Von sowjetischen Militärtribunalen verurteilte und nichtverurteilte Speziallagerhäftlinge und ihre Angehörigen aus dem heutigen Landkreis Börde. Wie bereits schon ausführlich im Kapitel dargelegt, wurden von 1945-1950 10 Speziallager des NKWD errichtet in denen Personen internier waren wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, durch „Denuzierung“ anderer Personen welche sich meines Erachtens Liebkind machten bei der jeweiligen Besatzungsmacht oder zu unschuldig beschuldigt wurden Mitglieder der Wehrwolfgruppe gewesen zu sein usw. Durch Auflösung einiger Speziallager wurden dann nur noch zwei Lager genutzt. Dies waren Die Speziallager Nr. 1 KZ Sachsenhausen und Nr. 2 KZ Buchenwald. Über ihr Schicksal und was die Angehörigen gefühlt und erlebt haben, darüber ist in vielen Fällen nichts bekannt. Häufig erfuhren die Angehörigen aber auch erst aus Nachforschungen (zunehmend seit der Wiedervereinigung beider Deutschen Staaten 1989), über die Stiftung Sächsischer Gedenkstätten beschafften, Dokumenten den Hintergrund der Verhaftung. Auf den nun folgenden Seiten werden Berichte über betroffene Personen aus Rottmersleben, Ostingersleben, Neuenhofe, Rogätz und Wanzleben veröffentlicht, über deren Schicksal bisher nichts bekannt war und über die Angehörigen was aus Ihnen geworden ist.
Die Haftbedingung nicht überlebt: Eugen Geidel geb. 22.März 1888 gest. 16.Juni 1947 Eugen Geidel wird am 22.März 188 in Weideroda, Kreis Weißenfels geboren.(1) Er wird landwirtschaftlicher Inspektor und arbeitet zuletzt bis 1945 als Inspektor auf dem Rittergut Dönstedt, Kreis Haldensleben, welches Baron von Schenck aus Flechtingen gehört. Der NSDAP und auch anderen nationalsozialistischen Organisationen tritt er nicht bei, In seiner Funktion ist er auch während des Krieges für Unterkunft und Beschäftigung der Zwangsarbeiter zuständig. Nach dem Ende des Krieges wird das Rittergut enteignet und die Flächen unter Neubauern verteilt. Geidels ziehen nach Rottmersleben und bewirtschaften dort den landwirtschaftlichen Betrieb mit 38 ha Land, den Elsbeth Geidel (geb. 13.11.1901 in Rottmersleben) von ihren Eltern geerbt hat. Der Hof gilt als Musterbetrieb. Eugen Geidel tritt in die LDP ein Am 24.September 1946, dem Geburtstag seiner Tochter, erhält er vom Bürgermeister Uffrecht die Aufforderung, sich in Haldensleben, Masche 22, zu melden.(2) Das ist der Sitz der sowjetischen Kommandantur. Er sieht keinen Grund zur Flucht und fährt mit seinem Kutscher dorthin. Diesem wird nach kurzer Zeit von einem sowjetischen Soldaten bedeutet, dass er nach Hause fahren solle, da es noch eine Weile dauern könne. Eugen Geidel kommt nicht zurück. Seine Frau stellte über einen Dolmetscher der Kommandantur Nachforschungen an und fragt, ob sie Wäsche für ihren Mannabgeben kann. Das wird mehrere Male gestattet, bis ihr eines Tages mitgeteilt wird, ihr Mann sei nicht mehr in Haldensleben, sondern im Stendaler Gefängnis. Dort bekommt sie keine Auskunft mehr, kann aber während einer Vorsprache dem sowjetischen Soldaten über die Schulter schauen und erkennt trotz der kyrillischen Schrift das Geburtsdatum ihres Mannes. Eugen geidel wird am 