im Nebel und ein KZ nebenan Neben den Flakstellungen zum Schutz der Brabag gab es bei Barleben eine Funkstation, außerdem eine Station mit Fesselballons, die im Volksmund „Gummi-Flak“ genannt wurde, sowie eine Station mit unzähligen Nebelfässern. „Die wurden bei Alarm auf den Feldern ringsum geöffnet“, erinnert sich Horst Blume, „dann war Barleben unsichtbar. Weil aber auf dem Sportplatz so eine riesige Pappel stand, die über dem Nebel herauslugte, wurde die kurzerhand umgesägt“. Die Vernebelungsstation war am südlichen Ende Barlebens aufgebaut worden, unweit des Breitenwegs 87, wo sich heute die Kinderkrippe befindet. Dem Elternhaus von Manfred Stieger gegenüber befand sich eine Ziegelei und davor die Vernebelungsstation. Betrieben wurde sie von einer eigenständige Truppe. Ab dem 16. Juli 1940 bis zum 18. April 1945 erlebte Magdeburg –zum Teil größeren Unterbrechungen -455 Luftalarme. Jedes Mal löste das Heulen der Sirenen deren durchdringende Ton, größte Ängste aus. Die ersten Bomben fielen in der Nacht vom 21. zum 22. August 1940. Gingen die anfänglichen Bombenangriffe noch glimpflich ab, so wurden diese zum Ende Krieges immer heftiger. Der erste schwere Angriff fand am 21. Januar 1944 statt. An jenem Tag war das eigentliche Ziel lange durch Scheinmanöver der Flieger verschleiert worden. Was dann auf Magdeburg zuflog, solle nach dem Willen der Alliierten den „Tausend-Bomber-Angriff“ von Köln weit übertreffen. Jedoch verhinderte der Wind in dieser Nacht Schlimmes. „Weihnachtsbäume“ –vom Master-Bomber gesetzte Leuchtzeichen oder Aufhellungskörper –trieben nach Osten und Südosten ab. So schlugen die Bomben vor allem in den Elbwiesen ein, trafen Schönebeck, Gommern, Königsborn und weitere 20 Städte und Dörfer. Es gab etwa 120 Tote und 400 Verletzte. Zirka 1.000 Menschen verloren ihre Wohnungen. Dieser Angriff wäre ohne die Windböen weit schlimmer für Magdeburg ausgegangen als jener, der ein Jahr später folgen sollte. Aber diese erste Bombennacht 1944 verfehlte nicht ihre Wirkung auf die Menschen. Ein Übriges erreichten Nachrichten von der Front. Dagegen posaunten Propaganda uns Presse: Nur dem vorbildlichen Zusammenwirkens von Flak und Nachtjägern sei es zu danken gewesen, dass die britische Luftwaffe ihren konzentrierten Angriff auf die Stadt nicht wie geplant fliegen konnte. 61 Bomber seien abgeschossen worden, wurde in der Zeitung berichtet. Die Brabag in Magdeburg-Rothensee traf es unter anderem am 28. Mai 1944. Kurz danach verlegte die SS etwa 900 Häftlinge, vor allem ungarische Juden aus dem KZ Buchenwald nach Magdeburg. In unmittelbarer Nähe der Brabag, in der Heinrichsberger Straße, wurde das KZ-Außenlager „Magda“ eingerichtet. Es wuchs auf über 2.000 Insassen an. Sie mussten nach den Luftangriffen die Schäden beseitigen, Trümmer beräumen sowie Schienen und Straßen reparieren. Die Niederlagen an allen Fronten und die Verluste durch Bombardements führten zur verstärkten Suche nach Arbeitskräften in den besetzten gebieten sowie in KZs und Internierungslagern. „Wenn die Brabag bombardiert wurde, haben die bloß noch mit halber Kraft gearbeitet“, sagt Dieter Zachau, „aber sobald alles repariert war, wussten wir schon, das dauert nicht mehr lange, höchstens ein oder zwei Tage, dann sind die Flieger wieder da und schmeißen das wieder kaputt. Also die Spionage hat funktioniert.“ Bei der Brabag mussten Zwangsarbeiter, aber auch ganz normale Arbeiter, wie Ernst Prillop aus Zielitz, Luftschutzbunker bauen. Unter welchen Bedingungen die KZler schufteten, das schildert Prillop 1965 in der „Volksstimme“: „Das ganze Arbeitskommando war eingeteilt in Kolonnen zu je 50 Mann. Zu jeder Kolonne gehörten zwei SS-Männer und ein Scharführer als Bewachung. Ferner war bei jeder Kolonne ein Kapo. Die Kapos waren Deutsche, die langjährige Zuchthausstrafen (BVer) zu verbüßen hatten. Je grausamer sie ihre Mithäftlinge behandelten, umso besser konnten sie leben. Jeder SS-Mann hatte neben seiner Schusswaffe noch eine ein Meter lange Dachlatte bei sich, die er zum Schlagen benutzte.“ Trotz Verbotes sprachen die Brabag-Arbeiter mit den Häftlingen und erfuhren so, dass sie aus der Umgebung von Budapest stammten. Es waren alle Bevölkerungsschichten vertreten, vom Arbeiter bis zum hoch dekorierten Offizier. Alle waren jüdischer Abstammung, schrieb Ernst Prillop. Er erlebte mit, dass selbst Kranke zur Arbeit geschleppt und jeden Abend drei bis vier Tote auf provisorischen Bahren aus dem Werk ins Lager getragen wurden. „Die Bande tut ihnen wohl leid“, hatte ein SS-Mann ihn einmal gefragt, „sagen sie bloß ja, dann haben sie morgen denselben Anzug an.