Das Kriegsende in und um Estedt, und der Tod von über 100 KZ-Häftlingen Über das Massaker an der Feldscheune Isenschnibbe, nordöstlich von Gardelegen wurde mehrfach berichtet. Weniger bekannt sind die Ereignisse in und um Estedt, sowie die Ermordung von über 100 KZ-Häftlingen bei Estedt am 12. April 1945. Ende März, Anfang April irrten überall in dem noch nicht von den Alliierten besetzten Gebiet des Deutschen Reiches Transporte mit Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen umher, endlose Kolonnen schleppten sich durch das Land. Einige dieser Transporte endeten in der Altmark, besonders im Raum Gardelegen, ihre Waggons waren gefüllt mit 4 bis 5 000 KZ-Häftlingen. Am 11. April 1945 trifft auf dem Kleinbahnhof in Letzlingen gegen 17.30 Uhr ein Häftlingstransport aus dem Dora-Nebenlager Weida und vier kleineren Lagern ein (SS-Baubrigade III). Die Häftlinge sind seit dem 7. April über Elend, Wernigerode und Magdeburg unterwegs. Transportleiter war der SS-Oberscharführer (Feldwebel, Oberfeldwebel) Kemnitz. Sein direkter Vorgesetzter, der Lagerkommandant, SS-Untersturmführer Merkle hatte sich nach dem Verladen der Häftlinge in Wernigerode abgesetzt. Auf dem Bahnhof in Letzlingen wurde der Zug durch amerikanische Tiefflieger mit Bordkanonen beschossen. Das Chaos des Angriffs nutzten viele KZ-Häftlinge zur Flucht. Dabei lief die überwiegende Zahl der Häftlinge nach Westen in den nahen Wald. Dort hin hatten sich aber auch die Wachen geflüchtet und in den Dörfern Wannefeld, Roxförde, Pollwitz und Neumühle lag Militär, welches die entkommenen Häftlinge überwiegend wieder gefangen nahm und nach Gardelegen in Marsch gesetzt hat. Die SS-Bewachungsmannschafft versuchte schon auf dem Bahnhof die Flucht durch den gezielten Einsatz von Handfeuerwaffen zu verhindern.
Frank Krawczyk: --- Plötzlich raffen sich alle Gefangenen auf und stürmen los, um den schützenden Waldrand zu erreichen und in die schützende Schonung einzudringen. Sofort knatterte das MG dazwischen. Viele Gefangene brachen im Feuer des Maschinengewehrs zusammen. Schreiend, fluchend, stöhnend und jammernd sanken sie ins Gras, aber ein großer Teil meiner Kameraden erreichte den schützenden Waldrand. Das MG fegte erbarmungslos hinten in die Kolonne hinein und mähte die hilflosen Gefangenen nieder wie die Sense das Korn. Dann verstummte das Schießen, und in der Stille erklang das Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden umso schrecklicher. ---
Die entkommenen Häftlinge wurden wieder eingefangen und zum Transport zurückgetrieben, um in mehreren Gruppen in Richtung Osten in Marsch gesetzt zu werden. Ein Teil gelangte nach Gardelegen und Neuendorf. Eine Gruppe überquerte die Elbe mit Kähnen und etwa 50 Überlebende erreichten um den 25. April einen Bauernhof in der Nähe von Tremmen bei Berlin, wo sie am 29. Oder 30. April von der Roten Armee befreit wurden.
Frau H. aus Wannefeld: --- Von Letzlingen kamen Ströme von Menschen. Wir dachten die Amerikaner. Ich sagte zu den Soldaten: „Haut ab!“ Die haben das Fernglas genommen und geguckt. „Das sind ja alles Sträflinge!“ haben die deutschen Soldaten gesagt. Hinter dem Park standen die Soldaten und haben die Gefangenen alle aufgefangen. ---
Etwa 600 Häftlinge wurden von Letztlingen durch die Heide über Dolle in Richtung Elbe getrieben. Die nicht mehr gehfähigen und kranken Häftlinge wurden mit Fuhrwerke bis Dolle gebracht. Ob sich Kemnitz und Merkle bei dieser Kolonne befanden, ist nicht belegt. In Dolle entledigte man sich der kranken Häftlinge. 1947 – 48 wurden in und in der Umgebung von Dolle 66 ermordete und verscharrte KZ-Häftlinge aufgefunden und beigesetzt. Die Leichen wiesen ausnahmslos Kopf- und Genickschüsse auf. Ermordet wurden sie durch die Wachmannschaft, es sollen sich aber auch Bewohner und Volkssturm-Männer an den Morden beteiligt haben. Am 12. April kamen die überlebenden Häftlinge in Burgstall an. Der Bürgermeister Andreas Lehse wollte mit den Häftlingen nicht in Verbindung gebracht werden und schickte den SS-Aufseher zu Reinhold Möhring dem Ortsgruppenleiter. Dieser wiederum setzte sich mit dem Rechtsanwalt und Notar Hermann Pett in Verbindung und beide verhinderten durch verzögerte Verhandlungen mit dem Transportverantwortlichen die Ermordung der Häftlinge. Pett und Möhring erkannten den angeblichen Erschießungsbefehl wegen juristischer Formfehler nicht an. Die geplante Ermordung der Häftlinge konnte durch einen fingierten Gegenbefehl des Orstgruppenleiters, als nach den bestehenden Notstandsgesetzen höchste Autorität am Ort, und dem Rechtsanwalt Herrmann Pett abgewendet werden. Pett war als Kriegsgerichtsrat bei der Armee gewesen und verfügte über dementsprechende Erfahrung. Da kein juristisch anzuerkennender Befehl vorlag, erklärte sich der „Kriegsgerichtsrat“ Patt als zuständig und setzte einen schriftlichen Gegenbefehl auf, in dem er jede Gewalt gegen die Häftlinge untersagte. Die SS-Führer waren somit entbunden und setzten sich ab. Die etwa 500 (200 Russen, 150 Polen, 60 bis 70 Deutsche, der Rest waren Jugoslawen, Italiener, Norweger, Franzosen, Belgier und Holländer) Überlebenden konnten am späten Nachmittag des 13. April bei Burgstall an die anrückenden Amerikaner übergeben werden. In der Zwischenzeit waren noch acht Häftlinge gestorben oder von den Wachen erschossen worden.
Die Häftlinge, deren Schicksal sich in Estedt entschied, stammten aus den Transporten, welche in Bergfriede und Mieste endeten.
Mieste In den Abendstunden des 8. April trifft auf dem Bahnhof in Mieste ein Sonderzug mit etwa 20 Güterwaggons aus Niedersachswerfen im Harz ein. Der Zug war gegen Mittag des 6. April dort abgegangen und über Osterode, Seesen, Braunschweig, Helmstedt, Marienborn, Weferlingen, Oebisfelde nach Mieste gelangt. Unterwegs waren weitere Waggons mit Häftlingen angehängt worden. (Ellrich, fünf Waggons mit Häftlingen der Baubrigade IV.) Eine Weiterfahrt Richtung Stendal war nicht möglich, da das Gleis durch alliierte Jagdbomber zerstört worden war. (Bei Solpke hatten alliierte Jagdbomber einen Munitionszug angegriffen, die dadurch entstandenen Zerstörungen machten die Bahnstrecke für längere Zeit unpassierbar. In den Güterwagen befanden sich rund 1 800 KZ-Häftlinge aus dem KZ Dora-Mittelbau und seinen Nebenlagern Rottleberode, Niedersachswerfen, Nordhausen, Ellrich, Stampeda und Bad Sachsa. Die Häftlinge aus dem Nebenlager Ellrich (SS-Baubrigade 4, untergebracht in Ellrich-Bürgergarten) wurden geführt von SS-Oberscharführer Locke, dessen Begleitkommando bestand aus 15 SS-Männern. Transportführer des Sonderzugs war der SS-Untersturmführer (Leutnant) Erhard Brauny. In einem niederländischen Bericht wird sein Dienstgrad mit SS-Hauptscharführer (Hauptmann) angegeben. Brauny wurde am 17. Oktober 1913 geboren. Er wurde 1932 Mitglied der NSDAP und der SS. Im September 1939 begann er seinen Dienst im Lager Buchenwald, im Januar 1940 wurde er Kommandoführer im Nebenlager Tondorf-Erfurt. Im August 1943 wurde er Adjutant des Kommandanten des Lagers Dora bei Nordhausen. Im November 1944 wurde er Kommandant des Nebenlagers Rottleberode. Ab dem 4. April war er für die Evakuierung des Lagers Rottleberode verantwortlich. Für die Verbrechen, die er in verschiedenen Konzentrationslagern verübt hat, wurde er am 30. Dezember 1947 in Dachau zu lebenslanger Haft verurteilt. Er ist am 16. Juni 1950 im Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg an einer Tumorerkrankung verstorben. Brauny begleitete die Häftlinge bis Gardelegen und setzte sich in den Morgenstunden des 13. April 1945 ab. In Kloster Neuendorf tauschte er die SS-Uniform mit der der Fallschirmjäger. Zwei Tage später geriet er in amerikanische Gefangenschaft.
Der französische Häftling Aime‘ Bonifas berichtet: --- Das Leben im Waggon wird unerträglich mit den jammernden Kranken, dem Gestank, dem Hunger und Durst. Wir sind Stumpfsinnig wie das Vieh und völlig ausgehöhlt durch zwei Jahre Konzentrationslager. Aus einigen Waggons schafft man mehrfach Tote heraus, sie werden im letzten Wagen zu Dutzenden gestapelt. Und die Nächte, ach , diese Nächte, die langen Aufenthalte auf freier Strecke, dann wieder das eintönige Rattern der Achsen, an dem wir merken, dass der gespenstische Zug weiter seinem Ziel entgegen rollt. Man kann sich nicht vorstellen, dass die Nacht jemals ein Ende hat. ---
Stanislaw Majewicz erzählt: --- Der Platzmangel hatte zur Folge, dass sich kein Häftling hinlegen konnte. Der Boden war auch nicht mit Stroh bedeckt. Viele Häftlinge litten an Durchfall, so dass der Güterwagonboden stellenweise mit Kot bedeckt war. Durch die mit Stacheldraht versehenen Luken wurden einige Brote geworfen. Um das Brot wurde danach regelrecht gekämpft. Wasser wurde uns nicht zur Verfügung gestellt. ---
Einen Tag später, gegen 5 Uhr des 9. April endete ein weiterer Transport auf dem Bahnhof in Mieste. Dieser Transport kam aus dem Lager Hannover-Stöcken und beinhaltete etwa 3 - 400 kranke Häftlinge, die nicht marschfähig waren. Die Häftlinge mussten in der Batterien-Fabrik AG in Stöcken schuften und unter unmenschlichen Bedingungen Batterien für U-Boote herstellen. Diese Gefangenen hatte man in 8 Waggons gestopft, viele waren schon fast verhungert und manche nackt.