28.November 1946 vom Militärtribunal der 16.Mechanisierten Division gemäß Art. 58-2 des StGB der RSFSR zu einem Freiheitsebtzug für die dauer von 10 jahren in einem Arbeitslager und der Einziehung seines Vermögens sowie seiner Wertsachen „zu Gunsten des sowjetischen Staates“ verurteilt. Es wird ihm vorgeworfen: „Unter seinem Kommando standen 60 Personen –sowjetische Bürger, die zwangsweise aus den zeitweilig besetzten Gebieten der UdSSR für die Arbeit in Deutschland verschleppt wurden. Der Angeklagte hat unter Missbrauch seiner Stellung die sowjetischen Bürger, die im Gehöft, Heinrich Druckenbrot gearbeitet haben, sehr grausam behandelt und sie für das kleinste Vergehen systematisch verprügelt. In der Zeit von 1943 bis 1944 hat Geidel 6 Menschen durch Schläge mit Stock und Fäuste misshandelt.“(3) Nach der Verhandlung kommt Geidel in das Speziallager Sachsenhausen, wo er am 16.Juni 1947 verstirbt. Als Todesursache wird „Phlegmone am Fuß“ angegeben. (4) Anfang 1947 wird Elsbeth Geidel mitgeteilt, ihr Hof sei enteignet. Eine Rechtsgrundlage dafür gibt es nicht. (5) Sie legt bei den verschiedensten Stellen Beschwerde ein und erhält dabei Unterstützung von Gemeindevertretern und dem Pfarrer des Ortes. In der Grundbuchakte wird ein Sperrvermerk bis 1953 eingetragen. Das erfährt sie aus einem Schreiben der Landesregierung Sachsen-Anhalt vom 25.Mai 1950, in dem darauf hingewiesen wird, dass Enteignung nur das Eigentum der SMT verurteilten beträfe. Es hilft ihr nichts. Im Gegenteil. Elsbeth Geidel erhält vom Rat des Kreises eine Vorladung zum 11.Juli 1950, wo ihr mitgeteilt wird, dass sie bis zum 9.August 1950 Rottmersleben zu verlassen habe. Das gilt auch für ihre zwei Kinder. Am 13.September 1961 lässt Elsbeth Geidel ihren Mann für tot erklären. Als Todeszeitpunkt wird der 31.Dezember 1951 angenommen. Mit Datum vom 17.Juni 1992 wird Eugen Geidel von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert, eine Entscheidung über den Vermögensauszug wird nicht getroffen. Der Bescheid erreichte die Angehörigen erst 1994. Den landwirtschaftlichen Betrieb erhält die Familie nicht zurück übertragen, aber eine Entschädigung.
Quellennachweis: (1) Die Information zur Geschichte Eugen Geidels gaben seine Tochter und sein Schwiegersohn 2009, wofür ihm die Verfasser ( Edda Ahrberg, Dorothea Harder) herzlich danken. (2) Die folgenden Ausführungen entstammen einem Schreiben von Elsbeth Geidel am a. 5.7.1992 an das Auswärtige Amt mit der Bitte um Rehabilitierung, in: Privatarchiv E. Lange. (3) Urteil vom 28.11.1946 in deutscher Übersetzung, Privatarchiv E. Lange. (4) Auskunft des DRK-Suchdienstes München an E. Geidel am 28.10.1994, Privatarchiv W. Lange. (5) Schreiben des Landrates von Haldensleben am 9.11.1947, Privatarchiv E. Lange Wiedergabe als Niederschrift Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. Landesgruppe Sachsen-Anhalt (Hg.) Schriftreihe Band 64 Seiten 214-217 Abgeholt und verschwunden (1)
Persönliche Anmerkungen: Im Kapitel 6 aufgeführte Liste zu „Speziallager Sachsenhausen“ wurde Eugen Geidel nicht mit aufgeführt, da der Geburtsort Wiederoda angegeben war und nicht sein letzter Wohnort.