“ Wie Thomas Bütow und Franka Bindernagel in ihrem Buch „Ein KZ in der Nachbarschaft“ schreiben, starben 550 Gefangene nachweislich in Magdeburg, bevor die Übrigen Anfang 1945 wieder zurück verlegt wurden nach Buchenwald oder Bergen-Belsen. Die zielgerichteten Angriffe gegen Großunternehmen sorgten für Unruhe unter der Brabag-Belegschaft. Sie durfte ab Mai 1944 das Betriebsgelände verlassen, wenn Angriffe angekündigt waren. Nachdem am 20. Juni 1944 trotz Flächenbombardements keine Todesopfer zu beklagen waren, haben auch andere Magdeburger Rüstungsunternehmen gestattet, dass ihre Beschäftigten die Betriebe verlassen. Nach dem Bombardement vom 20. Juni aber ruhte die Produktion von Benzin bis Mitte November 1944. Die Alliierten flogen bis Anfang Januar 1945 keine Angriffe mehr auf die Brabag. Erst am 3. März 1945 wurden ihre Anlagen erneut fast völlig zerstört. Nach dem Krieg fieberhaft instandgesetzt, lief die Produktion am 6. November 1945 wieder an. Doch schon im folgenden Jahr wurde der Betrieb auf Anweisung der Sowjetischen Militäradministration stillgelegt
„Ich bin gesund und lebe in Auschwitz“ Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Barleben Aus ihren Häusern und Kirchen wurden sie geholt, von der Arbeit und von der Straße weg verschleppt. In den von Deutschen besetzten Gebieten und in den Lagern wurde nach massenhaftem Einsatz gesucht für die zur Wehrmacht gezogenen Männer. Rund acht Millionen Menschen wurden nach Deutschland deportiert, um die Wirtschaft aufrecht zu erhalten. Zwangsarbeiter standen nicht nur an den Werkbänken und beräumten zerstörten Anlagen, sie arbeiteten ebenso in Handwerksbetrieben, in den Ställen und auf den Äckern. Auch in Barleben. Zum Anger hin auf der rechten Straßenseite, in Verlängerung zur Burgenser Straße, stand einst eine Baracke, in der waren französische Kriegsgefangene untergebracht. Die Arbeitgeber holten „ihren“ Franzosen morgens ab und brachten ihn abends wieder zurück. Mitunter übernahmen sogar die Kinder diese Aufgabe. Frau Rose, eine Köchin aus dem Ort, bereitete in der Waschküche für die Lagerinsassen das Essen zu. Es musste eigens von den Bauern für „ihre“ kriegsgefangenen Landarbeiter abgeholt werden. Wie bei Familie Knochenmuß. „Da musste man sich schon in acht nehmen. Ich hatte zwei Kinder und mein Mann war im Krieg“, erzählt die heute über 90jährige Hertha Knochenmuß. Der französische Gefangene auf ihrem Hof hieß Andre und stammte aus der Normandie, einem von Landwirtschaft geprägten Landstrich im Norden Frankreichs. „Der Andre kannte sich aus, konnte mit allen Maschinen umgehen, jeden Pflug einstellen.“ Ein anderes Gefangenenlager befand sich in Barleben auf dem Grundstück Angerstraße 7 bei Familie Lüder. Die Stallungen des Vierseitenhofes war ausgebaut worden, um Platz zu haben für etwa 15 bis 20 Gefangene. Anfangs waren es Franzosen, später kamen Russen. „Der vorhandene Hofraum war zur Hälfte durch eine Mauer geteilt und mit Stacheldraht versehen worden“, erinnert sich Ursel Fuhr, „die Wachmannschaft bestand anfangs aus jüngeren Soldaten. Sie wurden später ausgetauscht durch ältere, zum Teil kriegsversehrte Soldaten. Zwischen den Kriegsgefangenen, meiner Mutter und mir bestand keinesfalls ein feindliches Verhältnis, wie es eigentlich hätte sein sollen. Ich erinnere mich, dass in unserer Waschküche für die Gefangenen gekocht wurde. Wenn sie von den Bauern ins Lager zurück gebracht wurden, mussten Kartoffeln und Brennmaterial aus dem Keller geholt werden. Dieser befand sich unter der Scheune. Wir nannten ihn Hofkeller. Elektrisches Licht gab es dort nicht. Meiner Mutter tat es leid, dass die Gefangenen im Dunkeln hinab steigen mussten, also hat sie Kerzen aufgestellt, damit die ,armen Jungens `- wie sie sagte- gucken konnten. Bei Fliegeralarm durften die Kriegsgefangenen das Lager nicht verlassen, sie mussten auf dem Hof des Gefangenenlagers bleiben. Die Wachmannschaft hat alles scharf überwacht.“ Im Dorf arbeiteten außerdem Frauen aus Russland, der Ukraine und Polen. Fünf russische Mädchen beschäftigte zum Beispiel Familie Zachau. Auf dem Feld schnitten sie den Rübensamen mit einem umgearbeiteten Säbel ab. Eines Tages flüchteten sie damit. Wer zur Flucht verholfen hatte, konnten die Nazis nachvollziehen. Maria die Gehilfin, kam ins KZ Auschwitz und schrieb im Dezember 1944 einen Brief an die Zachaus „…Ich bin gesund und lebe in der Stadt Auschwitz, heute schon ein Jahr, wie ich sehe euch nicht mehr…“ Danach hat die Familie nichts mehr von Maria gehört. Im Dorf ganz besonders beliebt war ein französischer Kriegsgefangener, der beim Friseur beschäftigt war. Sein Können muss so außerordentlich gewesen sein, denn die Barleber Männer nahmen durchaus zwei bis drei Stunden Wartezeit in Kauf, um von diesem Figaro frisiert zu werden. Ebenfalls Zwangsarbeiter beschäftigte die Ziegelei von Barleben. Kaum waren im Ort die Amerikaner eingerückt, sammelten sich die Franzosen auf Wallstabs Hof und wurden zurücktransportiert in ihre Heimat