Über diesen Transport berichtet Roger Maria: --- Wir waren mehr oder weniger nackt und wurden in Viehwagen eines bereitstehenden großen Zuges geschoben. Nie werde ich den den Waggons entströmenden penetranten Geruch und das Stöhnen der Sterbenden vergessen. --- ----Am nächsten Tag hielt der Transport an der Station Mieste, und die Waggons wurden geöffnet. Ein Teil der „Passagiere“ war nicht mehr am Leben; einige, auch ich, krochen mühsam heraus. Nebenan stand ein Transport aus einem anderen Lager.----
In der Nacht vom 10. Zum 11. April endete nach einer Irrfahrt zwischen Dannenberg, Gardelegen, Salzwedel und Oebisfelde ein weiterer Transport auf dem kleinen Bahnhof. Die Häftlinge waren bereits Ende März aus dem KZ-Neuengamme bei Hamburg abgefahren. Ziel dieses Transports war wahrscheinlich das KZ-Sachsenhausen bei Oranienburg. Hunger und Kälte hatten die Zahl der Häftlinge stark dezimiert. Allein in Salzwedel hatte man am 8. April 244 tote Häftlinge an der Ritzer Brücke entladen und verscharrt. Der Obergartenmeister Jahn berichtet darüber: --- Der Bürgermeister hatte mir mitgeteilt, am Bahnhof stehe ein Wagen mit Toten, die hier beerdigt werden sollen. Im Innern eines Wagens offenbarte sich ein Bild des Grauens. Es war gar nicht möglich, die Toten woanders hinzubringen. Bei den meisten Leichen war schon die Verwesung eingetreten, und das Leichenwasser lief aus dem Waggon. Auf meinen Vorschlag wurde der Standort des Massengrabes am Bahndamm der Ritzer Brücke gewählt. Der Damm als Schutz und ein relativ niedriger Grundwasserstand waren gegeben. ----
Weitere 12 Tote entlud man in Dambeck und 6 Häftlinge wurden in der Gemeinde Riebeck begraben. 55 Tote dieses Transports fanden ihre letzte Ruhestätte in der Gemeinde Buchhorst . Dort hatte der Zug drei Tage, von der SS streng bewacht gestanden. Die Wachmannschaft hatte die zugeteilten Lebensmittel nicht ausgegeben, sondern für sich verbraucht, oder verschoben. Die Häftlinge dieses Transports waren überwiegend nicht mehr in der Lage einen Fußmarsch anzutreten. Unter ihnen befand sich auch der Bürgermeister der niederländischen Stadt Putten, Mathieu Lambert von Geen. Ihm und acht weiteren Häftlingen gelang die Flucht und van Geen findet mit drei weiteren Häftlingen bei Pfarrer Friedrich Franz Unterschlupf. Pfarrer Franz und van Geen können General Keating davon abbringen, Gardelegen zur Vergeltung für das Massaker einzuäschern. Van Geen weiß wovon er spricht, denn seine Stadt wurde zur Vergeltung für einen Überfall niederländischer Widerstandskämpfer im Oktober 1944 zerstört. Auf dem Bahnhof Mieste standen am 11. April drei Transportzüge aus verschiedenen Lagern. Die Waggons waren gefüllt mit 1 500 noch gehfähigen Gefangenen, 4 bis 500 lebende Skelette und einer nicht bekannten Zahl halbtoter und toter Häftlinge. Die Wachmannschaft bestand aus den verbliebenen etwa 50 bis 60 Mann der ursprünglichen SS-Wachen, 20 bis 30 waren inzwischen desertiert, Soldaten von Wehrmacht und Luftwaffe, sowie einigen mit Jagdbewehren bewaffnete Zivilisten, Jungen der HJ und 16 Volksturmmänner unter dem Kommando von Erich Rust.
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Den wohl umfangreichsten Bericht über die Zustände auf dem Bahnhof Miste gab der damalige Fahrdienstleiter Fritz Pössel: --- Auf Anfrage bei der Zugleitung in Stendal, wie lange das Abstellen des Zuges vorgesehen war, wurde keine Auskunft erteilt. Der Zug lief ordnungsgemäß auf Gleis 4 ein. Als die Lock auf Anordnung der Zugleitung Stendal abgespannt hatte und als Leerfahrt zurück nach Stendal fuhr, setzte sich auch der Transportleiter, ein Oberleutnant der Wehrmacht, ab. Er fragte mich nach dem nächsten Personenzug nach Berlin. 2 000 wehrlose Menschen waren von jetzt ab den SS-Wachmannschaften und ihren Bluthunden ausgeliefert. Ich sah diesen Leidenszug, in dem Menschen in offenen Wagen zusammengepfercht waren, bekleidet mit dem dünnen Häftlingsanzug und in eine Decke gehüllt. Der Morgen war furchtbar kalt, und viele dieser Menschen waren schon auf dem Transport infolge Erfrierens und Verhungerns gestorben. Die Leichen lagen zusammen mit den leidenden Menschen in den Wagen. Es war ein Bild des Grauens und Schreckens. Der sichere Tod hatte diesen Leidenden schon seinen Stempel aufgedrückt, es waren ja nur noch Skelette. In der Zeit, in der die Häftlingszug auf dem Bahnhof in Mieste standen hat, sind nach meiner Erinnerung zweimal kleinere Häftlingstransporte hinter dem stehenden Transport abgestellt worden. Wie sie hier angekommen sind, ist nicht offiziell gemeldet worden. Die Transporte waren mit einem Mal da. Ich war Zeuge, wie Häftlingen Nahrung verabreicht wurde. Auf zehn Gefangene kam eine Dose Konserven. Es begann der Streit um die notwendige Nahrung, der Kampf ums Dasein. Für die wachhabenden SS-Männer war solch ein Schauspiel eine Belustigung. Als ich am Abend meinen Nachtdienst wieder begann, hatte ich von Zu Hause etwas Brot mitgenommen, um es den Häftlingen zu geben. Doch als ich mich zur Ladestraße begab, wurde ich von einem Nazi meines Dorfes gesehen und zurechtgewiesen, bei eventueller Wiederholung des Versuchs würde mir das gleiche Los widerfahren. Am Tag darauf fiel eine Bombe in den Stellwerksbezirk. Infolge der Explosion mussten die Häftlinge in die nahegelegenen Häuser fliehen, und die Wachposten verloren für kurze Zeit die Übersicht. Hier ist es einigen wenigen gelungen, durch die Flucht dem Tod zu entgehen. Aber es waren wohl nicht mehr wie fünf Häftlinge, die so die Freiheit erreichten. Bald hatte man die zur Flucht viel zu geschwächten Häftlinge wieder zusammengetrieben, um ihren Lebensweg zu vollenden. ---
Martin Pössel, Sohn des Fritz Pössel: Wir waren damals noch Jungen im Alter von 14 Jahren. Die Ladestraße war unser Spielplatz, wo wir das Schicksal der Häftlinge miterlebten. Wir sahen, wie die ausgehungerten Menschen immer wieder versuchten, sich von den Wagen zu entfernen, um in den fünfzig Meter entfernten Kleingärten Nahrung zu finden. So war ich Zeuge, wie diese Menschen auf der Suche nach Erhaltung ihres Lebens von der SS rücksichtslos erschossen wurden. Jeder, der auch nur den Versuch unternahm, sich von den Wagen zu entfernen, wurde ermordet. Es gab Häftlinge, die ihre Notdurft in der Nähe des dem Zug gegenüberliegenden Asbelithwerkes verrichteten. Auch diese Menschen wurden erschossen. Die Bewachung bestand aus 18 – bis 20 jährigen Jungen der Hitlerjugend und SS-Angehörigen. Diese Jungen, fast noch Kinder, schossen auf die wehrlosen Gefangenen. Es war nicht anders, als würden sie auf Spatzen schießen. Die Häftlinge mussten für ihre toten Leidensgenossen die Gräber ausheben und die Leichen begraben, viele der Gemarterten wurden dazu verurteilt, ihr eigenes Grab zu schaufeln. ---
Anmerkung: Auf dem Bahnhof in Miste wurden Häftlinge nicht nur von der SS erschossen, auch Soldaten von Wehrmacht Luftwaffe beteiligten sich an den Morden. Inwiefern Zivilisten beteiligt waren, kann nicht zweifelsfrei ermittelt werden. Es waren nicht mehr viele SS-Männer, die bei den Transporten verblieben waren und „ihre Pflicht taten“. Die Amerikaner waren bedenklich nahe, und da war es nicht von Vorteil, mit den Häftlingen in Verbindung gebracht zu werden, womöglich bei diesen aufgegriffen zu werden. Bisher waren die Häftlinge der SS nützlich gewesen, denn solange ein SS-Mann Häftlinge bewachte, konnte er nicht zum Frontdienst eingesetzt werden.
Wilhelm Fentzling darüber: --- Am 9. April ist gegen 19 Uhr ein Kommando von einem Leutnant und sieben Mann aus Sachau (Feldflugplatz der Luftwaffe) auf dem Bahnhof erschienen. Von diesem Kommando sind acht Mann erschossen worden, weil sie aus einem Lagerhaus Korn holen wollten. ---
Ob Wehrmachts- oder Luftwaffenangehörige die Marschkolonnen begleitet haben, ist nicht belegt. Sie haben sich aber an der Ergreifung entflohener Häftlinge beteiligt. Die Morde in Estedt wurden von den dort lagernden Fallschirmjägern (Luftwaffensoldaten) und Wehrmachtsangehörigen verübt. In Mieste ist den Häftlingen aber auch Hilfe durch die Bürger zu Teil geworden. Zwar hat die SS versucht die Bewohner an der Übergabe von Lebensmittel und Wasser zu hindern, musste letztendlich aber nachgeben. Polizeileutnant Fritz Hesse, von der Polizei in Oebisfelde lies auf Befehl des Landrats Dr. Dau 70 kg Fleisch, 1200 kg Kartoffeln 550 kg Graupen und 2,5 kg Kaffee ausgeben. Das Essen wurde in der Küche der Aspestfabrik, die direkt am Bahnhof gelegen war, zubereitet. Allerdings waren schon viele Gefangenen zu schwach, um das Essen zu empfangen.
Die Todesmärsche Am 11. April begann für die Häftlinge auf dem Bahnhof in Mieste der letzte Akt ihres Leidenswegs. Gegen Mittag erhält der Transportführer, SS-Unterstumführer Brauny, die Nachricht, dass die amerikanische Panzerspitze nur noch 10 bis 15 km von Mieste entfernt ist. Er berät sich mit den beiden anderen Transportführern, Locke und SS-Unterscharführer (Unteroffizier) Hermann Lamp, dem Kommandanten von Stampeda, was zu tun sei. Im Anschluss ruft er die Vorarbeiter und Kapos zusammen und teilt ihnen mit, dass alle Häftlinge, die noch gehen können, sich geschlossen unter Bewachung in den etwa 2 km entfernten Wald begeben sollen. Auf diese Weise wolle die SS die Häftlinge vor mögliche Kampfhandlungen, die am Bahnhof Mieste zu erwarten seien, bewahren. Er teilte auch mit, dass er die Absicht habe, die Häftlinge geschlossen an die Amerikaner zu übergeben. Die SS hatte ein durchdachtes System der Überwachung und Unterdrückung. Als Gehilfen dienten ihnen die Vorarbeiter und Kapos, selbst Häftlinge, die durch ihre Stellung gegenüber den anderen Mithäftlingen privilegiert waren. Das nutzte die SS bei den Transporten aus und bewaffnete die ihnen Ergebenen. Diese bewachten nun ihre eigenen Leidensgenossen und waren nicht selten schlimmer als die SS. Ab Mittag machen sich die Kolonnen auf drei verschiedenen Routen auf den Todesmarsch. Ob die SS zu diesem Zeitpunkt Gardelegen als Zielort bereits gewählt hatte, ist zweifelhaft. Die zwei Häftlingsgruppen mit den „Marschfähigen“ begeben sich erst in nördliche – nordöstliche Richtung, also von Gardelegen weg. Nur die Restgruppe, 200 bis 300 kranke Häftlinge, die man in den Waggons zurückgelassen hat, wurde mit Fuhrwerken direkt von Mieste nach Gardelegen gebracht. Die erste Hauptgruppe bricht gegen Mittag in Mieste auf und bewegt sich zuerst über Wernitz nach Solpke Richtung Gardelegen, schwenkt dann aber nach Norden, um sich durch den Zichtauer Forst über Breitenfeld, Schwiesau Richtung Zichtau zu bewegen, und sich dann über Wiepke, Estedt, Laatzke, Berge nach Gardelegen zu wenden. Die Nacht vom 11. Zum 12. April verbringt diese Gruppe auf einer Koppel bei Breitenfeld. Ein Teil der zweiten Gruppe, welche am Nachmittag aus Miste abmarschierten ist, trifft bei Breitenfeld mit der ersten zusammen. Einigen Häftlingen gelingt die Flucht, andere werden in die erste Gruppe eingegliedert.