Ostingersleben: Georg Karl Pessel geb. 14.September 1893 Satuelle, gest. 11.Dezember 1946 im Speziallager Sachsenhausen. Georg Karl Pessel wurde am 14.September 1893 in Satuelle (Krs. Haldensleben) geboren. (1) Er wuchs mit acht Geschwistern in einer Großen Familie auf und beschloss, nach seiner Schulzeit Lehrer zu werden. Seine berufliche Laufbahn wurde jedoch durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Am Ende des Krieges wurde er als Leutnant der Reserve entlassen, beendete seine Ausbildung und heiratete Else Güldenpfennig aus Neuenhofe. 1920 begann er, als Dorfschullehrer in Ostingersleben zu arbeiten. Dort unterrichtete er ab 1924 die Klassen fünf bis acht in allen Fächern. Er liebte seinen Beruf sehr. Das Ehepaar bekam drei Kinder: Georg (1920), Magdalena (1922) und Heinz Joachim (1924). Die Familie bewohnte eine Dienstwohnung im Schulhaus. Im Hof und Garten bestand die Möglichkeit, Gänse und Hühner zu halten sowie Gemüse anzubauen. In den 1930er Jahren trat Georg Pessel in die NSDAP und in die SA ein. Er ging zu Versammlungen, übernahm aber keine leitende Funktionen. (2) Im Familienleben spielte die Partei keine Rolle. An einem der Nürnberger Parteitage nahm er jedoch teil und kam begeistert von dort zurück. Seine Frau Else verstarb bereits 1937. Ihre Mutter versorgte danach die Kinder und den Haushalt. Magdalena trat in die Fußstapfen des Vaters. Schon als Kind hatte sie ihren Puppen in seinem Klassenzimmer Unterricht gegeben. Sie ging 1939 von zu Hause weg und absolvierte eine Ausbildung zur Grundschullehrerin. Später unterrichtete sie in Westpreußen an verschiedenen Schulen deutsche und polnische Kinder. Einen Unterschied, wie es politisch nahe gelegt wurde, machte sie zwischen ihnen nicht. Das ließ ihr Gerechtigkeitsempfinden nicht zu. Es regte sie schon auf, dass zum Beispiel in den Geschäften die Polen andere, meist schlechtere Lebensmittel, als die Deutschen bekamen. 1940 wurde Georg Pessel zum Kriegsdienst eingezogen und kam zu den Eisenbahn-Pionieren. Ein paar Mal konnte er im Urlaub seine Tochter besuchen. Er kam viel umher. Der Streckenbau führte ihn durch halb Europa bis nach Frankreich, Norwegen, Russland (Kursk) und zuletzt nach Italien. Von dort wurde er 1944 als seelisch zerbrochener Mann nach Hause entlassen. Seine Tochter, die gerade in den Herbstferien zu Hause war, erlebte ihn vollkommen verändert, ganz ungewohnt still und ängstlich. Über das, was ihm widerfahren war, sprach er nicht. Die Familie erkannte ihn nicht wieder. 1941 hatte er zum zweiten Mal geheiratet, diesmal eine Frau aus Gohre, Louise Heine, genannt Lisa. Er begann nun wieder als Lehrer in seiner alten Schule zu arbeiten. Im Januar 1945 kehrte die Tochter wegen der näher rückenden Front erst mit einem Treck und dann von Stettin mit dem Zug nach hause zurück. Als ihr Vater hörte, dass sie auf dem Bahnhof Wefensleben angekommen war, ließ er den Unterricht ausfallen und holte sie mit dem Schlitten dort ab. Auch der Bruder Georg war da. Ihr jüngerer Bruder war bereits am 9.Dezember 1942 18jährig als Pilot über dem Flugplatz von Fürstenwalde bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückt. Nach dem Ende des Krieges wurde der Kreis Haldensleben zunächst von amerikanischen und britischen Einheiten besetzt. Die deutschen Offiziere wurden festgenommen, auch Georg Pessel. Er kehrte jedoch schon am Folgetag zurück. Die Lage schien sich zu normalisieren. Noch im Mai gelang es der Tochter, bei dem Besuch einer Freundin in der nahe gelegenen Stadt Helmstedt eine Karte der Besatzungszonen zu bekommen. Sie musste entsetzt feststellen, dass ihre Heimat den sowjetischen Truppen unterstellt werden sollte. Ihr Bruder fragte später einen englischen Soldaten, der öfter Eier bei ihnen holte, wann denn die Russen eintreffen würden. Die Antwort „today or tomorrow“(3) blieb seiner Schwester für immer im Gedächtnis. Noch am gleichen Tag beschloss Georg, in den Westen zu fliehen um dort sein Medizinstudium fortzusetzen. Sein Vater brachte ihn am Abend zum Grenzstein zwischen Morsleben und Helmstedt, auf dem schon „UdSSR“(4) geschrieben stand. Sie verabschiedeten sich und wussten zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass es für immer war. Der Vater ging trotz Aufforderung nicht mit, er war sich keiner Schuld bewusst. Im Gegenteil, er hatte einigen Zwangsarbeitern Stellen beschafft, wo sie gut behandelt wurden. Dann kamen die neuen Besatzer. In den ersten Tagen war noch alles friedlich. Magdalena Ruden: „Ich weiß noch, sie sind jeden Abend singend durchs Dorf. Die Russen haben ja wunderbare Lieder, diese russischen Chöre sind ja ein Genuss. Singend durchs Dorf gezogen, dass wir uns noch gesagt haben, was hat uns der Goebbels denn bloß erzählt!“(5) Das änderte sich dann bald. Am 30.Juli wurde Magdalena Pessel auf dem Weg durch das Dorf zu einer Freundin von zwei sowjetischen Soldaten angehalten. Sie berichtete 2007: Sie hielten mir einen Zettel hin mit zehn Namen. Der 10.Name war rot umrandet, war der Name meines Vaters. Mir wurde gesagt, er solle sich bei der Kommandantur melden. Ich habe meinen Vater benachrichtigt. Er ging sofort los, kam nach kurzer Zeit zurück, der Kommandant wäre nicht da, am nächsten Tag sollte er sich melden.“(6) Am kommenden Tag versuchte er es noch einmal. Es war warm, er ging im Sommeranzug und nahm keinen Mantel mit. Die Kommandantur befand sich in einem großen Bauernhaus (7) des Ortes: „Nachmittags ging der Vater wieder los, ich folgte ihm und habe gesehen, wie die zehn Männer in Richtung Eimersleben-Erxleben abgeführt wurden.“(8) Unter den Männern waren auch einige Bauern, darunter Franz Kuhrts (9). Auch dieses Bild prägte sich der Tochter ein. Die Festnahme sprach sich natürlich schnell unter der Bevölkerung herum, „das Dorf war wie geschockt. (10) Am 1.August kamen die gleichen zwei Soldaten wie zwei Tage vorher ins Schulhaus. Nachdem sie sich kurz umgesehen hatten, verlangten sie die Herausgabe des Radios, Marke SABA. Magdalena Pessel musste es, flankiert von beiden, quer durch das Dorf zur Kommandantur tragen. Gemeinsam mit ihrem
