„In einer Stunde müssen Sie raus“ Schon am nächsten Tag ratterte ein Jeep durch die Hansenstraße und hielt vor der Haustüre des kleinen Hauses mit der Nr. 43 an, in dem meine Familie wohnte. Als der Offizier mitbekam, dass die Tür abgeschlossen war, klopfte er an das Fenster. „Machen sie auf, Frau!“, sagte er zu Marie Oelze. „Ach, nee, Jott oh Jott, wat wulln Ji denn von mick, ick hebbe doch nist verbroken, un forr Hitler bin ick ok nich ewest“, jammerte Tante Mia. Die alte Frau am Fenster schlug voller Verzweiflung die Händde über den kopf zusammen. „Wir möchten auf Ihren Hof kommen und uns umsehen“, fing der Ami in gutem Deutsch wieder an, da er wohl nicht richtig verstanden hatte, was die Alte in ihrem Platt lamentierte. „Jlieks, waart man, ick kimme runter!“ Die Tante schlug das Fenster zu und kam erst einmal zu Muttern gelaufen, die das ganze bange verfolgt hatte. „Make doch mal opp, Klara, ick hebbe man to veel Angest!“ Mutter schloss die Hoftür auf. Die Amis gingen nun über den Hof, sahen in die Ställe, guckten in die Wohnungen und sprachen sich untereinander ab. „Also, liebe Damen“, fing dann der Offizier wieder an. „In einer Stunde muss eine Wohnung leergeräumt sei, da kommt das Headquater, das Hauptquartier hin. Die alte Frau kann wohnen bleiben, aber die junge Frau muss sich eine andere Bleibe suchen.“ „Hach Jott, Klärchen, wo wiste denn nu hen?“ Tante Mia war erleichtert, dass wenigstens sie nicht ihr Heim verlassen musste. „Das weiß ich nicht.“ Mutter hielt ihre Arme um meinen Bruder und mich geschlungen, diewir auf dem Hof vor ihr standen und neugierig die Amis beguckten. „Wenn Sie nicht wissen, wohin, dann besorgen wir Ihnen ein Zimmer. Aber in einer Stunde muss alles geräumt sein“, sagte der Ami, als er Mutters besorgtes Gesicht sah. In allerletzte not fiel Mutter eine über drei Ecken verwandte ein, die im Großen Hof wohnte. Im Affentempo sockte sie hin und hatte Glück. „Die ßwee Kammern oben könnter ham“, sagte Tante Ida Wolff, „aber nich dasser wunder was denken tut, jroß sind se nich, ooch een bisschen dreckich. Da hat ebend lange keener drinnen jewohnt. Habt aber man keene Bange, fahrt alles ran, ich helfe euch denn beis Inräumen!“ Alles heranfahren, das hört sich gut an, aber wie? Mit dem Handwagen, dem Hawazuzi, war nicht viel mitzukriegen. Das Wichtigste aus den Schränken war die Wäsche, die Kleidungsstücke und Handtücher. Aus der Küche ein paar Teller, das Besteck. Das war es dann schon! Den Rest der Kartoffeln im Keller, die Gläser mit dem Eingemachten, die Kohlen im Stall und Vaters Werkzeuge im Schuppen, alles musste liegen- und stehen gelassen werden. Auch unsere zwei Ziegen und die Kaninchen blieben in ihren Ställen. Die Hühner liefen frei auf dem Hof herum. „Die Sachen aus den Kellern und Ställen können Sie später holen, zu essen haben wir selbst genug“, meinte der Dolmetscher des Majors. Dann fuhr ein Laster auf den Hof, das Tor wurde ausgehängt und die Soldaten luden ab, was so gebraucht wurde. In unsere -gute Stube - zog ein Ami-Major ein. „Warum gerade bei uns?“, jammerte Mutter. „In den Villen der Großbauern ist doch viel mehr Platz.“ Ja, das wusste keiner so recht zu sagen. Auch später konnte das niemand mehr nachvollziehen. Vielleicht erinnerte sich der Offizier aus Texas oder Missouri an seinen Hof zu hause im fernen Amerika, wer kann das schon wissen. Jedenfalls saßen wir nun bei Tante – Ite –in den Dachkammern. Gut, dass es wenigstens schon Frühjahr war, denn in den Zimmern war kein Ofen angeschlossen, und die Nächte waren noch empfindlich kühl. „In unsern Schtall steht son oller Kanonenofen und een Rohr liejt ooch noch irjendwo eum. Mein Nachbar bringt das alles in Ordnung. Dann könnter nach disser janzen Uffrejung widder een bisschen