Zu diesem Zeitpunkt bewegte sich das Kampfkommando A der 5. US-Panzer Division bereits über Kusey – Klötze – Kalbe Richtung Tangermünde. Am Abend des 11. April erreicht die Panzerspitze Bismark. Damit ist für die SS der weitere Weg nach Norden abgeschnitten, sie ist gezwungen die Häftlingsgruppen nach Süden einzuschwenken.
Romuald Bak: --- Nach Einbruch der Dämmerung kam auf einem Krad ein deutscher Offizier vorbeigefahren, der den SS-Leuten zurief, dass in der Richtung, in die wir gehen, amerikanische Panzerspitzen im Anmarsch seien. Darauf kehrten wir um. ---
Die zweite Gruppe aus Mieste bewegt sich über Siechau auf Waldwegen Richtung Breitenfeld, um dann an den Zichtauer Bergen vorbei nach Estedt zu schwenken. Von dort geht es weiter nach Gardelegen. Die zweite Gruppe wird kurz nach dem Aufbruch in Mieste von alleierten Jagdbombern angegriffen. Die ausbrechende Panik nutzten viele Häftlinge zur Flucht, sie wurden aber von den Wachen, als auch von Zivilisten aus Mieste wieder zusammengetrieben und neu formiert. Häftlinge, die vor Erschöpfung nicht weiter können, wurden von den SS-Männern erbarmungslos erschossen. Immer wieder versuchen Häftlinge der SS zu entfliehen, nur wenigen gelingt es. Wer nicht von der SS erschossen wird, fällt deutschen Soldaten in die Hände und wird der Kolonne wieder zugeführt. Jeder Kolonne folgte eine Gruppe von Häftlingen, deren Aufgabe darin bestand, ihre ermordeten Kameraden am Wegrand oder in den Wäldern zu verscharren, um die Spur des Todes zu verwischen. Der Weg der Häftlinge ist noch heute an den Steinen mit einem Roten Dreieck zu erkennen. Jeder dieser Steine steht für einen nachgewiesenen ermordeten KZ- Häftling.
Auf den Friedhöfen der betroffenen Gemeinden sind beigesetzt: Mieste 86 KZ-Häftlinge Wernitz 33 KZ-Häftlinge Solpke 23 KZ-Häftlinge Breitenfeld 20 KZ-Häftlinge Zichtau 10 KZ-Häftlinge Berge 8 KZ-Häftlinge
Wie groß die Zahl der Opfer aller Todesmärsche im Raum Gardelegen wirklich war, wird nie eindeutig zu klären sein. Von den 4 bis 5 000 Häftlingen, die sich im Raum Gardelegen zwischen dem 8. und 13. April befanden, werden bis zu 1 000 auf den Märschen nach Gardelegen und Burgstall umgekommen sein.
Romuald Back berichtet: --- Gegen 14 Uhr wurde unsere Kolonne in Marsch gesetzt. Wir marschierten durch den Ort Mieste und wurden nach etwa einer halben Stunde durch amerikanische Flugzeuge angegriffen und beschossen. Die Häftlinge liefen auseinander und zerstreuten sich in der Gegend. Bei der wiederholten Formierung der Marschkolonne halfen den SS-Leuten dabei deutsche Zivilisten aus Mieste, die mit Pistolen ausgerüstet waren. Nachdem die Kolonne wieder formiert war, zogen wir die Landstraße zwischen den Feldern entlang. In den Wald führte man uns erst, nachdem wir mehrere Kilometer zurückgelegt hatten. Danach marschierten wir noch etliche Kilometer. Unterwegs begegneten wir anderen Häftlingskolonnen. Neben der Straße stießen wir oft auf liegende Häftlinge, die anscheinend tot waren. Von unserem Transport sind die entkräfteten Häftlinge durch die SS-Wachleute erschossen worden. Einige Häftlinge versuchten zu fliehen. Diejenigen, deren Flucht missglückte, wurden erschossen.
Die Bewohner der Dörfer und Städte, durch die sich der Zug der Häftlinge bewegte, wurden Zeuge der Morde und das Leid der Häftlinge. Ihre Reaktionen waren sehr unterschiedlich, sie reichten von fanatischem Hass, Opportunismus, Gleichgültigkeit bis hin zu aktiver Hilfe und Widerspruch. So zeigte eine Bäuerin einen Häftling bei der SS-Wache an, der eine rohe Kartoffel aufgehoben hatte. Er wurde von der SS erschossen. In manchen Orten beteiligten sich 14 und 15 jährige Hitlerjungen und Angehörige des Volksturms an der Suche nach entflohenen Häftlingen. Sie veranstalteten regelrechte „Treibjagden“ in den Wäldern und durchsuchten die Scheunen und Gehöfte. Es hat aber auch Bewohner gegeben, die unter Lebensgefahr Häftlingen geholfen haben, sei es durch Lebensmittel, Verstecken, einfach Schweigen oder falsche Antworten geben, wenn die Häscher nachfragten. In Solpke versuchten einige Frauen den Häftlingen Brot zu geben, sie wurde von den SS-Wachen geschlagen und zogen sich verängstigt in ihre Häuser zurück.
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Auch in Breitenfeld wollten einige Bewohner den entkräfteten Häftlingen Essen und Trinken geben, auch sie wurden von den Wachen daran gehindert. In den Waggons auf dem Bahnhof Miste blieben etwa 200 bis 300 kranke Häftlinge zurück. Dem Bürgermeister, Adolf Krüger, gefiel diese Situation nicht, er wollte die KZ-Häftlinge auf keinen Fall weiter in seinem Dorf haben. Ob von Gardelegen die Anweisung zum Abtransport gekommen ist, ist nicht bekannt. Er hat die Initiative ergriffen und die Bauern aus dem Ort mussten auf dem Bahnhof mit ihren Gespannen erscheinen, und die kranken Häftlinge mit ihren Wagen nach Gardelegen fahren. Die noch gehfähigen folgten den Wagen. Dieser Transport nahm den direkten Weg über Wernitz – Solpke - Solpke Süd und Weteritz nach Gardelegen, wo diese Gefangenen am 12. April angekommen sind.
Herrmann Schulz aus Miste berichtet: --- Der Bürgermeister bestellte Fuhrgespanne, auf denen die Kranken weiterbefördert werden sollten. Die noch fähig waren zu gehen, sollten sich dem Tross anschließen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht, da der Zugverkehr eingestellt worden war. Auf der Landstraße versammelten sich die Gespanne, und der Abtransport begann. Nachdem der Transport Mieste verlassen hatte, wurden von uns die Waggons nachgesehen, ob not Tote darauf waren. Die Gräber, in denen die Toten verscharrt worden waren, wurden mit Chlor bestreut und weitere Erde darauf geschüttet. ---
Ein Bauer aus Solpke berichtet: --- Am 11. April gegen Abend erreichte, aus Mieste kommend, ein Transport von 80 bis 100 Häftlingen Solpke. Sie wurden von zwei Wachmännern begleitet. Die Häftlinge wurden in der Scheune des Bauern Fritz Schulze für die Nacht untergebracht. Am Morgen des 12. April erfolgte der Weitertransport nach Gardelegen. ---
Bergfriede Am 9. April wurde bei Bergfriede ein Häftlingstransport aus dem Nebenlager Ilfeld des KZ-Dora durch Fliegerangriff gestoppt. Transportführer war der SS-Unterscharführer Hermann Rose, der Lagerführer SS-Unterscharführer Werner Wachholz hatte sich inzwischen abgesetzt. Die Bewachung bestand aus 13 SS-Männern. Die etwa 300 KZ-Häftlinge waren am 4. oder 5. April in Illfeld losmarschiert. Nach einem Marsch von etwa 60 km wurden sie am 6 oder 7. April in Osterode in sechs offenen Waggons verladen und erreichten über Seesen, Braunschweig und Oebisfelde, wo der Transport einen Tag gestanden hat, die Altmark.
Rudolf Rybka erinnert sich: --- Wir haben Bergfriede erreicht, wo wir in den offenen Kohlenwaggons durch Tiefflieger mit Bordwaffen und Bomben angegriffen wurden, obwohl unsere Zebrakleidung erkennbar war. Nach dem Fliegerangriff und dem Ausfall unserer Lokomotive gingen wir durch die Wälder. ---
Die Häftlinge laufen über Taterberg, Miesterhorst, Himmelreich an Peckfitz, Tarnefitz und Sichau vorbei durch die Wälder Richtung Estedt, wo sie wahrscheinlich am 10. April angekommen sind. Die Häftlinge aus Bergfriede waren die Ersten, die in der Umgebung von Estedt gelagert haben. Die 2 bis 300 Häftlinge des Ilfeld-Transport wurden nach Erreichen Estedts von den begleitenden SS-Leuten verlassen.
Rudolf Rybka weiter: Zu den Häftlingen, die nicht weiter konnten, sagte die SS, sie sollten alle auf einem Haufen bleiben, es kommen Lastwagen. Wir gingen weiter und waren nicht mehr als 400 bis 500 Meter fort, und die SS schoss die sitzengebliebenen Häftlinge nieder. ---
Der Landwirt Walter Neubauer aus Estedt erinnert sich: --- Es wird am 9. Oder 10. April gewesen sein, als ich nachmittags einen großen Trupp von Häftlingen, es sind verschiedene Hundert Häftlinge gewesen, aus dem Wald zum Bahnhof herunterkommen sah. Der gesamte Trupp wurde nach Wiepke geleitet und hat sich, wie ich einige Tage später beim Schanzen in Wiepke gesehen habe, im „Grauen Busch“ zwischen Wiepke und Schenkenhorst gelagert. An dem betreffenden Morgen habe ich verschiedene Lagerfeuer im „Grauen Busch“ gesehen. Die Wachmannschaft hatte diesen Transport bereits verlassen. ----
Estedt Die Häftlinge aus Bergfriede erreichten als erste Estedt und lagerten zwischen Estedt und Wiebke. Ihre Bewacher hatten sich aus dem Staub gemacht, die Häftlinge waren sich selbst überlassen. Dazu muss man sagen, dass diese Häftlinge über keine Führung verfügten, es waren keine Häftlinge darunter, die die Führung übernehmen konnten oder wollten, und sie waren durch den Transport und Marsch völlig erschöpft. Sie waren den sich in Estedt aufhaltenden Soldaten hilflos ausgeliefert. Die Bewohner des Dorfes haben sich vor den elenden Gestalten gefürchtet, oder waren von der Nazipropaganda verblendet und haben überwiegend keine Hilfe gewehrt. Erst als die anwesenden Soldaten begannen Häftlinge zu ermorden, regte sich widerstand. Wilhelm Berlin, der am 11. April die ersten Häftlinge in Estedt gesehen hat, versuchte das Dorf aus den kommenden Geschehen herauszuhalten. Mit dem Auftauchen der Fallschirmjäger unter dem Kommando von Oberleutnant Hockhauf gegen 3 Uhr nachts des 12. April änderte sich die Situation schlagartig. Der zusammengerufene Volkssturm erhielt den Befehl, die entlaufenen Häftlinge wieder aufzugreifen. Einige Volksturmmänner weigerten sich, andere befolgten den Befehl. Es begann eine Jagd auf die Häftlinge im Dorf und in den Wäldern.