verlobten, der, in Estland aufgewachsen, gut russisch sprach und als Dolmetscher arbeitete, versuchte sie im Nachbarort Erxleben, wo die Häftlinge gesammelt wurden, über die Soldaten Kontakt mit den Festgenommenen aufnehmen. Der Versuch schlug fehl, sie wurden verjagt. Nach einiger Zeit kamen acht der Männer ins Dorf zurück. Georg Pessel und Franz Kuhrts waren nicht unter ihnen. Der Vorgänger Georg Pessel, Lehrer Krull, setzte sich für seine Freilassung ein und sammelte Unterschriften im Dorf. Viele unterschrieben, aber es nützte nichts. Es sickerte durch, dass die Männer nach Tangermünde gebracht wurden und auf der Burg festgehalten werden. Eine Freundin der Mutter war dort mit einem Zahnarzt verheiratet. Dieser hatte den sowjetischen Kommandanten zum Patienten. Durch ihn bekam sie wahrscheinlich die Gelegenheit, beim Abtransport der Häftlinge über die behelfsmäßige Tangermünder Elbbrücke Georg Pessel im Auftrag seiner Ehefrau eine Decke zuzustecken. Danach hörte sie erst einmal nichts mehr von ihm. Auch sein Schwager, der Bruder seiner ersten Frau, Rudolf Güldenpfennig, war inzwischen abgeholt worden. Georg Pessel kam ins Lager Sachsenhausen. Er versuchte, seiner Familie eine Nachricht zukommen zu lassen. Oranienburger, die im Lager arbeiteten, schmuggelten manchmal Briefe hinaus und halfen auch, Lebensmittelpakete hinein zu bringen. Auf diese Weise erhielt Lisa Pessel einen vierseitigen Brief von ihrem Mann, der darin erwähnte erste Brief war allerdings verloren gegangen. Georg Pessel schrieb ihr am 12. und 13.November 1945 über die Situation und Mitgefangene: „Die Vormittagsfreistunde ist vorüber. Man hat sich in der Barackenstraße trotz des nasskalten Novemberwetters die Füße vertreten, sich gegenseitig getröstet, vertröstet, neue Parolen angehört. Ja, ja, es ist nach 15 Wochen nicht mehr so ganz einfach, manch einer ist schon zerbrochen, andere sind auf den besten Wege dazu. Und doch gilt es nun, den Kopf und den Glauben nicht zu verlieren, eines Tages muß unser Tag der Freiheit kommen. Wieviele Male hofften wir schon, dass es soweit sei, aber immer war der Glaube verfrüht. Sonst kann ich von mir sagen, ich bin gesund und trotz allem hoffnungsfreudig, nur nicht vom Schicksal unterkriegen lassen, wenn es auch manchmal hart ist. (…)Als größtes Unrecht empfinden wir, dass so viele andere, die dasselbe und mehr waren, frei umherlaufen. Wenn man uns (…) mit produktiven Arbeiten beschäftigte; aber das tut man nicht oder wenig. Es bleibt zuviel Zeit zum Grübeln. Es ist gut, dass man immer wieder Bücher auftreibt und lesen kann. Die Unterbringung ist ganz gut, nur darf noch nicht regelmäßig geheizt werden. Über die Behandlung kann man sich auch absolut nicht beklagen, man zählt täglich zweimal wie Nummern durch, kümmert sich sonst wenig um uns. Selbst über die Verpflegung wäre den Umständen nach wenig Nachteiliges zu sagen, seit Anfang isst man morgens eine warme Suppe, eintönig in seiner Art, wochenlang dasselbe, fettlos, mal dicker, mal dünner, aber im Geschmack nicht schlecht. Dann wartest du bis Nachmittag auf die 2. warme Suppe, seit 8 Wochen so eine gutschmeckende Kartoffelsuppe mit wohl einigen Gramm Fett in Form von Öl oder Fleisch. Gegen Abend gibt es dann als Abendbrot 600g Brot und Kaffee. Man magert mehr oder weniger stark ab, ich habe immerhin noch 64kg in der Vorwoche gehabt.