ruhijer schlafen“, beruhigte uns die Tante. Die Wäsche fand in Schränken unten im Flur Platz oder in zwei Holztruhen, die vor den Kammern standen. Viel war es sowieso nicht, was wir besaßen. Mein Bruder Klaus und ich fanden die neue Situation aufregend und interessant. Vom Fenster der Dachkammer aus konnte man über die Wiesen bis zur Autobahn blicken, ganz anders als sonst in der Hansenstraße, wo das kleine Haus ziemlich eingekeilt stand. Die Tante war kinderfreundlich, obwohl sie selbst keine Kinder hatte, und die Jungen und Mädchen aus der Nachbarschaft waren uns sowieso bekannt. Nur bei Mutter war noch keine Ruhe eingekehrt. Sie hatte Sorge um die paar Habseligkeiten, die in der Wohnung geblieben waren. Besonders um ihren Schmuck bangte sie. Ja der Schmuck! Es war der Ehering, eine schmale Goldkette und die vergoldete Uhr vom Opa, die er aus dem Ersten Weltkrieg aus Frankreich mitgebracht und meinem Vater vermacht hatte. Diese Dinge hatte Mutter auf dem Sims des alten Kachelofens versteckt und in der Eile vergessen mitzunehmen. Hoch oben unter der Decke der Stube lagen die - Familienschätze - , nun nicht mehr erreichbar. Mutters einzige Hoffnung war, dass dort vielleicht niemand saubermachen würde. In ihren beiden Stuben im alten Haus wohnte weiterhin die Tante Mia. Die konnten wir jederzeit besuchen. Auf dem hof durften wir nur noch zum Füttern des Viehs. Die Hühner mussten wir jetzt in einen Verschlag in den Hausgarten sperren. Für mich war es spannend, mir die Fahrzeuge der Amis anzusehen. Die sahen so ganz anders aus als die deutschen LKW’s. Im Stall hatte man
manchmal deutsche Landser eingesperrt, die noch in den letzten Tagen eingefangen worden waren. Zerschlagene Gewehre lagen in einer Ecke des Hofes. Heinz und ich stibitzten uns jeder eine MP und einen der Karabiner. Deren Kolben waren zwar zersplittert und die Schlösser fehlten, aber spielen konnte man in der Scheune oder im garten wunderbar damit. Unsren Müttern erzählten wir aber lieber nichts davon! (Später beim Einzug der russen, haben wir dann auch diese Dinge im alten Brunnen hinter dem Haus „entsorgt“.) Das Schießen im fernen Magdeburg hörte nach einigen Tagen auf. Es wurde von der Kapitulation der Wehrmacht erzählt. Durch den Rundfunk kam die Nachricht, dass der Krieg zu Ende und der Führer „heldenhaft kämpfend“ in Berlin gefallen sei“. „Was nun wohl Vater macht?“ fragten sich alle in der Familie. Wir hatten in den letzten Monaten oft an ihn denken müssen. Dass Vater vielleicht auch unter den vielen Toten sein könnte, daran wagte niemand auch nur zu denken. Die Amis durchstöberten im Dorf alle Winkel nach Soldaten oder, wie sie sagten, nach Nazis. Eine Heidenangst hatten sie auch vor den Wehrwölfen, fanatischen Hitlerjungen, die mit Überfällen auf die Amis immer noch den Krieg gewinnen wollten. Wenn auch viele der vormals stammenden Volksgenossen ihre braune uniform im Garten untergebuddelt hatten, einige waren doch abgeholt worden. Es waren meist nur kleine Mitläufer, denn die großen Tiere hatten sich meist rechtzeitig abgesetzt. Auf dem Hof in der Hansenstraße trieb man diese Leute zusammen, bevor ein LKW sie mit unbekanntem Ziel abholte. „Denkt euch mal“, erzählte uns eine Tante. „Beinahe hätten mich die Amis hops genommen. Kommt doch da neulich der Dolmetscher vom Kommandanten in unser Haus und fragt mich, wo mein Mann ist. Da kräht unser Papagei lauthals: - Heil Hitler. - Der Ami hat vielleicht große Augen gemacht! Dann hat er mich gefragt, ob wir Nazis sind. - Nein - , hab ich gesagt. - Dieser verrückte Vogel hat das aus dem Radio aufgeschnappt. - Als dann der Ami zum Vogelkäfig gegangen ist, brüllt das Vieh sogar - Sieg Heil! - Ich bin vielleicht wütend gewesen, das kann ich euch sagen. Den hals hätte ich dem blöden Vogel umdrehen können! - Sei stille, du Dummbatz - , hab ich zu ihm gesagt, doch der rief immer wieder - Sieg Heil. Sieg Heil. - Der Ami hat erst ganz verdutzt geguckt, dann aber gelacht und gemeint, dass es damit wohl nun vorbei ist, nun müsste der Vogel umlernen, wie wir alle auch. Darauf ist er gegangen. Ich habe vielleicht eine Angst ausgestanden!