Walter Neubauer weiter: --- In der Nacht, als ich zum Schanzen bei Wiepke durch die in Estedt lagernden Fallschirmjäger kommandiert wurde, bin ich um 3 Uhr morgens geweckt worden. Ich wurde aufgefordert, mit anderen Volksturmmännern kranke Häftlinge zu erschießen. Das haben wir abgelehnt. Dann hat man uns zu zwei in der Feldmark erschossenen Häftlinge geschickt, sie zu begraben. Einer davon war bereits tot. Den zweiten Häftling konnte ich retten. Er verbarg sich in einer Scheune. Mitten im Dorf an der Hauptstraße bei der Schmiede habe ich vier oder fünf Häftlinge, die erschossen worden waren, liegen sehen. ---
Anmerkung: Es ist nicht zweifelsfrei zu klären, von wem die Erschießungen in Estedt durchgeführt wurden. Zeitzeugen berichten von Fallschirmjägern, andere von Luftwaffensoldaten, manche von Angehörigen der SS. Sicher ist, dass sich unter den nach dem Gefecht am 14. April zwischen Wiepke und Estedt durch die Bevölkerung geborgenen Gefallenen kein Fallschirmjäger und SS-Männer befunden haben. In den amerikanischen Berichten werden keine Fallschirmjäger weder als Tote noch als Gefangene aufgeführt. Es ist anzunehmen, dass sich die „Helden“ vorher abgesetzt haben. Im Tageslagebericht G-2 der 102. US-ID vom 10. Mai ist vermerkt: --- Betrifft 13.04.45 in Estedt. Mehrere Wagenladungen toter KZ-Häftlinge wurden nach Estedt gebracht. Andere Häftlinge mussten ein Massengrab ausheben und wurden auf Befehl von Oberleutnant Hockhauf danach angeblich erschossen. Oberleutnant Helmut Hockhauf, 3. Kompanie, Fallschirmjäger-Sammelstelle Gardelegen, soll der SS-Begleitmannschaft Hilfestellung bei der Bewachung von zu überführenden Häftlingen geleistet haben. Der Mann wird in die Fahndungsliste des CIC aufgenommen.
Ewald Wendel aus Estedt berichtet: --- Wir sollten zwischen Estedt und Wiepke schanzen. Es waren außer mir noch einige alte Männer, Schuster Schulz und einige andere, die aber inzwischen schon verstorben sind. Wir wurden auf halbem Wege zurückgeschickt und sollten, wie man uns sagte, einige Tote Soldaten begraben. Als wir in die Schenkenhorster Straße kamen, sahen wir aber tote und lebende Häftlinge im Graben liegen. Es wurden zwei Fuhrwerke geholt, und wir mussten die Toten auf die Fuhrwerke laden. Die lebenden Häftlinge mussten aufsteigen, und der ganze Transport ging am Bahnhof vorbei zur Sandkuhle. Er wurde von einem Feldwebel und sechs Fallschirmjägern begleitet. Wir wurden gezwungen, den Transport ebenfalls zu begleiten. In der Sandkuhle lagen schon zahlreiche tote Häftlinge. Wir wurden dann gezwungen eine lange Grube auszuheben. Wir glaubten immer noch, dass es sich um die Beerdigung der vielen toten Häftlinge handelte. Dann aber, als die Grube fertig war, geschah das Grauenvolle. Die noch lebenden Häftlinge, es waren ungefähr dreißig ausgemergelte Gestalten, wurden sämtlich durch Genickschuss getötet, nachdem sie sich an den Rand der Grube niederknien mussten. Ich konnte das Schreckliche nichtmehr mit ansehen und wollte fort. Da wurde ich vom Feldwebel mit den Worten bedroht: „Wenn Du verschwindest, dann ergeht es Dir ebenso wie diesen.“ So musste ich denn bis zuletzt der Ermordung beiwohnen. ---
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Der polnische Zwangsarbeiter Henryk Kostrzewa berichtet: --- Die Häftlinge, die noch am Leben waren, wurden am Rand der Grube in einer Reihe aufgestellt und bekamen Befehl, auf die Knie zu gehen, mit dem Gesicht zur Grube gewandt. Dann gingen die Soldaten die Soldaten von einem zum Nächsten und schossen ihn ins Genick. Diejenigen, die nicht von selbst in die Grube stürzten, wurden von den Soldaten mit einem Fußtritt hinein befördert. Dann traf noch ein Pferdefuhrwerk ein, auf dem sich dreißig lebende Häftlinge und fünf Leichen befanden. Sie wurden von dem Wagen gestoßen, während wir unsere Spaten nahmen und die Leichen in der Grube mit Erde bedecken mussten. Danach mussten auch sie sich hinknien und bekamen ebenfalls einen Genickschuss. Ich sah zwei meiner polnischen Brüder, die sagten zu den Soldaten, die Menschen hätten doch nichts Böses getan, und fragten, warum sie sie erschießen wollten. Der Soldat sagte, „Schnauze halten“ und erschoss die beiden. Alle Soldaten schienen Spaß an ihrer Tat zu haben und rauchten Zigaretten. ---
Henryk Kostrzewa war nach dem Überfall auf Polen in deutsche Gefangenschaft geraten und als Kriegsgefangener nach Deutschland gekommen. Er arbeitete auf einem Bauernhof in Estedt.
Wann und wo Häftlinge im Umfeld von Estedt ermordet wurden, oder an den Strapazen gestorben sind, ist kaum zu ermitteln. Der überwiegende Teil der Häftlinge ist nach Gardelegen weiter gezogen. Ihr Weg ist gesäumt von Toten und Erschöpften. Die ersten Häftlinge erreichten am 12. April Gardelegen.
Der Schmiedemeister Heinrich Weber aus Estedt erinnert sich: --- Als Schmiedemister bin ich in diesen Tagen beruflich in verschiedenen Gemeinden gewesen und habe in den Wäldern immer wieder die Leichen der erschossenen Häftlinge gefunden oder habe von weitem zusehen müssen, wie Erschießungen stattfanden. So zum Beispiel zwischen Estedt und Laatzke oder mitten im Dorf zwei Häftlinge.---
In einem holländischen Bericht werden die Ereignisse folgendermaßen geschildert: --- Eine der größten Exekutionen durch Soldaten der Luftwaffe fand am 12. April in der Sandkuhle westlich von der Bahnstation in Estedt statt. Auf Befehl von NSDAP-Ortsgruppenleiter Fritz Korts, zwang eine Gruppe von Fallschirmjägern unter einem Oberleutnant Helmut Hockhauf (In anderen Berichten wird von einem Hauptmann der Luftwaffe gesprochen) die erschrockene Bevölkerung die toten und lebenden Gefangenen mit einigen Wagen nach der Grube zu bringen. Polnische Zwangsarbeiter und drei Deutsche Bürger bekamen den Auftrag zwei lange Gräben auszuheben. Die Gefangenen wurden in vier Gruppen vergraben, drei mit 30 bis 35 Toten, eine mit 10 Mann und eine mit vier Mann. Die Toten Gefangenen wurden in die Gruben geworfen. Die Lebenden mussten an den Rand knien und bekamen von den Fallschirmjägern einen Genickschuss. Die Gefangenen aus der zweiten Gruppe mussten die aus der ersten mit einer Lage Sand bedecken und wurden dann auch erschossen. Ein Pole flehte einen Soldaten um sein Leben an, doch auch er wurde erschossen. Die Soldaten amüsierten sich darüber und rauchten während der Exekution ihre Zigaretten. Nach der Exekution wurden die Gruben mit den 104 Toten zugeschaufelt. Im Dorf wurden noch weitere 10 Tote gefunden und in der Sandkuhle vergraben. Am Nachmittag erschien der Sohn vom Ortsgruppenleiter, Hans-Joachim Korts, und überbrachte die Anweisung, dass keine weiteren Erschießungen durchzuführen sind, und alle Gefangenen in die Remonte-Schule nach Gardelegen zu bringen seien. 80 bis 100 Mann von der Gruppe im Grauen Busch waren übergeblieben. ----
Am Mittag des 13. April wurden die letzten im Grauen Busch lagernden Häftlinge nach Estedt geholt und dann weiter nach Gardelegen gebracht.
Walter Neubauer darüber: --- Mit drei Wagen haben wir etwa 100 Häftlinge nach Estedt gebracht. Da der Bürgermeister es ablehnte, die Häftlinge hier unterzubringen, mussten wir nach Gardelegen fahren. Der Bürgermeister hatte die Mitteilung bekommen, dass die Häftlinge in Gardelegen den Amerikanern, die ganz in der Nähe waren, übergeben werden sollten. Um die Häftlinge aus unserer Gemeinde, in der die Fallschirmjäger rücksichtslos Erschießungen vornahmen, habe ich das gemacht und unterwegs Häftlingen die Flucht ermöglicht, denn Bewachung war nicht dabei. Die Häftlinge wurden von den französischen Kriegsgefangenen, deren Lager sich hier und in der Gegend von Ackendorf befand, gerettet. ---
Roumald Bak erinnert sich: --- Am Bahnhof erhielten wir von einigen Deutschen, die durch den Bürgermeister angeführt wurden, ein kleines Stückchen Brot und etwas schwarzen Kaffee. Zum Weitertransport nach Gardelegen wurden uns vier Wagen ohne Bewachung zur Verfügung gestellt. Wir begegneten auch Zivilisten, die aus Gardelegen zurückkehrten. Als die Leute uns ohne Bewachung fahren sahen, begannen sie plötzlich uns zu warnen, nach Gardelegen weiterzufahren. Eine ältere Frau erklärte uns weinend, dass sämtliche Häftlinge niedergeschossen werden. Diese Warnung betrachteten wir als übertrieben. Einige von uns, denen die Frau versprochen hatte, Zivilkleidung zu geben, stiegen vom Wagen und gingen mit ihr in die Wohnung. Gegen 16 Uhr erreichten wir Gardelegen und begaben uns in die Kaserne. ---
Unterdessen war man in der Sandgrube eifrig damit beschäftigt, die Spuren zu verwischen. Neben den polnischen Zwangsarbeitern halfen auch Bauern aus dem Dorf die Leichen zu verscharren.