Aus allen Rohren – die Flakstellungen von Barleben
In Barleben existierten keine kriegswichtigen Betriebe. Da war lediglich die Firma Ravia-Spoer, die Schokoladenfabrik mit Werkstatt, wo für Siemens kleine Motore reparier wurden. Im Krieg war die Schokoladenfabrik zeitweilig eine Produktionsstätte für Kohlenanzünder. Der wurde aus leeren Hülsen von Maiskolben hergestellt. „Unsere ganze Scheune war voller Maiskolben“, erinnert sich Ursula Fuhr. Auf dem Dach des Büros stand ein Flakgeschütz, und im Verwaltungsgebäude soll die „Abteilung Nord“ ihren Sitz gehabt haben. Von dort aus wurden die einzelnen Stellungen auf dem Weinberg von Hohenwarthe, nordwestlich von Barleben und die Ebendorfer Stellung koordiniert, berichtet Kurt Plock. Alle waren –wie schon erwähnt –hauptsächlich zum Schutz der Brabag eingesetzt. Gegenüber von Eavia-Spoer, am Frtiedhof, stand eine Unterkunftsbaracke für die Bedienung. Nicht weit davon entfernt(heute Autohaus), befand sich eine weitere Baracke, in der LKW’s für die Wehrmacht repariert wurden. Außerdem stand eine Baracke in der Ebendorfer Straße. Dort gab es zusätzlich einen Unterstand, in den die Menschen bei Alarm flüchten konnten. Im September 1939 begann eine Vorausabteilung mit dem Bau der Geschützstellungen bei Barleben. Beim ersten Fliegeralarm auf Magdeburg im Juli 1940 war die Stellung erstmals gefordert. Je länger der Krieg dauerte, um so rarer wurden „echte“ Soldaten als Stellungsbesatzung und um so jünger wurden die Kanoniere in den Flakstellungen. An der Heimatfront kamen zum Ende des Krieges sogar 14-und 15jährige Jungs zum Einsatz. Aus jeder Mittelschule und vom Gymnasium wurden 1944 Jungen bis zum Geburtsjahrgang 1928 eingezogen. „Wir waren damals mit 15 Jahren pflichtgemäß bei der HJ (Hitlerjugend) und wurden eingezogen zum Flakdienst als Luftwaffenhelfer“, berichtet Horst Frase, „da wurde keiner gefragt, sondern einfach nur gesagt: ,So, jetzt müsst Ihr zur Flak!“ Was für ihn und seinen Klassenkamerad Eberhard Juhl folgte, lief ab, wie beim Militär. „Es gab eine Einberufung und anschließend wurden wir untersucht, ob wir tauglich sind.“ Am 13. Januar 1944 rückten die Jungs ein, um in Hohenwarthe ausgebildet zu werden. Für die Vierling- und die 2-cm-Vierling-Flak. Der Auftrag lautete: Schutz des Schiffshebewerkes und des Mittellandkanals. „Damals war ja schon der Anfang gemacht für die Kanalbrücke, das Wasser stand bis zur Trennwand“, erklärte Frase, „wäre da ein Geschoss reingeflogen, wäre alles Wasser rausgelaufen. Schon 1943 – im Jahr vor ihrem Einsatz – sind die Schüler regelmäßig ausgebildet worden. Vier Wochen lang fiel dann die Schule aus. Ausbildung am Geschütz und Schießlehre standen auf dem Programm. „Natürlich wurden wir auch in der Handhabung von Handfeuerwaffen unterwiesen“, sagte Frase, „weil bei der 8,8 in Barleben Flakhelfer fehlten wurden wir im April 1944 dorthin versetzt. Aber jeden zweiten Tag kam der Lehrer zu uns, und es fand Schule statt. Montags, Mittwochs, Freitags, Sonnabends mussten wir nach Magdeburg zum Physik- und Chemieunterricht, weil der in der Flakstellung nicht erteilt werden konnte. In dieser Zeit war dann nur eine Notbesatzung vor Ort.“ Gab es während des Unterrichts Alarm, stürzten die Schüler über Tische und Bänke hinaus an die Geschütze. Jeder hatte seine Funktion. „Eberhard Juhl war verantwortlich für die Seitenfunktion und ich für die Höhe, das heißt, ich musste das Geschütz hoch drehen.“ Sie hätten das ganze nicht so ernst genommen, gestehen die beiden. Sie fühlten sich als Schüler und als Soldat. „Wenn ich so zurückdenke, haben wir keine Nacht richtig geschlafen und der Dienst ging weiter“, erzählt Horst Frase, „also von wegen schlafen legen, weil wir die Nacht am Geschütz gesessen hatten.“ Im Bunker haben wir ausgeharrt wenn nicht gerade geschossen wurde. Und Alarm war häufig, schließlich flogen die Alliierten über das Gebiet nördlich von Magdeburg die Angriffe auf Berlin. Am Dannfeld befand sich damals die Geschützstaffel 1. Im Abstand von 800 Metern stand eine Messtafel, wo die Werte für die Geschütze errechnet wurden. Noch einmal 800 Meter entfern nach Norden war die nächste Batterie errichtet worden. Diese sogenannte Doppelbatterie bestand aus insgesamt 16 Geschützen. „Wir hatten Stahlhelme auf und Stöpsel in den Ohren, wenn geschossen wurde. Aufgeregt waren wir nur anfangs, später nicht mehr. Wie wussten ja, wie alles funktioniert. Angst hatten wir nicht“, sagte Frase, der heute keineswegs begeistert klingen möchte, so als sähe er den Einsatz als heroische Tat. „Man hat das aus Pflichtgefühl heraus getan. Dass wir uns geehrt gefühlt hätten, kann ich nicht sagen.“ Die Barleber Stellung war selten Ziel eines Angriffs. „Einmal, es muss September oder Oktober 1944 gewesen sein, da flogen zwischen unseren Geschützen und der Messtafel die Erdklumpen.