“ „Und was machst du nun mit deinem Papagei, Tante?“ fragte ich neugierig. „Jetzt, wo es warm ist steht die Saatbolle bei den Ziegen im Stall. Inzwischen hat er sich zwar das Meckern angewöhnt, aber das ist ja nicht strafbar. Wo ich ihn im Winter lasse, das weiß ich noch nicht. Aber vielleicht hat er unterdessen den Adolf und sein - Sieg Heil - vergessen.“ Viele Leute mussten in dieser Zeit umlernen, nicht nur Tantes Stubengeier. Manchmal zuckte noch einer mit dem Arm, wenn er einen Bekannten auf der Straße traf, der früher darauf großen Wert gelegt hatte. Wenn auch die größten Parteigenossen weg waren, so mancher hatte die Kurve bekommen und sich beim Ami angebiedert. Bei vielen der Bauern waren jetzt die Ami-Soldaten stationiert. Dort war Platz, man konnte die Fahrzeuge sicher abstellen und die Lebensmittel lagern. Überhaupt aßen und tranken die neuen Gäste, dass sich die Leute nur so wunderten. Schwarzes Brot wollten die Amis nicht, nein, weiß mochten sie es, weiß und weich. Richtig schwammig war es mitunter. Zuerst schmierten sie Erdnussbutter darauf, dann belegten sie es mit dicken Scheiben Fleisch und Schinken, alles aus Büchsen. Alles Essbare war bei ihnen in Büchsen: Suppe, Milch, Butter, Fleisch, Wurst, Bier, Käse und eine braune süße Tunke, die sie „Cook“ nannten. Die war furchtbar süß und klebte beim Trinken. „Das sind vielleicht komische Menschen“, erzählte ich Muttern. „Die essen überhaupt keine Kartoffeln, und denke mal, vor unserem Schwarzbrot ekeln sie sich. Ich wäre froh, wenn ich eine Stulle mehr bekäme. Und wie diese Amis rauchen, wie die Schlote, eine Zigarette nach der anderen. Der Major hat sogar ständig dicke Zigarren in seiner Jackentasche, die gucken da oben raus, und der macht sich gar nichts daraus, wenn die deutschen Männer gierig danach schielen. Und was die Amisoldaten sich alles trauen! Die stehen noch nicht mal stramm, wenn ein Vorgesetzter von ihnen was will.“ So war es in der Tat. Wenn einer mit Streifen auf dem Ärmel einen ohne heranwinkte, dann setzte sich dieser gemütlich in Bewegung, wenn überhaupt. Einen Kaugummi im Mund, die Kiefer wie ein Wiederkäuer mahlend, stand er dann da. Nicht einmal Haltung nahm er an. Und von wegen die Hacken zusammenknallen, wie es bei den Deutschen üblich gewesen war, das war nun auch nicht der Fall. Hätte auch gar kein Zweck gehabt, die dicken Gummisohlen unter den Schuhen hätten das glatt verhindert. Auch konnte man die Soldaten von den Offizieren kaum unterscheiden. Einmal fuhr beim Major ein höherer Offizier vor, ein Colonel oder vielleicht sogar ein General? Wir Jungs suchten ihn und hätten in der Gruppe beinahe nicht entdeckt. „Wie ein ganz gewöhnlicher Mensch sieht der aus“, stellte ich fest und sagte dann noch, „dass die Soldaten dem überhaupt parieren?“ Meine Schulkameraden und ich hatten jetzt sehr viel Zeit. Die Schule war seit dem Feindalarm geschlossen, und so waren lange Ferien angesagt. Oft
