Vor 72 Jahren: Heinrich Bültge bettete als 15-Jähriger die Gefallenen von Lüdelsen zur letzten Ruhe / Teil 1 Der Tod auf dem Kartoffelacker 15.05.2017
Altmark / Lüdelsen. Tief versteckt im Wald, zwischen Tangeln und Lüdelsen. Man muss ein wenig suchen, aber wer den vermoosten Pfaden folgt, gelangt nach einem kurzen Fußmarsch zu einem Waldfriedhof. Mehrere Forstmänner liegen dort begraben. Aber es ist nicht nur ihre letzte Ruhestätte: Auf einem grauen Grabstein sind zehn weitere Namen und „Eine unbekannte Frau“ vermerkt. Alle unter dem gleichen Datum: gefallen am 22. April 1945. Wobei es sich dabei um den Tag der Beisetzung handelt. Die Gebeine von vier weiteren Soldaten ruhen auf dem Lüdelsener Dorffriedhof. Sie sind bereits am 11. April gefallen. 100 Russen kommen nach Lüdelsen Zu diesem Zeitpunkt war der II. Weltkrieg in der Altmark eigentlich schon zu Ende. US-Truppen waren am 11. April 1945 durch Lüdelsen gebraust. Einen Tag später standen die Amerikaner an der Elbe. Doch dazu später. Ein Mann kennt die Geschichte des Waldfriedhofs ganz genau: Heinrich Bültge aus Lüdelsen. Er hat die sterblichen Überreste der Gefallenen als 15-Jähriger bestattet. Als Junge erlebte er die Wirren des II. Weltkriegs in der Altmark hautnah. An die Zeit, so scheint es, kann sich der 87-Jährige erinnern, als wäre es gestern gewesen. Er beginnt zu erzählen: „Am 11. April 1945 rückten die Amis ein. Ich war damals 15 Jahre und dachte: ,Das gibt es doch nicht!’“ Im Januar 1945 hatte Heinrich Bültge als Offiziersbewerber bei den Panzergrenadieren in Northeim noch seine dritte Prüfung erfolgreich bestanden. Am 10. April 1945 wurden etwa 100 sowjetische Kriegsgefangene nach Lüdelsen gebracht und auf die Höfe verteilt. „Wir bekamen auch zwei. Da unser Haus schon mit Bombenflüchtlingen belegt war, zimmerten sich die beiden aus Brettern Betten und stellten sie in der Futterküche auf“, erinnert sich der Lüdelsener. Am gleichen Tag bekommt Heinrich Bültge die Nachricht, dass er nach Stendal in die Albrecht-der-Bär-Kaserne zum Volkssturm einrücken soll. Doch in den Krieg braucht er nicht – der kommt nun zu ihm. Nachdem die alliierten Truppen Anfang April 1945 die Weser überschritten hatten, standen sie vor einer rund 80 Kilometer breiten Frontlücke zwischen Harz und Heide. Dort gab es keine geschlossenen deutschen Einheiten. Als die Amerikaner das bemerkten, änderten sie ihre Taktik. Vorwärts zur Elbe, hieß die Devise, die Brücken erobern und nach Berlin durchstoßen. Die 9. US-Armee warf ihre schnellen Panzer-Divisionen – die 2. und die 5. – nach vorn. Die 5. US-Panzer-Division sollte das Sprungbrett nach Berlin – die Altmark – einnehmen. Die Altmark und damit die drei Elbübergänge Wittenberge, Hämerten und Tangermünde hatte das XIII. US-Korps der 9. US-Armee unter dem Zweisterne-General Alvan Cullom Gillem Jr. im Visier. Gillem schickte seine 5. US-Panzer-Division unter dem Zweisterne-General Lunsford E. Oliver als Speerspitze voraus. Die 84. und 102. US-Infanterie-Division sollten Olivers Tanks folgen. Drei Kampfkommandos rollen auf die Altmark zu Eine gepanzerte Kolonne von 2700 Fahrzeugen und 18 000 Mann wälzt sich in drei Kampfkommandos A, B und R auf die Altmark zu. Das erste Dorf, das das Combat Command A = CCA (Kampfkommando A) am 11. April 1945 gegen Mittag erreicht, ist Böckwitz. Erst am späten Nachmittag des 11. April rollt das zweite Kampfkommando, das CCR bei Gladdenstedt auf altmärkischen Boden. Die Panzerkolonne fährt weiter nach Jübar. Der ihnen dort zuwinkende Dorfpolizist wird niedergeschossen. Bei Lüdelsen sterben vier Soldaten – Wolfgang Großmann, Fritz Gerbig, Karl Schumann und ein Unbekannter. An jenem 11. April 1945 will der 15-jährige Lüdelsener Heinrich Bültge in Klötze noch Passbilder abholen: „Doch als ich dort ankam, waren alle Türen und Fenster verrammelt.