“ Ein andermal kam unweit der Flakstellung eine Luftmine herunter, ganz in der Nähe der Blockstelle 2, dem Bahnwärterhäuschen an der Meitzendorfer Straße. Ein großer Gittermast war anschließend verdreht wie ein Korkenzieher. Und das Haus, wo die Familie Götze und Buchwald wohnten, völlig dem Erdboden gleichgemacht worden. Bis ins Jahr 1945 hinein waren Horst Frase und Eberhard Juhl in der Flakstellung, erlebten sie, wie alliierte Flugzeuge ihre Angriffe auf Berlin flogen und im Bogen über Burg zurückkehrten. Mit zehn Jahren nicht dienstverpflichtet, wohl aber neugierig, war Erich Wehner. Er erinnert sich gut daran, wie er herumstromerte und steht’s gucken musste, was geschehen war. So besuchte er eines Tages die große Flakstellung außerhalb des Ortes. „Bei einem Tag der Wehrmacht muss es gewesen sein, als wir dort hin durften. Es gab eine Variete-Veranstaltung und Fotos wurden gemacht. Die von einem hohen Erdwall umgebene Anlage war sehr ordentlich.“ Auf dem Gelände standen mehrere Baracken. „Eine, wo es Essen gab, eine Schreibstube, dann eine größere Baracke, an der - WUG - dran stand. Waffen und Geräte hieß das. Wir sagten Wasser und Gas. Und dann waren da vielleicht drei oder vier Unterkunftsbaracken“, berichtet Willy Pollex. 1944 kam er mit 17 Jahren und seiner gesamten Klasse von der Mittelschule in Magdeburg nach Barleben. Willy hatte Glück, er stammte als einziger der etwa 25 Schüler aus Barleben und durfte deshalb öfter nach Hause. „Ich hatte so eine
Deutschlandkarte, die in Planquadrate eingeteilt war. Wenn dann im Radio der Anflug von feindlichen Bombern gemeldet wurde, habe ich nachgeschaut, ob die hier reinfliegen. Bei Feindalarm bin ich dann hoch in die Stellung gefahren.“ Dort ging es längst nicht so ordentlich zu, wie Erich Wehner annahm. Zumindest nicht, was das Essen für die Mannschaft betraf, so der ehemalige K3 und Ladekanonier Pollex. „Zum Abendbrot musste immer einer los, um mit einem großen Tablett das Essen zu holen. Warf man die Wurst auf den Boden, dann hüpfte diese einen Meter hoch in die Hand. Und es gab süße Suppe aus der Aluminiumkanne. Oft genug ist es passiert, wir wollten gerade essen, da gab es Fliegeralarm. Alle raus, Stahlhelm auf, Uniform an. Als wir wiederkamen, war das Essen weg. Da sahen wir nur noch die Ratten vom Tisch rannten, die hatten alles aufgefressen.“ In der Flakstellung waren Franzosen und sogenannte Hilfswillige eingesetzt, ältere Männer, die nicht mehr kriegsverwendungsfähig waren. Auch hilfswillige Russen sollen Munition geschleppt haben. Da Willy Pollex und seine Mitschüler Englisch, Französisch und ein bisschen Italienisch sprachen, nahmen sie mit den Franzosen Kontakt auf. „Die Kanone war etwas vertieft eingesetzt und am Rand war so eine Holzbank. Da saßen wir dann und erzählten miteinander. Manchmal kam der Schütze heran und sagte: -Bitte keine Verbrüderungen!- Der hat das aber nicht so ernst gemeint, das musste er sagen“. Damals als Schuljunge habe er sich nicht allzu viel Gedanken um die ganze Sache gemacht, gesteht Pollex. „Einer, der heute lebt, kann sich da nicht reindenken, wie das damals war. Wer abgehauen ist, wurde erschossen, dem drohte die Todesstrafe und das wussten wir alle. Man musste mitmachen, dass man nicht auffiel.“ Solange er in der Flakstellung war, soll dort keiner ums Leben gekommen sein. Obwohl oft aus allen Rohren geschossen wurde, ließen die Bomber diese Ziele meist „links“ liegen. Einmal allerdings hatte es schon Entwarnung gegeben, da ist doch noch ein Flugzeug gekommen und hat eine Luftmine gesetzt. Möglicherweise um die Flakstellung zu treffen. Aber das misslang gründlich. Die Mine landete in einer Sandkuhle. Wenn in Barleben Bomben niedergingen, dann oft, weil sie von den Flugzeugen zu früh ausgeklingt wurden. Gedacht waren die Geschosse für die Brabag, nimmt Bärbel Lüder an. „Sie kamen aus Richtung Hannover. Einmal haben sie in der Angerstraße unweit des heutigen Reiterhofs eine Bombe fallen lassen. Es war im Sommer, die Leute waren gerade beim Dreschen. Das Pferd war so verängstigt , dass es beinah unter die Dreschmaschine gestürmt wäre.“ Eine weitere Bombe ging am 9. Februar 1942 in der Birkenstraße herunter und tötete Willy Ferchland, der –so ist es im „Offenen Buch“ der evangelischen Kirchengemeinde nachzulesen –wie auch Willi Kohn mit einem sogenannten politischen Begräbnis beigesetzt worden war. „Aus Versehen“ –sagen Zeitzeugen –ging am 16. August 1944 eine Bombe in der Kirchstraße nieder und zerstörte die gesamte Rückwand eines Hauses. Es sah nachher aus wie eine Puppenstube. Ein Mann, der seine Mittagsruhe gehalten hatte und nicht in den Keller gegangen war, überlebte und war völlig perplex über die fehlende Rückwand. Jene Familie aber, die im Keller Schutz gesucht hatte, kam grausam ums Leben: drei Erwachsene und zwei Kinder.