Im amerikanischen Bericht vom 23. Mai 1945 zu dem Massaker im Raum Gardelegen steht zu Estedt: --- Eine andere Gruppe von Zivil-Häftlingen musste am Abend des 12. April unter Bewachung von Wehrmachtssoldaten von Wahlbeck (?, es könnt Wenze gemeint sein) nach Wiebke marschieren. Diese Häftlinge wurden unweit von Wiepke aufgrund der Annäherung amerikanischer Truppen von ihren Wachen verlassen. Sie wurden von Fallschirmjägern der Wehrmacht unter dem direkten Kommando von Oberleutnant Helmut Hockhauf unweit von Estedt zusammengetrieben. 110 dieser Häftlinge wurden, ohne Anlass dazu gegeben zu haben, von den Fallschirmjägern erschossen und in Gruben begraben. Weitere 80 Häftlinge wurden am 13. April 1945 zusammengetrieben und zur Remonteschule in Gardelegen geschafft. ---
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Ein kurzer Blick auf die Lage am 13. April 1945 Die drei Kampfkommandos der 5. US-Panzer-Division hatten aus dem Raum Gifhorn kommend am 12. April die Elbe bei Tangermünde, Sandau, Werben und Wittenberge erreicht. Sie begannen das Hinterland von deutschen Soldaten zu säubern. Die beiden zum XIII. US-Armee-Korps gehörenden Infanterie-Divisionen waren auf dem Weg zur Elbe. Die 84. US-ID rückte in den Bereich Bömenzien – Seehausen vor, während die 102. US-ID den Anschluss zum XIX. US-Armee-Korps an der Südflanke herstellen sollte. Die 30. US-ID vom XIX. US-Armee-Korps war am 12. April aus dem Raum Braunschweig nach Osten vorgegangen. Das verstärkte 117. US-IR marschierte am Vormittag des 13. April über Born – Dolle – Lüderitz an Gardelegen vorbei Richtung Tangermünde. Bei Lüderitz traf die Regimentsspitze auf die Vorposten der 5. US-PD, die dort seit dem 12. April Stellung bezogen hatten. Gegen 12 Uhr erhielt das 117. US-IR den Befehl nach Süden einzuschwenken, um über Tangerhütte nach Rogätz vorzugehen. Am Abend des 13. April war auch in diesem Bereich die Elbe erreicht. Um die Fährstelle Rogätz wurde bis zum 14. April gekämpft. Die 102. US-ID dringt in zwei Marschgruppen aus dem Raum Hannover kommend in die Altmark ein. Das 405. US-IR sollte von Meine – Fallersleben – Oebisfelde – Jeggau – Breitenfeld – Schwiesau – Zichtau - an Gardelegen vorbei nach Stendal vorgehen. Die Angriffsspitze trifft am 13. April vor Schwiesau und Breitenfeld auf eine Vorpostenstellung. Es kommt zu einem kurzen Gefecht. Am 12. April war eine Aufklärungsgruppe des 561. Feld-Artillerie-Bataillon in Klötze von der Hauptvormarschstrecke abgebogen und näherte sich gegen 16 Uhr Zichtau. Die Patrouille scheint sich recht sicher gefühlt zu haben, bevor sie in einen Hinterhalt geraten ist Die Amerikaner werden mit Maschinenwaffen und Panzerfäusten beschossen. Der Jeep von Hauptmann Karl O. Holliday, Sergeant Andrew V. Mc. Donald, Soldat Floyd F. Smifh und Lewis Szakacs, alle von der Stabskompanie, wurde von einer Panzerfaust getroffen. Die vier Insassen werden getötet. Die Gruppe von Hauptmann Woodling von der B Batterie musste sich ergeben. Gefreiter John Eagen, Leutnant Col. White, Feldwebel Ronald Routhier, Feldwebel Walter Hurford, Stabsfeldwebel Arthur Forbes, Gefreiter Louis Soukey, Gefreiter William Lackner und Soldat Don Mc. Mannamy geraten in Gefangenschaft. Sie werden nach Gardelegen gebracht, wo sie einige Tage später von ihren Kameraden mit weiteren 16 amerikanischen Gefangenen befreit werden.
Anmerkung: Das 561. Feld-Artillerie-Bataillon gehörte zur Korpsartillerie und war nach dem Rheinübergang der 5. US-PD zur Unterstützung angegliedert. Es operierte am 12. April im Verband des Kampfkommandos B, welches den Raum Osterburg – Sandau zum Ziel hatte.
Gardelegen wurde vom 2. Bataillon des 405. Infanterie-Regiments der 102. US-ID besetzt. Diese Division war als Reservedivision 1921 in Missouri und Kansas aufgestellt worden und bis 1942 nur auf dem Papier existent. 1942 wurden 15 000 Soldaten aus diesen beiden Südstaaten eingezogen und in eine Ausbildungsbasis nach Texas verlegt. Am 12. September 1944 wurden die Soldaten samt Ausrüstung in New York eingeschifft und im französischen Hafen Cherbourg entladen. Am 3. April überquerten die Soldaten der Division den Rhein, am 8. April war Bielefeld erreicht und am 12. April begann der Vormarsch zur Elbe, um den geplanten Brückenschlag in der Nacht vom 14. zum 15. April zu unterstützen. Das 2. Bataillon vom 405. US-IR der 102. US-ID erreichte am Abend des 13. April Schwiesau und stoppt dort den Vormarsch, das 3. Bataillon sammelt in Breitenfeld. Am 14. April wird der Vormarsch des verstärkten 405. US-IR Richtung Elbe fortgesetzt. Das 1. Bataillon marschierte Richtung Stendal, das 3. Bataillon erreicht den Raum Erxleben – Osterburg, während das 2. Bataillon nach Gardelegen einschwenkt und die Vorpostenstellungen im Wald von Schwiesau und Zichtau, als auch die Stellungen zwischen Wiepke und Estedt durch einen konzentrierten Angriff mit Panzer- und Artillerie-Unterstützung beseitigt. Das 2. Bataillon wird dabei von der B Kompanie des 701. Panzer-Bataillons, dem 379. Feld-Artillerie-Bataillon (eine Batterie) und der C Kompanie des 771. Panzerabwehr-Bataillons unterstützt. Nachdem die Vorpostenstellungen im Wald vor Wiepke ausgeräumt waren, bekamen die Soldaten gegen 10 Uhr erneut Sperrfeuer aus leichten Waffen und zwei Flugabwehrgeschützen. Diesmal aus Richtung Estedt. Auch diese Stellungen werden vom 2. Bataillon mit Panzer- und Artillerieunterstützung ausgeräumt. In ihrem Bericht schreiben die Amerikaner von vielen Toten und über 120 Gefangenen. Für das 2. Bataillon ist es das härteste Gefecht seit dem Rheinübergang.
Im amerikanischen Bericht heißt es: --- Ein Zug vom 405. IR geriet zwei Meilen vor dem Regiment in einen Hinterhalt. Obwohl von einem fanatischen Gegner aus 200 Fuß (etwa 70 Meter) unter heftiges Feuer genommen, wehrten sie sich mit großer Tapferkeit gegen die Übermacht, waren dann aber gezwungen zu weichen. Erst als weitere Kompanien vom IR eintrafen, brach die Abwehr der Feinde zusammen und sie wurden einzeln in ihren Löchern beseitigt. Während dieses Kampfes wurde eine große Anzahl von Feinden getötet und gefangengenommen. Ein Beispiel für besondere Tapferkeit vollbrachte an diesem Tag Sgt. Paul J. Padgett aus Detroit. Sein Arm war von einer Kugel durchbohrt, dennoch stürzte sich Jerry Padgett auf den Feind in seinem Loch, entwendete dem Kraut (Deutschen) sein Gewehr, dann tötete er ihn mit seiner eigenen Waffe. ---
Gegen 16 Uhr gruppieren die Amerikaner um und wollen den Angriff fortsetzen, als Oberstleutnant von Einem, der Kommandeur der Fallschirmjäger-Untersuchungsstelle bei Leutnant Emerson Hunt vom 701. Panzer-Bataillon auftaucht und die Übergabe anbietet. Von Einem will aber nur vor einem gleichrangigem Offizier Kapitulieren. Die Amerikaner respektieren seinen Wunsch und beorderten den Kommandeur des 405. US-IR, Oberst Williams nach vorn. Erst gegen 19 Uhr des 14. April wurde Gardelegen von Oberst von Einem am den Kommandeur des 405. US-IR, Oberst Williams übergeben, genau 24 Stunden nach Beginn der Mordaktion.
Kurz nach 19 Uhr geht beim Divisionsstab folgender Funkspruch ein: --- Gardelegen hat sich unserem 405. Regiment um 19.00 Uhr ergeben. Erbitte, dass alle unsere Einheiten informiert werden, nicht auf Gardelegen zu feuern, da dies Teil des Kapitulationsabkommen ist. Erbitte, dass so bald als möglich Kontrolle über die Stadt hergestellt wird. ---
Im amerikanischen Bericht steht: --- Pünktlich um 19 Uhr tauchte er (von Einem) mit seiner Limousine, Motoradeskorte und weißer Fahne auf, um Oberst Williams in die Stadt zu begleiten, wo die gesamte Besatzung ihre Waffen bereits gestapelt hatte und zur Übergabe ordentlich aufgestellt war. Mit dieser anständigen, wenn nicht feierlichen Note endete der Kampf um Gardelegen. Aber sicher war die Übergabe nicht zeitgemäß, weil sie die gespenstischen Aktivitäten an einer Scheune unterbrochen hat. Schnell ausgehobene Massengräber bestätigten die Eile, mit der alle Beweise einer Gräueltat versteckt werden sollten. Einen Tag später wäre keine Spur geblieben. ---
Weitere Tote deutsche Soldaten wurden durch Bewohner von Wiepke und Estedt geborgen und bestattet. Am 14. April macht die 102. US-ID insgesamt 1 413 Gefangene, allein in Gardelegen ergeben sich 800. Gardelegen und das umliegende Gebiet lag bis zum Abend des 14. April in einem unbesetzten Abschnitt zwischen den beiden US-Armee-Korps. Die Amerikanischen Verbände strebten zur Elbe, noch hatten die Frontkommandeure Berlin im Visier. Der Brückenschlag sollte in der Nacht vom 14. auf den 15. April zwischen Sandau und Wulkau erfolgen, wird aber in letzter Minute abgeblasen. Die amerikanischen Verbände verharren an Elbe und Mulde und warten dort auf die verbündeten sowjetischen Truppen.
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Der Krieg erreicht Estedt Am Vormittag des 14. April wurde Estedt von den Auswirkungen des Kriegs erreicht. War man bisher von Zerstörung und Tot weitgehend verschont geblieben, schlugen nun amerikanische Granaten im Dorf ein. Die amerikanische Angriffsspitze des 405. US-IR, in diesem Fall das 2. Bataillon beseitigte mit Unterstützung der unterstellten Panzer- Panzerabwehr- und Artillerie-Einheiten die Vorpostenstellung zwischen Wiepke und Estedt. Bei dem stundenlangen Gefecht kam es im Dorf zu Bränden und Beschädigungen. Es gab Verluste an Vieh und der Müllermeister Erich Schuntermann ist im Lazarett seiner Verwundung erlegen.