(11) Ganz übel ist die Bekleidungsfrage, hätte man sich doch damals gleich wintermäßig ausgerüstet. Ich bin so froh in Tangermünde noch das Paket erhalten zu haben, sonst hätte ich nicht mal eine Decke. Ich danke Dir recht herzlich noch dafür, das war eine Freude damals. Soviel aus meinem Dasein, ich denke, es genügt, um Euch ein Bild über den Vati zu machen, der hofft in Kürze, wenigstens bis spätestens zu Weihnachten wieder unter Euch weilen zu können. (…) Bleibt nur gesund und haltet gleichfalls den Kopf hoch, dann wird alles auch noch wieder besser. (…) Vor einigen Tagen haben die Stendaler ihren Oberbürgermeister hier begraben, ihn zerbrach das Schicksal nach kurzer Krankheit. 13.11. Über Nacht ist der erste Schnee gefallen, es schneit noch. Ich hatte Dich mit Frau Reinicke vorigen Freitag oder Sonnabend in der Nähe des Lagers erwartet, um uns Sachen zu bringen , aber der Brief scheint nicht hingekommen zu sein. Hoffentlich kriege ich diesen gut hinaus und kommt er recht schnell in Deine Hände. Wenn es auch verboten ist Post nach Hause zu senden und Post und Pakete zu empfangen, es bieten sich doch Möglichkeiten. Am letzten Freitag hätte es fein geklappt. Um für den Fall, dass man uns noch längere Wochen festhält, durchhalten zu können, bitte ich um folgende Bekleidung und Wäsche und Fett: den alten grünen Überzieher, die noch gute Militärstiefelhose, Pullover, 1 Wollhemd, 1 dicke Unterhose, 1 P. Strümpfe, 2 Taschentücher, 1 P. Fausthandschuhe, 1 Kopfschützer. Die Wäsche verstaue in die Mantel- bzw. Hosentaschen, die Bekleidung übernehme ich hier gleich lose in den Mantel eingerollt, um Pullover und Mantel gleich anzuziehen, die Hose wird untergeknöpft. Die Fettigkeiten packe in einen Karton und stecke ihn in den alten Rucksack. Sieh doch mal zu, ob Du bei meinen Geschwistern nicht eine Reihe Pfunde für mich zusammenkriegen kannst, so hält man es nicht mehr lange ohne Schaden aus. Ich denke so auf eine Reihe Woche verteilt an 2-3 Stck. Butter, 2-3 Pfd. Schmalz, 3-4 Pfd. Speck, 2 Büchsen Wurst, 2-3 Pfd. Hartwurst, ½ Brot oder Semmel, 2kl. Kruken Marmelade. Es ist zuviel, wirst Du denken, hast vielleicht gar Recht, aber, verstehe, nach den Entbehrungen meine dringende Bitte. Sollten wie dann mal plötzlich nach Hause kommen, so wird es schnell an meine altmärkischen Freunde verteilt, die es in Natura zurückgeben. Die Zusammenstellung überlasse ich Dir. In das Paket muß noch 1 Kiste Zigarren, evtl. Schachteln Zigarillos, die Pfeife mit rein, ferner 5 Rasierklingen, 1 Näh-, 1 Stopfnadel, 1 Küchenmesser, 1 Löffel, Zahnbürste, evtl. Schachteln Streichhölzer, evtl. Äpfel und Zwiebeln. Damit Du alles in Ruhe erledigen, Dir eine evtl. notwendige Reisebeschreibung besorgen kannst, setze ich den Tag des Kommens weiter zurück fest. Darüber genau am Schluß. Die Fahrt geht über Berlin Stettiner Bhf. Nach Oranienburg. Anreisetag am Tage vorher nach Hohenneuenburg (4Stationen vor Oranienburg). Dort wohnst Du Friedrichstr. 7II bei Gertr.