saßen wir Jungen und Mädchen auf der Bank am Taternberg und sahen zu, wie die Laster der Amis ankamen. Wenn die Soldaten mit dem Ab- oder Aufladen fertig waren, fiel manchmal etwas für sie ab. Ein Stückchen Schokolade oder ein Kaugummi, das war unsere neue Welt. Ein paar Worte Englisch hatten wir den Ankömmlingen abgehört, und quasselten mit ihnen. Die Uniformierten wiederum lauschten uns passende Redewendungen ab, die sie anwenden wollten, wenn sie Bekanntschaften mit den - Frauleins - im Dorf suchten. Manchmal saß ei Schwarzer auf der Bank an der alten Kastanie. Er fuhr den Jeep des Majors. Mit Händen und Füßen verständigten wir uns untereinander. Oft schrieb sich der Ami deutsche Worte in ein kleines Heft. „Das meine Boys“, sagte er und ließ uns ein Bild in seiner Brieftasche sehen. Zwei Jungen waren darauf, kaum älter als wir. „Die sind ja schwarz!“, entfährt es mir. Im nächsten Moment aber hielt ich mir erschrocken die hand vor den Mund und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Der Soldat grinste nur und schlug mir auf die Schulter: „It’s allrigh, boy! In Juesäi many people black, oder schwarz.“ „Ist doch auch egal, Mensch!“, schimpfte Heinz mit mir. „Ob schwarz oder nicht, hauptsache, sie geben uns mal ein wenig von ihrer Fressage ab.“ Darin musste ich ihm zustimmen, auch mir war dieser Schwarze lieber ist als manch ein Weißer, der uns früher mit einer Peitsche beim Ährenlesen von seinem Acker vertrieben hatte. Nur der lange Kurti schüttelte den Kopf: „Mensch, das sind doch unsere Feinde!“ „Nicht mehr, du Troddelkopp“, getraute sich Heinz zu erwidern. „Der Krieg ist zu Ende. Niemand von den Deutschen hat mehr eine Knarre. Ich hab sogar meine Luftbüchse abgegeben, weil das jetzt verboten ist. Denn wenn dich die MP, die Militärpolizei, mit so was erwischt, dann buchten sie dich ein. Womit willst du denn noch den Krieg gewinnen?“ Du lieber Gott! Ich erinnerte mich mit Schrecken an mein Luftgewehr, das doch hinter dem Schrank in der Stube stand. Wenn die Amis das fänden! Die glaubten doch sicher, dass jemand aus der Familie beim Wehrwolf gewesen war. In der Eile, in der wir die Wohnung räumen mussten, hatte niemand daran gedacht. Nun kann man da, ohne Aufsehen zu erregen, nicht heran. Aber beim Onkel Täve in der Laube lag auch noch ein Tesching, mit dem er die Stare aus dem Kirschbaum verjagte, wenn diese im Frühjahr die schönen schwarzen Knorpelkirschen wegfraßen. Hoffentlich hatte der das wenigstens beseitigt. „Nee, mein Junge“, beruhigte mich der Onkel, als ich nachfragte. „Lass man jut sinn, von disse Schießpriejel habe ich de Nase jetz jischtrichen voll. Das Jelumpe habe ich in den Bombentrichter jeschmissen, das is wech!“ „Und was machste, wenn im Sommer die Stare wieder da sind?“ Ich dachte schon mit Schrecken an die vielen Kirschen, die von den Vögeln angehackt wieder unter dem Baum liegen würden. „Das weeß ich noch nich. Mich wird aber schon noch was infalln. Aber bleibe man janz scheen ruhich, Kleener, un habe keene Bange nich. Wejen deine Luftbickse brauchste dich keene jrauen Haare wachsen ßu lassen. Mit die Pischels, wecke du in de Schtalltüre knallst, kannste keenen Panzer knacken, un das wissen de Amis ooch, die schimpen höchstens ma mit dich, wenn se dis Schießjewehr finden tun. Aber ob ibberhaupt, das is ja noch die jroße Frare.“ Beruhigt schlich ich wieder aus dem Garten, nicht ohne vorher auf den Balken zu fassen, wo sonst immer das Tesching lag. Doch außer einer dicken, fetten, schwarzbraunen Spinne, die ich angeekelt von meiner Hand schleuderte, war da nichts. So gingen die Tage im Mai dahin, bis Tanta Ite vom Flur aus die Treppe hinaufrief: „Habt ihrs schon gehört? Die Amis ziehen ab.“ Mutter schlüpfte in ihre Trittchen und lief schnell rüber in die Hansenstraße. Ich hinterher. Tatsache, die Amis packten ihre Sachen zusammen und luden sie auf ihre Fahrzeuge. Auf dem Hof stand der Adjutant und sagte: „Sie können wieder einziehen, gute Frau, wir rücken ab, in ein größeres Quartier. Sehen Sie bitte in Ihren zimmern nach, ob etwas fehlt.