Martha Neugebauer geb. Kratzenberg geboren am 14.2.1893 Hermine Eiecke geb. Herms geboren am 26.3.1895 Emmi Lentge geb. Riecke geboren am 13.3.1920 Hilmar Lentge geboren am 3.6.1943 Margitta Lentge geboren am 19.9.1939
Die ehemalige Lehrerin Barbara Coester erinnert sich, dass die Verstorbenen auf dem Friedhof feierlich beigesetzt wurden. Drei Särge waren aufgebahrt, die Kinder hatte man zu den Erwachsenen gelegt. Alles war geschmückt und der Rektor –ein NSDAP-Genosse – hielt eine flammende Rede in seiner goldbraunen Partei-Uniform. Weil er diese auch in der Schule trug, wurde er dort „der Goldfasan“ genannt. Im Volksmund nannte man die Nazi-Kleidung auch „Mostrich-Uniform“. Als Mostrich bezeichnete man damals den Senf. Bei einem weiteren Bombenabwurf ging in der Gartensiedlung von Barleben ein Sprengsatz nieder. Frau Erna Warnstadt verlor ihre Unterkunft und wurde anderweitig untergebracht. Wenn Flugzeuge abstürzten, dann hauptsächlich deshalb, weil sie im Luftkampf oder von Flakstellungen getroffen worden waren. „Ob die nun lebend runter gekommen sind und wie viele in dem Flugzeug saßen“, sagte Hertha Knochenmuß, „weiß ich nicht. Auf unserem Acker, wo das Flugzeug zerschellt ist, habe ich ein Kochgeschirr gefunden und so ein Besteck, Gabel, Löffel, die man zusammenklappen konnte.“ Ein anderes Mal ist in der Wolmirstedter Chaussee ein Flugzeug abgestürzt. „Da waren zwei dunkelhäutige Soldaten drin. Das weiß ich, weil ich gerade vom Acker gekommen bin. Es war Erntezeit.“ Damals sei alles sofort abgesperrt worden, die Leute mussten zügig vorbeigehen, niemand durfte stehen bleiben. „Ich habe gesehen, dass die beiden Flieger verletzt waren, ob sie noch lebten, konnte ich nicht erkennen. Aber ich nahm es an.“ Andere berichten, dass Pfingsten 1944 ein Flugzeug abstürzte, das sich regelrecht in den Acker gebohrt hatte, mit 20 Bomben an Bord. Gut die Hälfte explodierte auf dem Acker in der Backhausbreite. Die Besatzung des Fliegers war mit Fallschirm abgesprungen, der Pilot starb im brennenden Wrack. Die Barleber Feuerwehr war zum Einsatz in die Feldmark gefahren und fing die abgesprungenen Soldaten ein. Einmal jedoch hatte die Flak versehentlich ein deutsches Flugzeug, eine Me 110(Messerschmidt) Doppelrumpf abgeschossen. Und das kam so, berichtet Willy Pollex: „Die Piloten wurden immer über Funk angesprochen, aber dieser Pilot hatte sich nicht gemeldet. Na ja, wer sich nicht meldet, ist ein Feind. Hin zur Kanone. Inzwischen war der Jagdflieger schon recht tief. Es war leicht. Ein paar Salven
Bums. Der Pilot war rechtzeitig abgesprungen. Hinterher erfuhren wir, dass die Elektronik ausgefallen war. Die hatte im Einsatz was abbekommen, da ging nichts mehr, kein Funk. Nur die Motoren liefen noch. Und als er hier bei uns vorbeigekommen ist, da hat es ihn erwischt.“ Die Me 110 war am Sandloch abgestürzt. Übersät mit Bombentrichtern waren einst der Sportplatz und benachbarte Flächen, erinnert sich Dieter Hohoff. Seiner Familie gehörte dieses Stück Feldmark. Viele Bomber haben sich dort ihrer Last entledigt, um noch bis zum Standort zurückzukommen. „Einmal beobachtete ich, wie in einiger Entfernung ein Flugzeug runterging. Wie ein Blatt Silberpapier fiel es zur Erde“, sagt Hohoff, „wenn die 8,8-Flak geschossen hat, schepperte das Geschirr im Schrank. Einmal ist unsere Familie beim Rübenverziehen unter Beschuss geraten. Da hieß es schnell aufsitzen auf den Leiterwagen und im Galopp zurück ins Dorf.“
Laut Angaben von „Mc Adams org.“ stürzte am 28. Mai 1944 ein Kampfflugzeug mit dem Namen „Luscions Lucy“ bei Barleben ab. Pilot war Lt. Lucius G. Lacy. Von der zehnköpfigen Besatzung kamen drei zu Tode, sieben gingen in Kriegsgefangenschaft. Ein weiteres, jedoch namenloses Flugzeug stürzte am 5. August 1944 infolge Flak-Treffer bei Magdeburg ab. Pilot war 2.Lt. Bert L. Scott. Zwei Besatzungsmitglieder starben, sieben wurden gefangen genommen.