Schultze (Frau eines hiesigen Kameraden). Einige Zeilen des Mannes für seine Frau liegen bei. Verpflegung für Dich nimm bitte mit, Beamtenhaushalt. Einen ausführlichen Brief nähe irgendwo unter dem Futter gut ein. 2 Paar Fußlappen und etwas weißes und schwarzes Garn beilegen. Lasse Frau Kuhrts bestens grüßen. Kurt Reinicke schreibt seiner Frau allein. Komme bitte allein, keine Gesellschaft, da lässt sich alles gut abwickeln, da unauffälliger. (…) (12) Frau Pessel fuhr gemeinsam mit einer Lehrersfrau aus Wefensleben und einem Paket nach Oranienburg. Ob ihr Mann die Sachen auch bekommen hat, das weiß seine Tochter nicht. Danach hörte die Familie nichts mehr von Georg Pessel. Am 11.Dezember 1946 starb er. Es wurde als Todesursache „Herzlähmung“ vermerkt. (13) Franz Kuhrts war schon ein halbes Jahr vorher, im März 1946, gestorben. Die Familie musste nach der Festnahme des Vaters erst die Wohnung und später den Ort verlassen. Die Mutter der ersten Frau kehrte nach hause zurück. Die Ehefrau zog wieder in ihren Heimatort und führte den elterlichen Bauernhof in Gohre. 1965 erreichte sie das Rentenalter und ging 1972 zu einer Freundin in die Bundesrepublik nach Bad Segeberg und später in Hannover. Ab 1998 lebte sie in einem Stendaler Heim, wo sie im Ater von fast 99 Jahren im Jahre 2003 starb. Magdalena Pessel arbeitete als Unterstufenlehrerein und gab auch Sportunterricht, erst in Haldensleben, dann in Magdeburg.(14) Ihr Verlobter war zunächst bei einem Bauern angestellt, dann als Dolmetscher bei der Kommandantur in Haldensleben und später bei verschiedenen Betrieben. Sie heirateten, bekamen einen Sohn und zogen 1949 kurz vor der Geburt der Tochter nach Magdeburg. Immer mal wieder nahm Magdalena verh. Ruden Kontakt zu aus Lagern Zurückgekehrten auf, um etwas über ihren Vater zu erfahren, aber die Männer schweigen über das Erlebte. Sie erfuhr auf diese Weise nichts.1957 besuchte sie Freundinnen in Helmstedt und Hamburg, daraufhin sollte sie strafversetzt werden. Das lehnte sie ab und man ließ sie gehen. Für eine Schwangerschaftsvertretung wurde sie 1959 schließlich wieder eingestellt. Neun Jahre war sie als Parteilose auch stellvertretende Direktorin, aber die Politisierung in dieser Position sagte ihr nicht zu. So war sie erleichtert, als sie diese Tätigkeit 1972 aufgeben und nur noch Mathematik- und Physikunterricht geben konnte. 1974 erhielt ihr Bruder in Iserlohn über das Deutsche Rote Kreuz Sterbedatum und Sterbeort des Vaters. Nun hatten sie endlich Gewissheit, auch wenn viele Fragen damit nicht beantwortet waren.1982 ging Magdalena Ruden in den Ruhestand, blieb aber weiter an Geschichte interessiert und nahm regen Anteil an der Politik. Wie beliebt ihr Vater war, erfuhr sie 1987 während eines Schultreffens in Ostingersleben, zu dem die ehemaligen Schüler, oft von weit her, angereist waren. Auch im Dorf wird heute noch gut über ihn gesprochen. Nach dem Ende der DDR bemühte sich Magdalena Ruden gemeinsam mit ihrem Sohn um weitere Aufklärung des Schicksals ihres Vaters und wurde 2007 als Angehörige eines politischen Häftlings anerkannt. Quellennachweis: (1) Die Informationen zur Geschichte Georg Karl Pessel gab seine Tochter Magdalena Ruden während mehrerer Gespräche im August 2008, wofür ihm die Verfasser ( Edda Ahrberg, Dorothea