“ Mutter rannte in die Stube. Sauber sah sie nicht aus, denn draußen hatte es leicht geregnet, aber an Möbeln schien noch alles vorhanden zu sein. Ein Stuhl war neu, der gehörte vorher noch nicht hierher, aber wo die Amis den besorgt hatten, das konnte auch der Adjutant nicht sagen. Sogar ein Grammophon mit Platten stand im Wohnzimmer, auch das hatten die Soldaten sicher für den Major aus einer anderen Wohnung mitgehen lassen. Eine Menge schöner alter Platten lag im Fach darunter. „Wer wett, wo dat allet her is“, sagte Tante Mia, die neugierig, wie sie nun mal war, durch die Tür geschlappt kam. „Dee hemm’n dat wisse irjendwo eklaut. Dat behollste einfach, Klara. Dat markt doch keen Schwien nich.“ Mutter kontrollierte auch schnell noch die zurückgelassene Bettwäsche im Schrank. Auch die war vollzählig. Im Küchenschrank standen noch Büchsen der Amis mit Cornedbeef und Butter. Bald hätte Mutter aber noch das Wichtigste vergessen -den Schmuck. Schnell kletterte sie auf einen Stuhl und fasste auf den Sims des Kachelofens. Die Amis hatten natürlich nicht sauber gemacht, stellte sie mit Erleichterung fest, also waren die Wertsachen noch da. Vorsichtig pustete Mutter den Staub weg und schob den Ehering über den Finger. Die Uhr steckte sie in die Jackentasche, die Kette kam vorerst ins Portemonnaie. Dann ließ sie sich von mir ein Wischtuch geben und putzte sofort den Kachelofen ab,
denn das war eine günstige Gelegenheit. Und wenn sie schon mal hier oben stand, dann musste sie das ausnutzen. Nun zogen wir wieder in die alte Wohnung zur Tante Mia. Die tante Ite war etwas traurig, sie hatte sich inzwischen schon an uns gewöhnt. Ihr erschien das Haus wohl jetzt richtig ein wenig leer. Geld wollte sie von Mutter für die paar Wochen auch nicht annehmen. „Ihr habtes nötijer als ich“, sagte sie, und damit hatte sie nicht Unrecht. Das Geld war knapp, denn nun war schon seit April Vaters Wehrsold ausgeblieben und die Unterstützung durch den nun nicht mehr vorhandenen Staat auch. Überhaupt, das mit dem Geld war schon ein Kampf! Ein paar Wochen nach der Kapitulation mussten die Leute in die Sparkasse laufen und bekamen Bescheid, dass ihr Geld nun nichts mehr wert war. Siebzig Mark wurde für jede Person umgetauscht, eins zu eins. Alles andere zehn zu eins. Aiuch die Summen auf den Sparbüchern fielen der Entwertung zum Opfer. Wer einmal viel geld hatte, konnte nun den größten Teil seiner Ersparnisse in den Wind schreiben, es sei denn, er fand Menschen, die selbst keinen Pfennig besaßen und für ihn siebzig Mark gegen ein geringes Entgelt eins zu eins umtauschten. Bloß Hartgeld galt uneingeschränkt weiter. Meine Geschwister und ich hatten in unseren Sparbüchsen Geld gesammelt, das wir von unseren Verwandten zu den Geburtstagen geschenkt bekommen hatten. Nun stellten wir es Mutter zur Verfügung, die jetzt auf jede Mark angewiesen war. Von unseren Ersparnissen war wenig übrig geblieben. Auf den wenigen Geldscheinen, die Mutter in der Sparkasse ausgezahlt bekam, klebte jetzt ein Streifen mit einem Aufdruck, der den neuen Wert bezifferte. Auf die Briefmarken setzte die Post einen Stempel, weil nicht so schnell neue Marken gedruckt werden konnten. Den Kopf des „Gröfaz“ Hitlers, des größten Führer aller Zeiten, zierte nun der Aufdruck „Deutschlands Verderber“. Damit galt die Marke noch einige Zeit. Nach dem Abzug der Amerikaner im Frühsommer kamen die Engländer. Sie kürzten die an und für sich schon mageren Rationen auf den Lebensmittelkarten weiter. Die Soldaten bekamen aber auch nicht viel mehr als die deutschen Zivilisten. Die Tommys zeigten sich nicht so generös mit den Kleinigkeiten für uns Kinder. Kaugummi und Schokolade waren Fremdwörter für sie. Nach den kinderfreundlichen Amisoldaten wurde es für uns Jungen und Mädchen eine große Umstellung, und wir trauerten den vergangenen Wochen etwas hinterher. Der englische Kommandant war in ein großes Haus auf