Post von der Front
„Ostern, den 31.5.44 Liebe Luci, Menne und Claus! Habe Euren Brief mit großer Freude erhalten, wofür ich mich herzlichst bedanke. Wie ich daraus ersehe, geht es Euch allen noch gut, vor allem gesundheitlich, was mich ja am meisten freut. Auch von mir kann ich nur das allerbeste schreiben. Über das Wetter ist sich Petrus noch nicht einig. Wir hatten schon prächtige Tage, wo ich schon gebadet habe, aber seit Himmelfahrt ist es Essig. Heute ist es direkt kalt wie im April, auch sehr oft Regen. Bei Euch ist wohl dasselbe Wetter. Wie habt Ihr Pfingsten verlebt? Hoffentlich ruhig. Bei uns war es den Umständen entsprechend auch ruhig. Die Flieger sind immer noch sehr oft bei Euch, na, so lange sie drüber weg fliegen, schadet es nicht. Anita schrieb mir, dass Rudi zu hause ist. Das ist ja fein. Da hat Mama wenigstens Ablenkung. Es ist nur schade, dass nicht einmal zwei zusammentreffen. Nun soll es für heute genug sein, bleibt alle hübsch gesund und munter. Es grüßt Euch herzlichst Euer Ewald.“
Viel mehr als über das Wetter durften die Landser von der Front nicht berichten.
Barleber Rangen und der Krieg Von lebensbedrohlichen Abenteuern bis zu Fanfarenklängen
Mehr als 5.000 Einwohner zählte Barleben in den letzten beiden Kriegsjahren. Die Kinderzahl war groß wegen der gestiegenen Geburtenzahlen und der vielen Evakuierten im Ort. Sie kamen aus Magdeburg sowie aus Vriesen und Mönchengladbach. Ein großes Problem für die Schule. Fünfzig bis sechzig Kunder saßen mitunter in einer Klasse. Und es mangelte an Lehrer. Auch sie waren zum Kriegsdienst eingezogen, so dass eine Lehrerin in der Regel zwei Klassen gleichzeitig betreuen mussten. Auf die Schüler wartete manch unangenehme „Abwechslung“ in dieser zeit. Nach einem Angriff hieß es oftmals: Brandplätzchen sammeln. „Von der Schule mussten wir ausrücken mit Eimern und Feuerzangen und auf den Feldern Brandplätzchen einsammeln. Die waren abgeworfen worden“, sagt Horst Blume, „und wir sammelten sie ein, damit das Getreide auf den Feldern nicht abbrannte. Schien die Sonne lange genug, dann explodierten die Brandplätzchen.“ Gefährlich waren auch Füllhalter, die vom Himmel fielen. Sie konnten ebenfalls explodieren. Weshalb die Mädchen und Jungen in der Schule öfter durchsucht werden. „Eines Tages war außerhalb des Dorfes ein Bombenteppich gelegt worden. Es war so ein wunderschöner Tag. Aber als wir aus dem Keller kamen, konnten wir die Sonne kaum noch sehen vor Staub. In den Bombentrichtern, die später voll Wasser standen, habe ich das Schwimmen erlernt“, erzählt Erich Wehner. Die Hitlerjugend war für die Heranwachsenden eine Jugendorganisation, der die meisten damals gern angehören wollten. Als Begründung hört man heute: Weil da viel gemeinsam unternommen wurde. „In der Kirchstraße“, berichtet Hernert Koch, „hat die HJ mit Platzpatronen Straßenkampf gespielt.“ Die Trommler des Fanfarenzuges übten in der Schinderwuhne. An einem Sonntag wollte Herbert Koch gerade in die Kirche gehen, da flog ein Tiefflieger so niedrig über Barleben, dass alle Türen aufsprangen. Was heute seltsam anmutet: Für die Jungen war es ein besonderes Ereignis, wenn hinter der Bahnlinie nach Stendal Flugzeuge abstürzten, war aus den Erzählungen zu erfahren. „Gegenüber von unserem haus befand sich das Ziegeleigelände“, berichtet Manfred Stieger, „ort war Munition eingelagert, Granaten, Panzerfäuste usw. Wir haben als HJler mitgeholfen, die Granaten zu schleppen. Meine Eltern waren sehr besorgt, aber wir haben als Kinder die Gefahr nicht erkannt. Außerdem waren wir hundertprozentig überzeugt, dass wir den Krieg gewinnen.“ Einige –darunter Eberhard
Juhl und Günter Brauer –hingen abends mit dem Ohr am Radioapparat und hörten „The lions has wings“, einen britischen Sender, bei dem in deutscher Sprache diskutiert wurde, unter anderem über die Verblendung der Deutschen und die Arbeitslosigkeit. So mancher Pimpf ärgerte sich damals, dass er zwar helfen und für den Krieg üben konnte, , aber niemand von ihnen nach 21:00Uhr noch auf der Straße sein durfte. Nur alle vier Wochen gab es Kino. Als es jedoch Ende März 1945 in die Osterferien ging, sollte die Schule sobald nicht wieder stattfinden. Erst am 1. Oktober 1945 begann der Unterricht und alles war neu. Bilder des Führers waren aus den Klassenräumen verschwunden. Der Hitlergruß war auch nicht mehr gefragt. Die klassen waren noch voller und es fehlten weit mehr Lehrer als je zuvor, weil etliche aus dem Schuldienst entlassen worden waren. Heute sagen die Schulkinder von einst einmütig: „Lieber trocken Brot als Krieg!“
Zusammenrücken und teilen Evakuierte aus Magdeburg fanden Quartier in Barleben