“ Der Jugendliche macht sich auf den Heimweg. Während der Rückfahrt kommen ihm deutsche Soldaten in losen Haufen und Kolonnen entgegen. „Einer mahnte mich: ,Junge, zieh die Uniform aus!’ Ich trug ja damals eine HJ-Uniform“, erklärt Bültge. Am Ortsausgang Rohrberg in Richtung Stöckheim sind einige Rohrberger und der NSDAP-Ortsgruppenleiter dabei Bäume zu fällen, um eine Straßensperre zu bauen: „Als ich vorbeikam, hatten sie angefangen zu sägen, müssen aber später aufgehört haben, denn die Bäume standen noch. Die Einschnitte waren auch Jahrzehnte später zu sehen.“ Seine Hitlerjugend-Uniform behält der Junge vorerst an, denn wirklich begreifen, was an diesem Tag vor sich geht, kann er noch nicht. Zuhause angekommen, ist alles wie immer. Mit seiner Mutter und seiner Tante geht es zum Kartoffelnpflanzen auf einen nahegelegenen Acker am Kloppenbusch. Doch auch auf dem Weg zum Acker zwischen Lüdelsen und Jübar legen ihm entgegenkommende Soldaten und Offiziere nahe: Er soll endlich seine HJ-Bekleidung ablegen. Gegen Nachmittag entdeckt Heinrich Bültge am Himmel amerikanische Flieger. Auch eine Aufklärermaschine, so schätzt er, ist darunter. Diese kreist sehr tief über dem Kartoffelacker, auf dem Heinrich Bültge und seine Tante immer noch ihrer Arbeit nachgehen. „Plötzlich kommt ein deutscher Soldat den Kartoffelacker heruntergerannt. Dann kracht ein Schuss und der Mann fällt zu Boden. Er bleibt regungslos liegen.“ Heinrich Bültge und seine Tante spannen augenblicklich die Kühe ein und fahren zurück. Der damals 15-Jährige kann einfach nicht fassen, was auf den Straßen vor sich geht, vor allem als ein amerikanischer Panzer durch den heutigen Jübarer Ortsteil rollt. „Meine Uniform hab ich sofort unter unserem Johannisbeerstrauch im Garten vergraben“, erzählt Bültge. Der Panzer, den Bültge sieht, gehört zum CCR der 5. US-Panzer-Division. Das Kampfkommando hält sich nicht auf, drängt in Richtung Elbe. Die nächsten Toten gibt es bei Stöckheim. Auf der Straße von Lüdelsen kommt den Amerikanern ein VW-Kübelwagen entgegen. Major Peter Steiger und sein Fahrer Obergefreiter Fritz Geils heben die Hände. Ihre Gebeine ruhen seitdem auf dem Ahlumer Friedhof zusammen mit einem unbekannten Soldaten (vermutlich einem Major André). Oberst Otto Kröger, Hauptfeldwebel Gustav May und Obergefreiter Ernst Duderstadt aus Stöckheim bei Braunschweig – sie alle sind in Ahlum beerdigt und fielen am 11. April 1945 beim altmärkischen Stöckheim – obwohl dort nicht gekämpft wurde. Gegen 22 Uhr macht das CCR in Rohrberg Quartier. In Lüdelsen lässt der Gedanke an den deutschen Soldaten auf dem Kartoffelacker den 15-jährigen Heinrich Bültge nicht los. Der Jugendliche entschließt sich, diesen zu retten. Doch das Unterfangen gestaltet sich schwierig. Am Ortseingang steht ein Panzer mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Die Besatzung schießt zur Abschreckung hin und wieder mit dem Maschinengewehr in die Luft. Heinrich Bültge schleicht sich vorbei. „Ich habe mich danach oft gefragt, ob das wirklich mutig war. Wenn ich heute darüber nachdenke, weiß ich, wie leichtsinnig ich gewesen bin.