dem Breitenweg eingezogen(Nr.52), im Jahre 2005 abgerissen). Davor mussten einige Dörfler mit weißer Farbe ein Karree auf das Straßenpflaster malen. Die englischen Wachmannschaften drehten mit aufgepflanzten Bajonetten, pieksauberen Uniformen, weiße Gamaschen über den Schuhen, weißem Koppelzeug und den typisch flachen Helm auf den Kopf hinter den weißen Linien ihre Runden. Alle Zivilisten mussten extra über die Straße, wenn sie in die Nähe des Hauses kamen, und wehe, das vergaß jemand, dann trieben ihn die Soldaten mit lauten Rufen und gefälltem Bajonett davon. Schlimmer als bei den Preußen. „So was muss ja nu ooch nich sinn. Da jehste jemietlich uff de Schtraße lang deines Weechs un denn jochen se dich einfach ribber uff die andere Seite. Da musste ja Angst ham, dasse dich mits Setenjewehr in’n Hintern pieken“, schimpften die Barleber, wenn sie ihre altbekannten Weg zum Kaufmann Benecke erledigen wollten und an den Tommys vorbeikamen. Für eventuelle Beschwerden, die sie beim englischen Kommandanten vorbringen wollten, musste man jetzt gar einen Termin beantragen, und dann hieß es warten und nochmals warten. Wenn man Glück und der englische Captain gute Laune hatte, dann wurde man irgendwann auch mal vorgelassen. Aber ob man dann Interesse mit seiner Beschwerde bei den Engländern weckte, das war fraglich. Aber es dauerte nicht lange, dannwar es auch mit der Herrschaft der Engländer im Ort vorbei. Die Tommys packten ihre Sachen und machten zur Verwunderung der Dorfbewohner Anstalten anzuziehen. Nun gab es nur noch zwei Möglichkeiten - die Franzosen oder die Russen. „Leute, jloobt mich das, nach uns kommen jetz de Russen!“ Mein Onkel hatte eine Karte und wies sie mir. „Der Franzose bleibt jewiß an’n Rhein. Un der Tommy ooch, der wär ja scheene bescheuert, wenner da wech jehn wirde, so dichte ran wie’s da nach Emgland hin is. Das liejt ja da balle jenau Jraderibber. Nee, nee, nach uns kommt der Russe. Na, denn Prost, kann ich da bloß saren! Da können wer uns eene Feife anstecken, die machen uns ßur Schnecke. Haste schon forr den Empfang von die eene jriene Jirlande ibber eure Türe jenareit, Junge? Villeicht wolln’se widder bei euch inßien?“ Ein paar Tage später wurde es Gewissheit. Über den Breitenweg zuckelten kleine zottige Pferde vor gummibereiften Panjewagen. „Was sind’n das forr wecke?“ An der Straße gienten die Menschen hinter vorgehaltener Hand und waren doch betroffen, wenn sie sich die Gestalten näher anguckten, die auf den Wagen saßen. Die Männer sahen nicht so aus wie die Vorherdagewesenen, deren Kleidung proper und sauber gewesen war, die alle so wohlgenährt ausgesehen hatten. Ausgeblichene, verwaschene. Braungrüne Mäntel trugen die Russen, bis über die zerrissenen oder zerlatschten Stiefel reichten die. Die Mützen mit den Ohrenfleppen saßen in allen Variationen auf den Köpfen. Über den Schultern hingen die Maschinenpistolen mit runden Trommelmagazinen oder Gewehren mit einem stilettähnlichen Seitengewehr. Die meisten russischen Soldaten zogen weiter nach Magdeburg, viele blieben nicht im Dorf, doch jene, die sich einquartierten, die besetzten einige der größten Bauerhäuser. Dort hatten jetzt viele Besitzer mit den Amerikanern und den Engländern das Weite gesucht und waren mit ihren wichtigsten Sachen gen Westen geflohen. Die Kommandantur, die „Kommandantura“, wie die Russen sagten, wurde in Brandts Villa eingerichtet. Mit den Beschwerden über das grobe Auftreten der Russensoldaten im Dorf oder anderen unliebsamen Dingen kam man nun noch schwerer als wie bisher an die Besatzer heran. Meist wurde man schon am Tor abgewiesen. Freiwillig ging sowieso niemand mehr dorthin. Die Russen blieben lange, wenn auch nicht in unserem Dorf, so doch in vielen Gegenden unseres Kreises.