13 Minenbomben, 456 Sprengbomben, 70.000 Stabbrandbomben, 1.256 Phosphorbrandbomben, 73Flüssigkeitsbomben und 81 Phosphorkanister waren beim ersten Angriff auf Magdeburg am 21. Januar 1944 abgeworfen worden. Und den Magdeburgern blieb da noch das Schrecklichste erspart. Nach dem ersten Tagesangriff am 22. Februar wurde die Evakuierung von Frauen und Kindern forciert. Die Stadt bekam keinerlei Hilfe von oberster Stelle für ihre „Aktion Magdeburg“. In der Gemeinde Barleben kamen sowohl Magdeburger unter als auch Ausgebombte aus dem Rheinland. Über 200 Evakuierte lebten Anfang 1945 in Barleben. „Mit Handwagen, die Kleidung verrußt, ganz dreckig im Gesicht und an den Händen, so strömten die Leute aus Magdeburg heraus“, erinnert sich Barbara Coester, „es war ein furchtbarer Anblick. Wer nicht wusste, wohin, der ging erst einmal in die Gaststätte - Brauner Hirsch -. Von dort erfolgte die Verteilung auf die einzelnen Höfe und Häuser.“ Glück im Unglück hatte, wer bei Verwandtschaft in Barleben unterkam. Hertha Knochenmuß aus der Kirchstraße nahm ihre Angehörigen ganz selbstverständlich auf. „Ich weiß gar nicht mehr genau, aber so 20 bis 25 Leute waren immer um den Tisch. Meine Tante aus Rothensee waren hier, meine Schwägerin und mei Schwager, von ihm die Mutter und dann eine Frau Kress mit ihren zwei Kindern aus dem Rheinland. Und wir selbst waren ja auch eine große Familie. Da stand jeden Tag ein riesiger Pott auf dem Tisch. Für das Essen habe ich gesorgt.“ Und –wie schon erwähnt –die Gefangenen sßen bei der Bäuerin mit am Tisch. „Man hat so manches heimlich gemacht. Die Gefangenen haben ja auch gut gearbeitet. Das Essen für sie musste ich täglich vom Anger holen, wo die Baracken standen. Manchmal aber hat es schon aus der Kanne gestunken.“ Während der französische Gefangene täglich zurück ins Lager musste, lebte der polnische Zwangsarbeiter auf dem Hof. Außerdem halfen dort zwei Mädchen aus Polen und der Ukraine, und es kamen Frauen aus Barleben auf dem 80 Morgen großen Acker arbeiten. Verschiedene Sorten Kohl, Möhren, Zwiebeln, Kartoffeln, und Radieschen wurden angebaut. Im Stall standen Kühe und Schweine. Die „Magdeburger Heimat“ berichtete im November 1943 unter dem Titel „Aus der Großstadt ins dörfliche Quartier“ von umquartierten Magdeburger Müttern. Der Artikel erzählt von Quartiergebern und Umquartierten. In Kriegszeiten müsse jeder einen Pflock zurückstecken, schrieb der unbekannte Autor. Trotz Trennung vom Manne“, von der Wohnung und von so mancher Gewohnheit sei festzustellen
„Die Frauen sind zufrieden. Ihre Gastgeber geben sich Mühe, ihnen alle Erleichterungen am Aufenthaltsort zu schaffen. Wo heute noch der Notbehelf eine gewisse Rolle spielen scheint, da wird morgen schon das aus der Volksgemeinschaft geborene Zusammengehörigkeitsgefühl die letzten Schwierigkeiten überwunden haben. Man ist ja nicht ganz allein.“
Eine junge Frau vom Knochenhauerufer – dem „Knattergebirge“ nahe der Johanniskirche – wurde besucht. Ihre drei kleinen Kinder hielten sie den ganzen Tag auf trab, berichtete die Frau. Sie haben einen warmen Raum und nachts ihre Ruhe, das sei viel wert. Eine Schiffsfrau entbehrte ebenfalls nicht viel. Das Alleinsein wäre wie gewohnt. Sie alle nähmen das Leben so wie es ist und freuten sich auf den Frühling. Nur am Rande wurden Probleme angedeutet, ansonsten fügten sich die Mütter mit Siegesgewissheit in ihr Schicksal. Zumindest vor dem Berichterstatter
Es war taghell in der Nacht Als Magdeburg in Schutt und Asche versank
Wer es bis zum 16. Januar 1945 geschafft hatte, außerhalb Magdeburgs unterzukommen, der konnte sich glücklich schätzen. Denn an jenem Abend erlebte die Elbstadt den wohl schrecklichsten Angriff ihrer Geschichte. 90% der Altstadt gingen in den Phosphorflammen unter. Am Vormittag hatte es 13 Alarme seit Jahresbeginn gegeben. Diesmal waren die meteorlogischen Voraussetzungen leider günstig und die Gegenwehr schwach. Die Krupp-Grussohn-Werke, die Junkerswerke und das umliegende Industriegelände wurden zum Ziel des Angriffs. Und die Menschen dachten, das sei es für den Tag gewesen. Doch sie sollten sich irren.
Um 21:23Uhr überflogen mehrere britische Verbände die Stadt. Erst dann gab es Fliegeralarm. Viel zu spät. Die Katastrophe war verheerend. Und nördlich davon in Barleben? Da war es mitten in der Nacht taghell und warm, erinnert sich Barbara Coester und Dietrich Zachau. Er hatte aus dem Dachfenster gelugt und zur nahen Stadt hinüber geschaut. „Es war so hell, man hätte Zeitung lesen können.“ Die Menschen saßen in den Kellern und bangten. Barleben blieb wieder einmal verschont. Es grenzt schon an ein Wunder, dass der Ort mit seinen 5.000 Einwohnern vollkommen heil blieb. Wer damals von Magdeburg nach Barleben kam, glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Juliane Seehafer sagt: „Alles war so ruhig und friedlich. Es stand alles, alles was heile, nichts, gar nichts kaputt. Es war sehr unwirklich. Meine Verwandten, die mich aufnahmen, hatten zu essen, wir hatten ein Bett, wir hatten einen Tisch, rundherum war alles heil. Das war ein vollkommen heiles Dorf.“ Und das war nicht einfach nur Glückssache.