“ Mit dem Panzer über die Waffen gefahren In der Nähe des Kartoffelackers erlangt der Jugendliche die traurige Gewissheit: Der Soldat ist tot. Jemand hat dem Gefallenen bereits die Stiefel gestohlen. Heinrich Bültge tritt den Rückzug an. „Zuhause gab es natürlich furchtbares Theater“, hat der Senior den Krach von Mutter und Tante bis heute nicht vergessen. Am Morgen des 12. April 1945 ließen die US-Soldaten in Lüdelsen über Bürgermeister Willi Schulze verkünden: Alle Waffen, Radios, Ferngläser und Motorräder müssen abgegeben werden. „Unser Radio – ein Blaupunkt-Gerät – habe ich im Kornspeicher versteckt und nur mein Luftgewehr weggebracht“, muss der Lüdelsener heute noch über seine Gerissenheit ein wenig schmunzeln. Bültge weiter: „Gegen Abend legten die Amerikaner die abgegebenen Waffen auf eine Bordsteinkante und fuhren mit einem Panzer darüber. Danach rückten fast alle US-Soldaten in Richtung Stöckheim ab. Der letzte Jeep hielt vor der Scheune am Bürgermeisterhof. Dort lag ein großer Haufen der abgegebenen Munition. Die Amerikaner gossen Benzin darüber, zündeten es an, sprangen in den Jeep und fuhren ihren Leuten hinterher. Dann krachte und knallte es – die Munition explodierte.“ Auftrag vom Ortschef: Die Toten einsammeln Von Bürgermeister Willi Schulze bekommen Heinrich Bültge, seine Mutter und zwei von den Amerikanern eingeteilte Polizisten einen weiteren Auftrag: „Wir sollten die toten Soldaten in der Umgebung einsammeln.“ Zuerst holen sie den Toten am Kartoffelacker. Im Hohlweg zwischen Lüdelsen und Jübar finden sie einen weiteren Soldaten. Er hat ein Loch in der Stirn. Die beiden Toten werden in der Lüdelsener Leichenhalle aufgebahrt. Dem traurigen Fund folgen zwei weitere: Neben einem Eichbaum liegt ein Toter in Luftwaffenuniform. Ein weiterer Toter wird mitgenommen. „Der Tischler des Dorfes musste vier Särge anfertigen. Die Soldaten wurden auf dem Lüdelsener Friedhof begraben“, erzählt der 87-Jährige. Elbbrücken fliegen in die Luft An diesem Tag tobte der Kampf um die Elbbrücken, die letztendlich vor den Augen der Amerikaner von den Verteidigern in die Luft gesprengt werden – Tangermünde um 16.30 Uhr, Hämerten um 20.23 Uhr und Wittenberge um 21.30 Uhr. Der Traum vom schnellen Marsch nach Berlin ist ausgeträumt. Oder doch noch nicht? Dazu mehr im nächsten Teil. Von Melanie Friedrichs
ebenfalls Altmarkzeitung Erinnerungen an die letzten Kämpfe in der westlichen Altmark 05.11.2021 Von Kai Zuber Die Exhumierung und Umbettung der sterblichen Überreste von fünf kurz vor Kriegsende gefallenen deutschen Soldaten durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge erinnert die letzten noch lebenden Zeitzeugen an die schweren Kämpfe Mitte April 1945 in der westlichen Altmark. Lindhof/Diesdorf – Erbitterte Gefechte tobten kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in den Wäldern zwischen Lindhof und Diesdorf. Etliche Soldaten waren quasi fünf Minuten vor „Toresschluss“ noch gefallen und von den Einwohnern noch vor Ort begraben worden. Einige Gräber mahnten bis vor wenigen Tagen vor der Exhumierung der Soldatengebeine an Wegrändern im Wald an den Wahnsinn des Krieges. Viele Jahre hinweg pflegten Einwohner von Lindhof die namenlosen Grabstätten, die von den schweren Gefechten rund um den 18. und 19. April 1945 künden. Etwa 200 Soldaten sollen damals in wenigen Stunden gefallen sein, berichteten Einwohner der AZ. Zwei Dutzend Gräber gab es Überlieferungen zufolge kurz nach Kriegsende. Vier davon waren erhalten geblieben und hatten die Jahrzehnte bis zur Umbettung überdauert. An die Kämpfe kurz vor Kriegsende können sich die betagteren Lindhofer erinnern.