Emil Schwerin schreibt in sein Tagebuch: --- Von den Leiden des 2. Weltkrieges blieb auch Estedt nicht verschont. Wohl erreichten die grauenvollen und zerstörerischen Geschehnisse unser Dorf erst in der letzten Kriegsphase, dann aber unbarmherzig und grausam. An sonnigen Märztagen zogen Heerscharen von Leuten in Sträflingskleidung (der Begriff KZ-ler war in diesem Zusammenhang noch eine unbekannte Redewendung). Durch die Lande. Auch Estedt durchwanderten teils versprengte, teils größere Gruppen. Viele versteckten sich in Scheunen und Wirtschaftsgebäuden. Sie erzählten den erstaunten Dorfbewohnern von ihrer Herkunft und ihren Leiden und berichteten von planlosen Märschen. Zwangsarbeiter aus Lagern in der Harzgegend, Frauen aus einem mecklenburgischen Frauenlager, aus Ghettos in westdeutschen Bereichen, aus den vielfältigsten Richtungen unseres Landes durchquerten sie ziellos zwischen den herannahenden Fronten den mitteldeutschen Raum. (In Estedt und Wiepke hatte der Marsch einer größeren Gruppe französischer Kriegsgefangener aus einem Lager im Osten sein Ende gefunden). Anfand April kam der Kanonendonner stetig näher. Die Molkerei stellte den Betrieb ein. Die gemolkene Milch kam schnellstens zur Verteilung. Noch nie wurde in Estedt so viel Brot gebacken, wie in diesen Tagen. Desgleichen waren gekochte Kartoffeln das Hauptnahrungsmittel. Bei aller Fürsorge kam die Angst vor unbelehrbaren Nationalsozialisten bzw. uniformierten Vaterlandsverteidigern hinzu, die bei Zuwendungen rücksichtslos mit der Schusswaffe drohten. Zum größten Unglück für Estedt bezog eine Militäreinheit, bestehend aus sehr jungen bis allerjüngsten Soldaten, eine Verteidigungsstellung am Nordrand von Estedt, um die heranrückenden, amerikanischen Panzerverbände aufzuhalten. Am Morgen des 4. April 1945 beschoss ein Tiefflieger das Dorf, hatte aber glücklicherweise keinen nennenswerten Schaden angerichtet. Unser Haus wurde von 2 Einschüssen getroffen. Eine Kugel war im Fensterladen steckengeblieben und eine zweite traf im Wohnzimmer eine Weinflasche. Bei Eggerts landete ein Geschoss im Schlafzimmer neben dem Bett. Gegen 10 Uhr dieses Tages geschah dann draußen auf dem Acker etwas Schlimmes. 2 Gespanne, (ein Kuh- und ein Pferdegespann) die zum Pflügen auf dem Feld waren und am Waldrand frühstückten oder aber auch Schutz gesucht hatten, wurden vom Flugzeug beschossen. Beide Gespannführer, Herr Heinrich Schulze, Hof 35, aus Estedt und Herr Paul Wienecke aus Laatzke, waren tot, ebenso die Pferde und Kühe. Das war ein großer Schreck und ein Schock. In der Woche darauf, in der Nacht vom 11. Zum 12. April, war der traurige Zug, der aus einem KZ herausgeführten Menschen, ins Dorf gekommen. Ihre Bewacher hatten sie verlassen, weil sie Angst vor den Amerikanern hatten, die schon ganz in der Nähe waren. Nun waren die bedauernswerten Leute frei und sie suchten im Schutz der Nacht Unterschlupf in Ställen und Scheunen. Das Verhängnis aber war, dass sich im Dorf noch eine SS-Einheit befand. Diese richteten dann am Morgen ein grausiges Blutbad an. Einige der elenden, halbverhungerten Menschen, die auf der Dorfstraße um Brot baten, wurden auf der Stelle erschossen. Alle anderen, wie sich später herausstellte waren es 111, wurden zusammengetrieben und zum „Klöterpott“ (eine Kiesgrube hinter dem Waldrand der angrenzenden Hellberge) hochgeführt. Hier wurden sie auf grausame Weise ermordet und in einem Massengrab verscharrt. Soweit waren sie gekommen, das Kriegsende in greifbarer Nähe, und hier mussten sie noch sterben. Wir Dorfbewohner erfuhren erst spät am Tag von dem schrecklichen Geschehen. Abends kam dann Bescheid, dass niemand mehr erschossen werden durfte und diejenigen, die sich noch verborgen gehalten hatten, sollten sich sammeln. Der Bürgermeister ließ sie verpflegen. Wir brachten Essen in das Spritzenhaus, wo sie untergebracht waren. In unserer Feldscheune, eine hölzerne Scheune 300 m vor dem Dorf gelegen, hatten Walter Neubauer und ich einen Verletzten untergebracht und verpflegt. Weil wir nun daran glaubten, was versprochen war, holte ihn unser Pole mit dem Einspänner-Wagen herunter ins Spritzenhaus. Am anderen Tag wurden alle mit mehreren Gespannen nach Gardelegen gefahren. Was dann geschah, war für uns unfassbar. Hatten wir gar nichts zugelernt und waren so gutgläubig? Konnten wir uns so etwas Teuflisches von Menschenmachenschaften gar nicht vorstellen? Es war eine Tragödie, die sich dann in Gardelegen in der Feldscheune der Isenschnibbe abgespielt hat. Wären hier in Estedt nicht so fanatische SS-Offiziere gewesen, die das Dorf unbedingt verteidigen wollten, wäre das Unglück in der Feldscheune vielleicht gar nicht passiert, da die Amerikaner dann Gardelegen früher erreicht hätten. Es herrschte der reinste Wahnsinn. Sonnabend, der 14. April, kam. Wir waren alle verunsichert, wussten nicht, ob wir die Kühe auf die Weide treiben oder im Stall lassen sollten. Es war ein bitteres Gefühl, auf den bevorstehenden Kampf zu warten. Einige Kompanien besetzten die Höhen nordwestlich des Dorfes, um den Angriff der Amerikaner abzuwehren. Zwei Batterien bezogen Stellung. Eine am Nordausgang, gleich hinter dem Bahnübergang, und die zweite dicht an der Schenkenhorster Straße. Voller Unrast und Sorge verbtrachten wir die ersten Stunden des Tages, bis die erste Granate bei Schulzes im Garten einschlug. Nun flüchteten wir in die Keller und überlebten darin den ersten Beschuss, der zwei Stunden dauerte. Dann trat eine Pause ein, und wir hofften, dass das Gefecht vorbei sei. Ich aber war anderer Meinung und dann ging der Kriegslärm erst richtig los. Stundenlang. Zuletzt rollten Panzer an, und Maschinengewehrgarben durchpeitschten das Dorf. Auf einen Schlag verstummte das Feuer. Und wir stiegen heraus aus unserem Keller. Alles war in Rauch und Qualm gehüllt, es brannte an vielen Stellen. Nachdem unter großen Mühen die Brandherde gelöscht waren, konnten wir den Schaden einigermaßen übersehen. Fünf Scheunen waren abgebrannt, dazu zwei Wohnhäuser, die Bäckerei und einzelne Stallungen. Beschädigt waren noch viele Gebäude. Vier Kühe, zwei Stuten, ein importierter Deckhengst und ein Fohlen waren tot. Unser Müllermeister, Erich Schuntermann, wurde schwer verwundet und von den Amerikanern mitgenommen. Er ist in Braunschweig gestorben. Neun deutsche Soldaten, die Bedienung des Geschützes am Bahnübergang, fanden den Tod. Sie liegen auf dem Friedhof in Estedt begraben. ---
Über das Gefecht berichtet der Wiepker Lehrer Wilhelm Könnecke: --- Gegen 10 Uhr leerte sich die Straße auffällig. Die Amerikaner sammelten sich am oberen Straßenende und bald darauf beobachtete ich sie, wie sie in Schützenlinie zu jeder Seite der Reichsstraße 71 vorgingen. Ich erkannte vier große Panzer, die gleichfalls beiderseits der Chaussee über den Acker rollten. Jetzt warfen sich die Infanteristen zu Boden und eine heftige Schießerei nahm ihren Anfang. Einzelne Gewehrgeschosse klatschten gegen die Gebäude oder pfiffen über uns hinweg. Wir eilten in den Hauskeller, der gegen schwere Kaliber zu schwach war, aber gegen Inf. Waffen doch einen guten Schutz bot. Einzelne mot. Fahrzeuge rasten durch das Dorf. Am unteren Ende neben Hunds Garten hielt ein kleiner Flitzer mit einem aufgebauten Maschinengewehr. Das schoss fast pausenlos nach dem „Bindfeld“ und dem Estedter Busch hinüber. Die beiden Weideschuppen auf Buchholz und Webers Buchte wurden buchstäblich zersägt und zerschnitten. Ich konnte durch das Fernglas erkennen, wie der Gewehrschütze durch eine Art verlängerte Abzugsschnur wie bei einer Klingel das Maschinengewehr in Aktion setzte. Dabei lümmelte er sich neben sein Fahrzeug, eine Zigarette im Mundwinkel, und schaute wie selbstvergessen den weißen Frühlingswölkchen nach. In dieses Geknatter mischten sich bald gurgelnde Geräusche und die Abschüsse schwerer Geschütze, die an der Zichtauer Chaussee bei Rothekrug standen. So dauerte das Gefecht wohl mehrere Stunden, - ja manchmal dachten wir sogar, dass die Amerikaner zurückgeschlagen werden könnten. Nach einer gewissen Zeit stieg ich auf unseren obersten Hausboden, um mir aus dem Dachfenster einen Einblick in die Vorgänge zu verschaffen. Die vier panzer hielten neben dem Günthersberg und schossen aus ihren Kanonen nach Estedt hinüber. Auf Schmidts oberen Feldweg, auf dem Triftweg und auf der Chaussee sah ich kleine Trupps deutscher Soldaten die mit erhobenen Händen angelaufen kamen. Über Estedt stand eine große schwarze Rauchwolke. Allmählich ebbte der Gefechtslärm ab. Auf der Dorfstraße wuchs der Fahrzeugverkehr an. Zahlreiche LKWs, auch vereinzelte Panzer und Sa. Fahrzeuge rollten in beide Richtungen durch das Dorf. Ich vermied, mich von den Amis erblicken und befragen zu lassen, oder womöglich noch einmal in Gefangenschaft zu gehen. Am nächsten Tag war Sonntag (15.04.45). Auf der Straße schien alles ruhig zu sein. Über Estedt hatte gestern eine mächtige Rauchwolke gestanden und das beunruhigte uns. Meine Frau und ich machten uns auf den Weg nach dort, um uns nach dem Ergehen der Familie meines Onkels zu erkundigen. Vor dem Ortseingang von Estedt am Feldweg rechts zum Wald hinauf, standen zwei leichte Flakgeschütze. Im Dorf waren einige Scheunen abgebrannt. Viele Gebäude zeigten Einschlagstellen von Inf. Geschossen. Von dem Kirchturm aus festem feldsteinbau hatte eine Panzergranate ein Stück Mauerwerk herausgesprengt. Bei weinen verwandten war alles in Ordnung, so dass wir uns auf einen schnellen Rückweg begaben. Was wir unterwegs zwischen Günthersberg und Bahnübergang erblickten, jagte uns einen gewaltigen Schrecken ein: tote deutsche Soldaten in ihren Stellungslöchern.
Wie wir die gefallenen deutschen Soldaten beerdigten In Wiepke versuchte ich schnell einen Suchtrupp zusammenzustellen. Die jungen Frauen aus der Nachbarschaft waren bereit, mitzukommen. Es waren Irma Packebusch, Ilse Hildebrand, Ruth Berlin (evakuiert zu ihren Verwandten), eine Frau Lüneburg (evk. Aus Hamburg) und einige mir unbekannte Personen. Wilhelm Weber spannte seinen leichten Einspännerwagen an. Wir rechneten damit, auch noch Verwundete zu finden und nahmen Verbandszeug und Sachen für erste Hilfe mit. Die Verwundeten jedoch hatten die amerikanischen Sanitäter unterschiedslos mitgenommen. Ein großes, weißes Tischtuch banden wir an eine Stange und einer musste damit heftig winken, wenn ein Ami-Flitzer auf der Straße vorbeifuhr. Wir wollten uns damit irgendwie legitimieren, denn nach echter Wildwestmanier und Gangstermentalität ballerten die Amis wild in die Gegend, wenn sich im Gelände etwas regte. Noch nach Kriegsende sind mir amerikanische Kugeln um die Ohren geflogen.