„Das ist unser Verderb, wenn der Zug hier stehen bleibt“ Gefangenentransporte und tote Häftlinge neben den Gleisen
Der April des Jahres 1945 war ungewöhnlich warm, zeitig blühten die Obstbäume. Auch der 10.April 1945 war ein sonniger Tag. Trotz der guten Wetterlage glaubte nun kaum noch jemand an den „Endsieg“. Der Nachschub für die Front rollte längst nicht mehr. Wohl aber Züge mit KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern. In zwei, drei Tagen sollten die Amerikaner das Gebiet zwischen Tangermünde und Barleben besetzen. Ludwig Majewski erinnert sich zwanzig Jahre nach Kriegsende in der „Wolmirstedter Volkszeitung“ an den 10.April 1945, an jenen Dienstag, als er beobachtete, wie vom Verschiebebahnhof Rothensee aus sich ein „eigenartiger Transport, Frauen verschiedener Nationen, aber vorwiegend Französinnen“ langsam in Richtung Wolmirstedt in Bewegung setzte. „Deutlich hörte ich sie ein französisches Freiheitslied singen. Nachmittags wurden zwei Züge mit männlichen KZ-Häftlingen in Richtung Barleben abzweigt. Einige der Gefangenen hätten nach Wasser verlangt, was ihnen jedoch verweigert wurde. Als es jemand wagte, Wasser zu holen, knallten zwei kurze MP-Salven los. Neun Gefangene brachen tot zusammen. Ihre Kameraden haben sie am Bahnhofsgelände verscharrt, bevor die Fahrt ins Ungewisse weiterging“, schrieb Majewski. Mehr als 60 Jahre danach erinnern sich noch Barleber Bürger an die weiträumige Absperrung des Bahnhofsgeländes, an Schüsse und das laute Bellen der Hunde. Bahnhofsvorsteher Fritz Hedwig hatte zu Anni Brauers Schwiegervater gesagt, er müsse den Zug hier rauskriegen, „denn das ist alles unser Verderb nachher, wenn der Zug stehen bleibt.“ Dieser soll bis zum nächsten Tag im Bahnhof gestanden haben. Anni Bauer hat damals bei der Firma Spoer in der Werkstatt gearbeitet. „SS-Leute in Uniform waren hinten auf dem Hof. Scheinbar sind sie dort zur Toilette gegangen. Ich habe mich gewundert und sah den Zug dort stehen.“ Diesem unheimlichen Zug ganz nah kam Heinrich Rebenklau aus Gutenswegen. „Es war am 11.April 1945 vormittags, als mein Zug in den Bahnhof Barleben einfuhr und dort auf dem gegenüberliegenden Gleis schon ein Zug stand. SS-Leute liefen mit nacktem Oberkörper auf dem Bahnsteig herum und erfrischten sich mit Wasser. Der andere Zug bestand aus Viehwaggons. Hinter kleinen, vergitterten Fenstern schauten Leute heraus.“ Rebenklau sprach einen Mann an und fragte, woher sie kämen. Sie seien aus dem KZ, antwortete der Mann, und schon brüllte einer der SS-Leute: „Schnauze halten, sonst gehörst Du gleich dazu!“ Rebenklau hörte, wie hinter dem Zug Schüsse fielen. Sein Zug fuhr weiter. Auch der Gefangenenzug setzte sich wieder in Bewegung, nachdem mehrere tote Häftlinge in aller Eile neben den Bahngleisen verscharrt worden waren. Wieweit der Zug dann noch gefahren ist, ob bis Groß Ammensleben, Vahldorf oder noch weiter, dazu finden sich weder Anhaltspunkte in den Orten selbst noch Meldungen bei der US-Armee. Dabei haben amerikanische Zeitungen stehts über derlei Vorkommnisse in Wort und Bild berichtet, wie bei dem zwischen Zielitz und Farsleben entdeckten Zug. Im Falle des ersten und zweiten Barleber Zuges war dies nicht der Fall. Daher kann zumindest bei dem ersten Zug, der Barleben am 10.April 1945 verließ, vermutet werden, dass es sich möglicherweise um jenen handelt, dessen Insassen in der Feldscheune Isenschnibbe bei Gardelegen umgebracht wurden. Nur wenige Stunden trennten diese Gefangenen von der Freiheit. Die in Barleben getöteten Männer wurden neben den Bahngleisen, am Rande des Ackers von Gärtnerfamilie Brämer beigesetzt. „Unser erster Eingang zur Gärtnerei ging damals direkt an den Bahnschienen entlang“, sagte Elfriede Brämer, „die Wachleute verlangten von meiner Schwiegermutter, sie solle einen Spaten holen. Opa sagte, - die dürfen hier nicht her.- Da war die Antwort, - wenn sie keinen Spaten holen, dann kommen sie mit rein.-“ 1960, vier oder fünf Tage vor Heiligabend, stand plötzlich ein Auto mit französischen Kennzeichen am Stellwerk. Vier Leute liefen auf Brämers Acker herum, im tiefen Modder. Es waren zwei Männer und zwei Frauen mit einem Stück Papier in der Hand. Die Bahnlinie war eingezeichnet, auch der Schornstein des Gewächshauses und ein paar Bäume. Ein Mithäftling hatte sich eine Notiz gemacht, sich die Stelle anhand markanter Punkte in der Landschaft gemerkt und die Hinterbliebenen informiert. Elfriede Brämer: „Mein Mann war rausgegangen zu den Leuten. Es waren Verwandte eines Toten, der mit acht weiteren erschossen worden war und die man auf dem Acker eingebuddelt hatte.“ Aber die Toten waren inzwischen umgebettet. Der Opa hatte in den 50er Jahren darauf gedrungen. Woraufhin die Toten auf dem Friedhof beigesetzt wurden. Ein Stein wurde aufgestellt mit der Aufschrift „Ruhestätte-Neun unbekannte Opfer des Faschismus-1945“. Der Tote, der später von seinen Angehörigen gesucht wurde, hieß Pierre Morin und war nur 18 Jahre alt geworden. Mehrere Male kam