Hintergrund: Obwohl die US-Armee Mitte April 1945 bereits die Elbe erreicht hatte, kämpfte bei Lindhof eine versprengte SS-Panzereinheit weiter. Der Senior Friedrich Wiswinkel aus Lindhof war damals zehn Jahre alt, als er alles miterlebte. Mehrmals hatte er in der Diesdorfer Ortsgruppe der Volkssolidarität über seine Erlebnisse berichtet. Keiner der Lindhofer hatte im April 1945 noch mit Kriegshandlungen gerechnet. Die Kämpfe schienen ja beendet. Doch zwischen Waddekath und Diesdorf kam es zwischen dem 18. und 20. April 1945 völlig überraschend zu massiven Truppenbewegungen der Deutschen. Hier operierte die Panzerdivision „Clausewitz“. Diese wollte ursprünglich von Uelzen nach Fallersleben/Elm vorstoßen. In den Abendstunden des 18. April, gegen 20 Uhr, rückten die Amerikaner in Lindhof ein und bezogen Stellung. Dann fielen die erste Schüsse und die Anwohner sollten auf Anweisung in den Kellern bleiben. Im Hause der Wiswinkels lagen amerikanische Beobachter. Als ein deutscher Soldat ins Haus wollte, wurde er quasi auf der Türschwelle erschossen. Auf den Straßen lagen verwundete Soldaten und in den Dachstuhl des Wiswinkel-Hauses schlug ein Geschoss ein. Auch viele andere Gehöfte in Lindhof wurden getroffen. Denn: Weil deutsche Truppen unter Führung von Generalleutnant Unrein, über die Frachtstraße kommend, erneut Lindhof besetzen wollten, antworteten die Amis rasch mit Luftaufklärung und anschließendem Bombenhagel. Daraufhin flohen die Deutschen Soldaten in die Wälder. Einige kamen später in Zivil in die umliegenden Orte zurück, um sich zu verstecken. Geblieben sind heute nur die Erinnerungen und die namenlosen Soldaten-Gräber, die nun in den Haselhorster Gottesacker umverlegt wurden.
Joachim Kozlowski: „Das war keine Nacht-und-Nebel-Aktion“ Sterbliche Überreste von deutschen Soldaten in Lindhof umgebettet
VonChristian Reuter Die sterblichen Überreste von vier im Zweiten Weltkrieg getöteten deutschen Soldaten wurden am Mittwoch, 27. Oktober, von Lindhof nach Haselhorst umgebettet. Die Arbeiten wurden von Joachim Kozlowski vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und Diesdorfer Gemeindemitarbeitern vorgenommen. Lindhof. Die vier deutschen Soldaten waren 1945 in einem der letzten Gefechte des Zweiten Weltkriegs in der Region Diesdorf getötet worden. „Die Exhumierungs- und Umbettungsmaßnahmen waren mit dem Landesverwaltungsamt abgesprochen und geplant worden“, erklärte Cedrik Hecht, Mitarbeiter des Ordnungsamtes der Verbandsgemeinde Beetzendorf-Diesdorf, der die Umbettung beaufsichtigte. Die sterblichen Überreste kommen nach Aussage von Hecht in die Sammelgrabstelle in Haselhorst, in der bereits mehrere gefallene deutsche Soldaten bestattet worden sind.
Joachim Kozlowski ist für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge als Umbetter zuständig, nach seinen Angaben seit elf Jahren als einziger offizieller hauptamtlicher Mitarbeiter in ganz Deutschland. „Ich nehme jedes Jahr etwa 500 Umbettungen vor. Im In - und Ausland nimmt der Volksbund jährlich sogar mehr als 20 000 Umbettungen von Kriegstoten vor“, sagte Kozlowski, der aus Friedersdorf bei Frankfurt/Oder angereist war. Der Volksbund nehme die Umbettungen im Auftrag der Bundesregierung vor. Grundlage dafür ist das Gräbergesetz für Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. „Meine Tätigkeit wird aus Landes- und Bundesmitteln bezahlt“, erzählte der 49-Jährige, der die gute Zusammenarbeit mit der Gemeinde Diesdorf lobte.
Auch Edwin Keijzer verfolgte gestern die Umbettungsarbeiten in einem Waldstück bei Lindhof, schien damit allerdings nicht ganz glücklich zu sein. „Ich habe Respekt vor den Leuten, die das machen. Aber das ist eine Nacht-und-Nebel-Aktion“, sagte der Mann, der in Lindhof ein Ferienhaus übernommen habe und daher mehrmals im Jahr vor Ort sei. „Bürger aus Lindhof und ich haben die bisherigen Gräber der Soldaten ehrenamtlich gepflegt.“ Den Vorwurf der Nacht-und-Nebel-Aktion wies Joachim Kozlowski zurück.