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Überall auf dem Gefechtsfeld von gestern fanden wir Spuren eines heftigen aber ungleichen Kampfes: haufenweise Patronenhülsen und Berge von Kartuschen, wo die Amerikaner geschossen hatten. In den Stellungen der Deutschen lagen Panzerfäuste herum. Es wird sich keine Gelegenheit geboten haben, sie abzufeuern. Auf dem ganzen Acker zerstreut waren allerlei Kriegsgerät, wie Munitionskisten, Handgranaten, Gewehre, auch amerikanische. Bei den Schützenlöchern lagen Zeltbahnen, Decken, Rucksäcke, Kochgeschirre, Stahlhelme, Spaten u. a. herum. Tiefe Furchen hatten die Panzerketten auf dem Saatfeldern hinterlassen. Wir suchten das Gelände ab, identifizierten die Toten, nahmen ihnen die persönlichen Sachen ab und legten sie zu viert in drei ausgehobene Gruben auf dem Günthersberg. Später kamen noch zwei weitere hinzu. Ich fertigte sofort ein genaues Protokoll an. Fritz Grahlmann, der zu dieser Zeit Bürgermeister war, veranlasste, dass der Zimmermann Fritz Mewes aus weißen Birkenstämmen Kreuze anfertigte. Darauf befestigten wir Holztafeln, in die ich mit einem Brenneisen die Namen der Gefallenen eingebrannt hatte. Anfänglich hatten wir jedes Kreuz mit einem Stahlhelm behängt, aber die verschwanden bald, denn irgendwo machte man Kochtöpfe aus Stahlhelmen. Um 1955 sorgte unser Gemeindpastor Bernhard Sültmann aus Estedt dafür (er war um 1949 aus sowj. Kriegsgefangenschaft heimgekehrt), dass aus Kirchenmitteln hier ein Gedenkstein errichtet wurde. An einem „Findling“, der viele Jahre als „Stauchstein“ in der früheren Schmiede auf dem Grundstück von Fritz Serafin gedient hatte, ist eine Platte aus schwarzem Marmor (88 X 66 X 11 cm)befestigt. Sie trägt die Inschrift: „Hier ruhen – 16 deutsche Soldaten – gefallen am 14. April 1945 – Namen Den Toten zum Gedenken Den Lebenden zur Mahnung!“
Der Älteste war der 1910 geborene Werkmeister Artur Siems, der Jüngste war mit 17 Jahren Josef Nickel. Die Dienstgrade erstreckten sich vom Oberfeldwebel, über Unteroffiziere, Stabsgefreite, Gefreite bis zum Soldaten. Unter den Toten waren ein Werkmeister und ein Prüfmeister der Luftwaffe. Diese unterschiedlichsten Dienstgrade und Dienststellungen lassen vermuten, dass es sich um eine schnell zusammengestellte Truppe handelte, die sich vor Estedt den Amerikanern entgegenstellte. Im amerikanischen Bericht wird von zwei 2 cm Luftabwehrgeschützen berichtet, von denen sie beschossen wurden. Die Kampfgruppe bestand vornehmlich aus Soldaten der Luftwaffe und Personal vom Flugplatz Gardelegen. Es werden an keiner Stelle Fallschirmjäger erwähnt. Zu denken gibt, dass sich unter den 27 bekannten Toten kein Fallschirmjäger befindet. Auf dem Friedhof in Estedt wurden 11 deutsche Soldaten beigesetzt. Dabei soll es sich um die Bedienungen der beiden Flakgeschütze gehandelt haben. Eine Eintragung im Kirchenbuch erfolgte nicht. Es ist auch nicht bekannt, ob die Toten von einem Geistlichen gesegnet wurden. Die erste amerikanische Einheit, die Estedt erreicht ist ein Zug der B Kompanie vom 701. Panzer-Bataillon unter Leutnant Emmerson Hunt.
Die Zeit der amerikanischen Besetzung Wie in allen anderen Orten der Altmark, ziehen auch in Estedt amerikanische Soldaten ein. Nach den Panzersoldaten folgen Infanteristen und ab Ende April die D Batterie des 548. Luftabwehr-Bataillon der 102. US-ID. Außerdem wird um den 16. April der Hauptverbandsplatz des XIII. US-Armee-Korps im Wald bei Estedt aufgeschlagen und verbleibt dort wenigstens bis zum 5. Mai. Auf diesem Hauptverbandsplatz werden auch deutsche Verwundete versorgt. Nach der Erstversorgung durch amerikanische Ärzte erfolgte die Verlegung in Lazarette, z. B. in das Notlazarett für deutsche Kriegsgefangene auf dem Flugplatz in Gardelegen.
In Estedt zieht der Besatzungsalltag ein. Emil Schwerin schreibt in sein Tagebuch: --- Wir Deutschen hatten in den nächsten Tagen Ausgangssperre. Amerikaner, Polen und Franzosen beherrschten das Dorf. Etliche Familien mussten dafür ihre Häuser räumen. Auf unserem Hof waren viele Franzosen. Sie hatten schon einige Tage in der Feldscheune verbracht, weil sie nicht weiter nach Westen konnten. Sie waren als Kriegsgefangene in den befreiten Ostgebieten gewesen und auf dem Weg nach Hause. Eine Woche lag alle landwirtschaftliche Arbeit still, dann begann das Aufräumen und Ausbessern, aber wie schwer war das! Eine weitere Forderung nach der Einnahme von Estedt bestand in der Abgabe sämtlicher Schusswaffen, Seitengewehre, Munition jeglicher Art und Fotoapparate im Bürgermeisteramt. Binnen kürzester Zeit türmten sich die Anlieferungen im Amtszimmer einen Meter hoch. Ein trauriger Vorgang bei dieser Aktion ließ sich leider nicht abwenden. Bei einer Nachprüfung – Hausdurchsuchungen wurden vorgenommen – entdeckten die Besatzer in dem Haus von Wilhelm Fischer in einer Schublade in der oberen Etage eine Pistole, die Frau Lina Fischer nicht gefunden hatte. Hierzu muss angemerkt werden, dass es in früheren Zeiten nicht verboten war, Jagd- und Schusswaffen jeglicher Art zu besitzen. Das Haus sollte angezündet und abgebrannt werden. Weinend flehte Frau Fischer im Bürgermeisteramt den Kommandeur, Käptn. Piaetsh, an, noch einmal von der Maßnahme abzusehen. Auch das Bitten des Bürgermeisters, wurde abschlägig beschieden. Das Erlebte der vergangenen Tage hatte die Herzen der Sieger versteinern lassen. Das Wohnhaus wurde abgebrannt. Zu dem Ansehen des langjährigen Bürgermeisters, Wilhelm Berlin I, ist noch anzumerken, dass er stets taktvoll von den verantwortlichen amerikanischen wie auch später englischen Truppen-Kommandeuren behandelt wurde. Die Fürsprache der ausländischen Zwangsarbeiter, seine aufrichtige Einstellung zu allen Menschen und das er nie dem Nationalsozialismus gehuldigt hat, verliehen ihm Würde und Anerkennung. ---
Wilhelm Berlin war von 1928 bis zum 1. Juli 1945 Bürgermeister der Gemeinde Estedt. Er wurde gleich nach dem Einmarsch der Russen abgelöst und durch Walter Neubauer ersetzt. Wilhelm Berlin wurde bei den Russen angezeigt und verhaftet. Allerdings setzte sich der von den Russen eingesetzte neue Bürgermeister für ihn ein. Walter Neubauer wurde unermüdlich in Gardelegen bei der russischen Kommandantur vorstellig und kämpfte um die Freilassung von seinem Amtsvorgänger. Großes Gewicht hatte auch die Eingabe eines russischen Zwangsarbeiters, der als Sprecher von 150 russischen Zwangsarbeitern, die im April in Estedt Unterschlupf gefunden hatten, auftrat. Die Russen mussten Wilhelm Berlin nach 10 Tagen wieder entlassen. Die vorgebrachten Anschuldigungen des Denunzianten waren nicht zu belegen.
Am 9. Mai 1945 holte die Estedter die Vergangenheit ein. Bis zu diesem Tag hatten die toten KZ-Häftlinge in ihren Massengräbern in der Sandkuhle gelegen. Ein polnischer Zwangsarbeiter meldete Leutnant Kenneth L. Russ, dem Kommandeur der in Estedt liegenden D Batterie den Vorfall. Leutnant Russ informierte umgehend seinen Vorgesetzten Oberstleutnant William A. Calannan in Gardelegen. Der Ermittlungsoffizier wird nach Estedt gesandt und untersucht am 9. Mai die Massengräber. Er findet etwa 270 Meter vom Dorf entfernt zwei Gruben. Am 10. Mai wird die Exhumierung und ordentliche Beisetzung der Toten durch die männlichen Bewohner angeordnet, dabei findet man eine dritte Grube mit vier Leichen. Unter Aufsicht amerikanischer Soldaten, wurden die Toten ausgegraben, in weiße Leinentücher gehüllt und auf dem Neuen Friedhof in Einzelgräber beigesetzt.
Die Amerikaner müssen spätestens am 19. April durch die Vernehmung von Gefangenen von den Erschießungen in Estedt erfahren haben. Im G-2 Bericht der 102. US-ID vom 19. April ist vermerkt: --- Die Kriegsgefangenen haben jede Verbindung mit den im Folgenden beschriebenen Fällen bestritten, aber zugegeben, die Leichen von zwei politischen Häftlingen gesehen zu haben, in einem Wald im Raum Estedt, nördlich von Gardelegen. Die Identifizierung erfolgte aufgrund ihrer gestreiften Kleidung. Diese Information wurde durch Ermittler des CIC übermittelt, die mit dem Gefangenen Nachtigal am 19. April die betreffende Gegend inspizierten und dort die Leichen und Gräber vieler Häftlinge entdeckten, die erschossen worden waren oder denen man den Schädel zertrümmert hatte. Die Ermittler der Einheit, die den Bürgermeister von Estedt, einige Anwohner sowie befreite französische und polnische Gefangene vernahmen, fanden heraus, dass die Informationen über diese Vorgänge allgenmein bekannt waren. Eine der Möglichkeiten ist, dass eine nicht näher identifizierte Einheit von Fallschirmjägern aus Gardelegen Wachposten zur Begleitung der in Estedt ermordeten Häftlinge abgestellt hat und dass der Name des Mannes, der für den Vorgang verantwortlich ist, Helmut Hockhauf (oder Hockhaupt) lautet. ---
Am 12. Mai erfolgte die feierliche Einweihung des „Neuen Friedhofs“. Eine Ehrenformation des 548. Luftabwehr-Bataillons war angetreten und ein Feldgeistlicher segnete die mit einem Blumengesteck belegten Einzelgräber. In Mitten der mit einem Holzkreuz versehenen Einzelgräber erhob sich ein großes hölzernes Kreuz. Die Toten, die man in Mieste und Jävenitz aufgefunden hatte, wurden in gleicher Weise beerdigt.