Schreiben auf Zeitungsrändern Erinnerungen von Barbara Coester
Frisch von der Lehrausbildung kam Barbara Coester im April 1944 nach Barleben. „Ich landete hier und blieb hängen“, sagt sie, „in Barleben lebten damals ca. 5.000 Menschen. Entsprechend groß waren die klassen. Allein 64 Mädchen lernten im zweiten Schuljahr. Die Knabenklasse war ebenso groß.“ Eingeprägt hat sich ihr besonders eine sehr feierliche Beerdigung im Herbst 1944. Fünf Menschen waren durch eine - wie viele glauben – versehentlich am falschen Ort ausgeklinkte Bombe zu Tode gekommen. Der Rektor in gelbbrauner Partei-Uniform hielt eine flammende Rede auf dem Friedhof. Das erste Jahr als Lehrerin endete für Barbara Coester am 25. März 1945 mit Beginn der Osterferien. Sie sollten bis zum 30. September 1945 dauern. Wie immer zu Feiertagen und in den Ferien fuhr die junge Frau nach Halberstadt zu den Eltern. Dort erlebte sie einen wahren Ausverkauf von Lebensmitteln. Für fünf Mark gab es zum Beispiel fünf Pfund (2,5kg.) Mett, Fleischbrühe wurde eimerweise abgegeben. In Barleben hatte zuvor schon die Käserei Riechert mit dem Ausverkauf ihres beliebten Sauermilchkäses begonnen. Bis zum Kriegsende war nicht mehr viel Zeit. Den schweren Bombenangriff auf ihre Heimatstadt am 8. April 1945 erlebte Barbara Coester mit und wie durch ein Wunder überstanden das Haus, in dem ihre Eltern lebten, und ein paar Nachbarhäuser diese Attacke ganz gut. Einzig die Türen und Fensterscheiben gingen durch eine Druckwelle zu Bruch. „Wir haben unverschämtes Glück gehabt. Allerdings gab es kein Wasser, keinen Strom und kein Gas“, erinnert sich die Lehrerin. Am 25. August 1945 ordnete Marshall Shukow für die Sowjetische Besatzungs Zone (SBZ) an, dass am 1. Oktober 1945 die Schule wieder beginnen sollte. Barbara Coester aber war eine zur Nazi-Partei ausgebildete Lehrerin. Sie durfte nicht wie alle anderen Lehrer die neuen Lehrpläne mit aufstellen. Barbara Coester erhielt den Entlassungsbrief. „Aber ich bewarb mich beim Schulrat neu. Rektor Schröder schrieb ein paar passende Worte dazu, und ich wurde im November 1945 wieder eingestellt.“ Die Situation in den Schulen war katastrophal. Viele Kinder gab es und Lehrer kaum. „So hatte es schon in den letzten Kriegsmonaten ausgesehen. Nun aber hatte sich die Lage weiter verschärft. Viele Kinder hatten durch Flucht oft jahrelang keinen Unterricht mehr besucht. Einige meldeten sich zwar ihrem Alter entsprechend zum Beispiel in der 6. Klasse an, aber sie waren zwischenzeitlich sitzen geblieben. Wir merkten das und handelten. Nach sechs bis acht Wochen wurden diese Schüler neu eingestuft.“ Das Unterrichten selbst war wegen des Mangels an Schulmaterial ungeheuer schwierig. Es gab kaum Hefte und Bleistifte, weshalb peinlichst darauf geachtet wurde, dass auch wirklich jede Zeile im Heft voll geschrieben und keine Seite wegen eines Tintenkleckses herausgerissen wurde. Mitunter musste sogar auf Zeitungsrändern und irgendwelchen Zetteln geschrieben werden, zum Beispiel auf Schokoladenpapier. Selbst die längst vergessene Schiefertafel und der Griffel hielten wieder Einzug in die Schule Dort mangelte es natürlich auch an Schulbüchern, weil die alten wegen ihrer Nazisymbolik nicht mehr in Frage kamen. Wer daheim Bücher von Oma oder Opa hatte, brachte diese mit, und es wurden die Lesetexte abgeschrieben. Die erste Fibel wurde gemalt. An so manchem Elternabend schrieben die Muttis texte ab und malten Bilder, welche die Lehrerin zuvor auf eine drehbare Tafel aufgeschrieben hatte. Vatis waren zu jener Zeit „Mangelware“, viele von ihnen waren gefallen oder in Gefangenschaft. Andere gingen erst gar nicht mit zu den Treffen. Wegen der viel zu großen Schulklassen entschied die sowjetische Besatzungsmacht, in kürzester Zeit Lehrer auszubilden. Sie mussten sich beim Schulrat melden. Geschult wurden die Neulehrer ein halbes Jahr, von Januar bis August. „Lehrer konnte man damals auch werden, indem man nur beim Schulrat vorsprach. Im September 1946 standen in Barleben 17 neue Lehrer vor der Schultür. Daran kann sich Barbara Coester gut erinnern, heute merkt sie belustigt an: „Es waren so viele Neue, wie wir sie hier nie wieder bekamen“. Rektor Schröder - der alte SPD-Mann Otto „Faufi“ Schröder („mit der Gewitterlenne“ sagten die Schüler mehr liebevoll als hänselnd)- hatte von Geburt an ein steifes Kniegelenk, weshalb er nicht wie andere Kinder herumtoben konnte. So hatte sich der Junge frühzeitig aufs Stricken, Sticken und später als erwachsener Mann aufs Jagen verlegt. Damit die Kinder ihn auf der Straße nicht mit dem Hitlergruß grüßen mussten, hat sie der Lehrer - wenn irgend möglich - schnell zuerst gegrüßt. „Faufi“ war beliebt bei Groß und Klein und zu Kriegsende schon an die 70 Jahre alt. Er machte 1946 aus zwei großen drei kleinere Klassen. Es gab eine Mädchen-, eine Knaben- und eine gemischte Klasse. Als wenig später die Trennung in Mädchen- und Jungenklassen aufgehoben wurde, war dies zunächst ungewohnt für Schüler wie Lehrer. Es sollte einige Zeit dauern, bis ein normaler Unterricht mit ausreichend Material und guter Ausstattung möglich war. Barbara Coester war bis 1978 im Schuldienst tätig.