Emil Schwerin schreibt in sein Tagebuch: --- die am 12. April so grausam ermordeten und noch in dem Massengrab in der Sandgrube auf dem Klöterpott verscharrt lagen, „ruhten“ dort bis Anfang Mai. Von der amerikanischen Militärregierung wurden dann alle Parteigenossen von Estedt, Schenkenhorst und Laatzke herangezogen zur Umbettung. Jeder Tote wurde in ein Bettlaken gehüllt, auf dem „Neuen Friedhof“ in ein eigenes Grab gelegt und mit einem Kreuz versehen. Zur Trauerfeier der 111 so sinnlos Gestorbenen kamen viele Menschen unterschiedlichster Herkunft zur neugeschaffenen Gedenkstätte am „Neuen Friedhof“. Hinter dem Bürgermeister und den zwei Gemeindeverantwortlichen, Walter Neubauer, trugen Lieselotte Schwerin und Elisabeth Berlin einen würdevollen Kranz. Eine sehr feierliche Trauerkundgebung umrahmte die Beisetzung, wo nun die Opfer ihre letzte Ruhestätte zum ewigen Frieden fanden. Dasselbe wurde auch in Gardelegen mit den so grauenvoll Gestorbenen gemacht. Alle Männer aus den umliegenden Dörfern, auch Estedter, wurden dazu nach Gardelegen beordert. Es ist sicher gut gewesen, dass dieses z. Zt. der amerikanischen Besatzung geschehen ist. Man weiß nicht, wie die Russen, die am 1. Juli kamen, reagiert hätten. ---
Die Zahl der in Estedt verscharrten Häftlinge ist widersprüchlich. Exhumiert und auf dem „Neuen Friedhof“ bestattet wurden 112, nach Ewald Wendel lagen in der Sandkuhle bereits zahlreiche Tote, zu denen am 9. April etwa 30 hinzukamen und am 12. April von den Kolonnen aus Mieste noch einmal über 100 hinzukamen. Vier, wahrscheinlich französische Häftlinge wurden exhumiert und in ihre Heimat überführt. Später wurde die Grabstätte eingeebnet und ein Gedenkstein mit der Aufschrift „Hier ruhen 108 von den Faschisten ermordete Widerstandkämpfer April 1945“ errichtet
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Quellen: Diana Gring Die Todesmärsche und das Massaker von Gardelegen Stadtmuseum Gardelegen Schlütersche Verlagsanstalt und Druckerei GmbH & Co., Hannover 1993
Tage im April Stadtmuseum Gardelegen Schlütersche Verlagsanstalt und Druckerei GmbH & Co. , Hannover 1995
Joachim Neander Gardelegen 1945 Das Ende der Häftlingstransporte aus dem KZ-„Mittelbau“ Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt 1998
40 & 45 Toen & Nu Nr. 111 De Massamoord bij Gardelegen Batapress BV. Gilze Arnhem Nederland
Wilhelm Berlin Estedt in der Altmark Eine Dorfgeschichte 60 Exemplare Juli 1996 City-Druck 38440 Wolfsburg
Die Soldatengräber bei Wiepke Ein Zeitzeugenbericht des Lehrers Wilhelm Könecke Veröffentlicht im Engerser Kirchenblatt, Ausgabe 22 vom März 2005
Whith The 102d Infantry Division Through Germany Seite 204 bis 217 The Battery Press Neshville / Tennessee USA
G2-Periodic Report vom 13. Und 14. April 102. US-ID
Fr.-W. Schulz
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Hallo, eine Korrektur zum Beitrag 1. Wenn Braunys entsprechender Dienstgrad Hauptmann in der Wehrmacht gewesen sein soll, kann er nicht Hauptscharführer gewesen sein, sondern Hauptsturmführer. Hauptscharführer war ein Mannschaftsdienstgrad und entsprach in der Wehrmacht dem Dienstgrad eines Oberfeldwebels. MfG Rüdiger
Ein Stück verschwiegene Ortsgeschichte Volksstimme 10.09.2014 Torsten Haarseim hatte einige Dokumente und Quellen mitgebracht, die über den Massenmord an 31 KZ-Häftlingen im Wald bei Jävenitz berichten.Torsten Haarseim hatte einige Dokumente und Quellen mitgebracht, die über den Massenmord an 31 KZ-Häftlingen im Wald bei Jävenitz berichten. Foto: Anke KohlVon Anke Kohl › Um ein Thema, das in Jävenitz so offen noch nie angesprochen wurde, ging es am Dienstagabend in der Aula der Jävenitzer Grundschule. Torsten Haarseim und Maik Matthies hatten zum Vortrag über den Massenmord an KZ-Häftlingen im Wald bei Jävenitz eingeladen.
Jävenitz l Es ist auch ein Stück Familiengeschichte, über das der Jävenitzer Maik Matthies in Zusammenarbeit mit dem Gardeleger Torsten Haarseim recherchiert hat. Denn es war Fritz Matthies, Urgroßvater von Maik Matthies, der im April 1945 Bürgermeister von Jävenitz war und eine maßgebliche Rolle bei der Rettung von KZ-Häftlingen spielte.
Am 12. April kam eine Gruppe von 125 KZ-Häftlingen auf einem der Todesmärsche über Kloster Neuendorf nach Jävenitz. Sie war in Begleitung von zwei Soldaten und wurde in der Schultzschen Scheune untergebracht. Bürgermeister Fritz Matthies wies an, dass für die Häftlinge Kartoffeln gekocht werden sollten. Am Morgen des 13. April führten Fallschirmjäger eine Gruppe von 31 Häftlingen zu einem Wald bei Jävenitz. "Diese Männer haben die Häftlinge den Quellen nach aber anständig behandelt", berichtete Torsten Haarseim. Im Laufe des Tages kamen dann SS-Führer, die die Gruppe in den Wald scheuchten und die nun Fliehenden erschossen und verscharrten.
"Die Amerikaner kommen, und dann seid ihr frei."
Bürgermeister Erich Matthies
Es waren aber auch Häftlinge entkommen. Woraufhin SS-Männer die Hitlerjungen im Dorf anstachelten, "auf Jagd zu gehen". Die Jungen sollen es dann "Zebrajagd" genannt haben. Vier der Geflohenen wurden bei Hottendorf erschossen. Ihre Gräber sind auf dem Friedhof zu finden. In der Nacht soll der Ortsgruppenleiter von Jävenitz, Friedrich Schweinecke, dem Fuhrunternehmer Erich Matthies, Bruder des Bürgermeisters und somit Urgroßonkel von Maik Matthies, befohlen haben, die verbliebenen Häftlinge nach Gardelegen zur Remonteschule zu bringen.
Allein, um Zeit zu gewinnen, fuhr Erich Matthies mit seinem Traktor und zwei Anhängern einen Umweg über Trüstedt und Kassieck. An der Remonte wurden sie abgewiesen und fuhren zurück nach Jävenitz, wo der Bürgermeister die 96 Häftlinge in einer Scheune unterbrachte und sie anwies, sich ruhig zu verhalten. "Die Amerikaner kommen, und dann seid ihr frei", soll er gesagt haben. Und so kam es dazu, dass diese 96 Menschen am 15. April befreit wurden und die Anweisung erging, sie mit Essen, ziviler Kleidung und einem Bett zu versorgen.
Das Thema des Massenmordes an 31 KZ-Häftlingen, die nach einem der Todesmärsche in Jävenitz ihre letzte Station fanden, sei im Ort durchaus bekannt, nur sei darüber noch nie wirklich offen gesprochen worden, sagte Torsten Haarseim. "Die meisten haben davon gehört oder wissen etwas. Aber immer nur punktuell, wie wir erfahren haben", erklärte er.
"Es war doch schlimm genug. Warum alles wieder hochholen?"
Eine Zeitzeugin
In diesem Fazit wurde er von Maik Matthies bestätigt, als er berichtete, wie er im Gespräch mit einer Zeitzeugin nach Informationen suchte. Die alte Dame habe gesagt: "Mein Gott, das ist alles so lange her. Es war doch schlimm genug. Warum muss man das wieder hochholen?"
Eben diese Einstellung hat den beiden Initiatoren der Aufarbeitung eines Stückes Orts- und Zeitgeschichte die Arbeit nicht leichter gemacht. Dass das Thema die Jävenitzer jedoch sehr interessiert, zeigte die Zahl der Besucher des Vortrages am Dienstagabend in der Aula der Grundschule. Mehr als 80 Gäste konnten Torsten Haarseim und Maik Matthies begrüßen.
Dass es kaum Aufzeichnungen aus dieser Zeit gibt, führte Maik Matthies bei der Angabe der Quellen für die Recherche an. Ganz vereinzelt waren Aufzeichnungen in unterschiedlichen Veröffentlichungen zu finden, in denen der Ort Jävenitz erwähnt wurde. So etwa in dem britischen Magazin "After the battle", das sich auf einer Seite mit dem Geschehen und dem Schicksal der KZ-Häftlinge in Jävenitz befasste. Auf zwei Seiten des Buches "Die Todesmärsche 1944/45", verfasst von Daniel Blatman, einem israelischen Professor, finden sich weitere Aufzeichnungen über Jävenitz.
Eine weitere gesicherte Primärquelle fand Maik Matthies in Amsterdam, im Niederländischen Institut für die Dokumentation des Holocausts (NIOD). In diesem Institut sind Verhörprotokolle der US-Army archiviert, anhand derer sich das Zeitgeschehen in etwa nachvollziehen lässt. So konnte der Jävenitzer, dessen Urgroßvater 1945 Bürgermeister war, daraus erlesen, dass zwei Überlebende des Todesmarsches zu Protokoll gegeben hatten, in Jävenitz auf ihre Retter getroffen zu sein, die sie mit Kleidung und Essen versorgt hatten. Sicher ist auch, dass die Amerikaner Akten über Verhöre mit Einwohnern des Ortes, mit Mitgliedern des Volkssturmes, mit Soldaten, mit Hitlerjungen und den örtlichen Mitgliedern der NSDAP geführt hatten. Die wurden jedoch an die russische Besatzung übergeben und sind in Deutschland zumindest nicht auffindbar. "Wahrscheinlich müsste man dafür nach Moskau fahren, um Aufzeichnungen zu finden", mutmaßte Maik Matthies.
Im Anschluss an den Vortrag, bei dem die Zuhörer aufgefordert waren, gern zu unterbrechen, falls sie Informationen beitragen konnten, kamen sowohl die Gäste miteinander als auch mit den Vortragenden ins Gespräch. Unter anderem bedankte sich der Kreisvorsitzende des Volksbundes der Kriegsgräberfürsorge, Hans-Joachim Becker, für den Vortrag.
Hallo, solche Vorträge sind dazu angetan, Licht in die damaligen Vorgänge zu bringen. Das bedeutet natürlich für diejenigen, die die Geschichte aufarbeiten wollen, viel Mühsal und Anstrengungen. Solche Dinge sind sehr zäh. Zum Einen, weil nur noch wenige Zeitzeugen existieren, die von ihrem Erlebten berichten können. Meist wird nur Gehörtes und Gesagtes aus zweiter Hand kolportiert. Zum Anderen möchten auch einige Zeitzeugen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht darüber sprechen. Sei es, weil sie oder ihre Familienangehörigen selbst Schuld auf sich geladen haben oder einfach nicht mehr an diese Zeit erinnert werden. Die amerik. Verhörprotokolle in russ. Archiven zu finden, stelle ich mir wie die Suche einer Nadel im Heuhaufen vor. Warum allerdings die Russen und später die Ermitttlungsorgane der DDR die Dinge nicht weiter verfolgten, erscheint mir rätselhaft. MfG Wirbelwind
Ja zweifellos ein schwieriges Thema, auch heute noch! Interesse ist vorhanden was man an den Zuhörerzahlen festmachen kann. ZZ mache jedoch dicht....auch heute noch. Das die Unterlagen in russischen Archiven schlummern kann ich nicht so recht glauben. Warum sollte die neuen Gegner im damals schon entfachten kalten Krieg Informationen austauschen? Was sollte die US Army für Interesse daran haben Infos weiterzugeben. Im Gegenteil diese Infos werden doch interessant wenn ein Beteiligter den russischen Sektor Richtung Westen verläßt. Das Schweigen der ZZ ob beteiligt oder nicht halte ich für eine antrainierte Schutzfunktion in der SBZ. Wie allseits bekannt mußte man in der ehemaligen SBZ, später auch in den Anfangsjahren der DDR, nicht unbedingt direkt beteiligt sein um standartmäßig 25 Jahre in Sibirien zu verschwinden.