Beim Attentat im Führerhauptquartier dabei: Adjutant Heinz Brandt
Heinz Brandt – geboren am 15.Februar 1907 – war ein hervorragender Springreiter, langjähriges Mitglied des Springstalls der Kavallerieschule Hannover und beteiligt an zahlreichen Nationenpreisen. Sein Cousin war Fritz Brandt. Die Familie besaß in Barleben einen großen Hof mit Villa, heute Sitz der Verwaltung für die Einheitsgemeinde Barleben. Auch die Familie Brämer-Brandt gehörte zur Verwandtschaft. Mit Kurt Hasse und Marten von Barnekow gewann Brandt auf seinem Pferd „Alchimist“ bei der Olympiade 1936 Mannschaft-Gold. Durch diese Leistung fiel der damals 29jährige Adolf Hitler auf, der ihn daraufhin in seine Nähe holte. Brandt wurde Generalstabsoffizier. Beim Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 in der Wolfsschanze bei Rastenburg wurde Heinz Brandt so schwer verletzt, dass er zwei Tage später starb. „Vorher hatte Hitler den Gold-Medaillengewinner noch zum Generalmajor befördert“; schrieb Teja Fiedler 2004 in ihrem Beitrag „Machtspiele“ im „Stern“. Brandt war bei der Lagerbesprechung zugegen gewesen. Er soll mit seinem Fuß Stauffenbergs Koffer etwas zur Seite geschoben haben. Juliane Seehafer hatte den damaligen Offizier und Cousin ihrer Mutter während ihres Arbeitsdienstes bei Rastenburg einmal kurz getroffen. Nach dem Attentat stand die gesamte Familie unter Beobachtung, erinnert sie sich. Ihre Tante war sogar inhaftiert worden. „Die haben alle dicht gehalten. Darum ist meine Tante wieder frei gekommen. Meine Mutter hatte auch Angst. Ihr Vetter wohnte in Berlin. Es bestand aber nur ein lockeres Verhältnis. Wir Kinder haben Heinz Brandt kaum gekannt. Sein Sohn ist inzwischen auch schon gestorben.“
E N D E
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Literaturquellen: Broschüre – Das Kriegsende in Barleben – Zeitzeugen erinnern sich Hsg. Margitta Häusler in Zusammenarbeit mit Herike Hildebrandt Heimatverein Barleben
Wirbelwind, diese Thematik ist jedoch noch nicht fertiggestellt. Das Itüpfelchen ist noch in Arbeit: Bilddokumentation zu dieser Problematik. Warte noch auf Antwort aus Rogätz, Einheitsgemeinde Barleben und auf die beiden Mitglieder des Forums aus der Region Barleben. In diesem Sinne Gruß Teddy
falls es ums Standesamt geht, wirds u. U. noch ein Weilchen dauern...Übrigens hat Frau Häusler zum Kriegsende in Rogätz eine ähnliche Dokumentation erarbeitet, wie in Barleben. Auf die Bilddokumentation bin ich gespannt. MfG Rüdiger
Ich bekam soeben telefonisch die Information von Frau Hildebrand Heimatverein Barleben, dass Sie mir demnächst die s/w Bilder zukommen läßt, welche in der Broschüre - das Kriegsende in Barleben - Zeitzeugen erinnern sich, sind.
Wir wollen ja auch der Zeitgeschichte ein Gesicht geben. Zwei Bilder von Frank Towers. Hier beim Eintritt in die Army: Bild entfernt (keine Rechte) Und hier ein Bild welches angeblich in Magdeburg aufgenommen wurde. Bild auf nächster Seite bei Magado [[File:frank-w-towers-magdeburg.jpg|none|fullsize]]