Harder) herzlich danken. (2) Die Auskunft des DRK-Suchdienstes München vom 10.4.2007 an M. Ruden beinhaltet den Hinweis, dass er „angeblich als Mitglied der NSDAP +Propagandaleiter + gewesen sein soll. Der Tochter ist darüber nichts bekannt. Vgl. Zeitzeugengespräch am 6.8.2008 mit M. Ruden, in: VOS-Archiv Magdeburg, und Auskunft des DRK, in: Privatarchiv M. Ruden. (3) Zeitzeugengespeäch am 6.8.2008 mit M. Ruden, in VOS-Archiv Magdeburg. (4) Ebenda, (5) Ebenda. (6) Schreiben von M. Ruden am 14.5.2007 an das Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt, in: Privatarchiv M. Ruden. (7) Das Haus gehörte Familie Wulfien, vgl. Zeitzeugengespräch am 6.8.2008 mit M. Ruden, in: VOS-Archiv Magdeburg. (8) Schreiben von M. Ruden am 14.5.2007 an das Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt, in: Privatarchiv M. Ruden. (9) Es wurde der Tochter erzählt, dass die anderen Männer sich ohne ihren Vater am Abend vorher im anderen Schulhaus getroffen und abgesprochen haben, ihn zu belasten. Den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht konnte sie nicht überprüfen. Vgl. Zeitzeugengespräch am 6.8.2008 mit M. Ruden, in: VOS-Archiv Magdeburg. (10) Ebenda. (11) Nach Angaben seiner Tochter hatte er damit seit seiner Festnahme rund 20kg. abgenommen, ebenda (12) Brief von Georg Pessel am 12./13.11.1945 an seine Ehefrau, in: Privatarchiv M. Ruden, Es ist zu vermuten, dass er an einigen Stellen die Situation beschönigt um seine Familie nicht noch mehr zu beunruhigen. (13) Auskunft des DRK-Suchdienstes München vom 10.4.2007 an M. Ruden. Vgl. auch: Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten: Totenbuch sowjetisches Speziallager Nr.7/Nr.1 in Wessow uns Sachsenhausen 1945-1950, Berlin 210, S. 226. (14) 1944 hatte sie die Sportlehrerprüfung abgelegt. Vgl. Zeitzeugengespräch am 6.8.2008 mit M. Ruden, in: VOS-Archiv Magdeburg. Wiedergabe als Niederschrift Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. Landesgruppe Sachsen-Anhalt (Hg.) Schriftreihe Band 65 Seiten 96-102 Abgeholt und verschwunden (2)
Neuenhofe Rudolf Güldenpfennig geb. 2.August 1892, verst. 25.September 1949 im Speziallager Buchenwald Rudolf Güldenpfennig entstammt mit seiner Schwester Else einer größeren Familie. (1) Er wurde am 2.August 1892 als Sohn des Bauern Heinrich Güldenpfennig und seiner Frau Dorothee in Neuenhofe geboren. Aus dem Ersten Weltkrieg trug er als ganz junger Soldat schwere Verletzungen davon. Durch Granatsplitter war sein rechtes Bein versteift, so dass er nicht mehr richtig gehen konnte. Sein Bruder Heinrich war gefallen. Am 20. Oktober 1920 heiratete Rudolf Güldenpfennig Ella geb. Ernst. Das Ehepaar bekam drei Kinder Joachim (1922), Heinrich (1925) und Elisabeth (1929). „Er war ein ruhiger und recht ausgeglichener Mensch, war mit Leib und Seele Bauer“, sagt seine Tochter über ihn. (2) Auf Grund seiner Kriegsverletzung konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben. Der Acker und die Wiesen wurden ab 1932 verpachtet. Einen ½ ha behielt die Familie für sich. Sie hatten eine Kuh, zwei Schweine und etliche Hühner. Von 1935 bis August 1945 war Rudolf Güldenpfennig Bürgermeister von Neuenhofe. Er trat in die NSDAP ein. Vom Wehrdienst blieb er im Zweiten Weltkrieg verschont. Anfang August 1945 kamen sowjetische Soldaten mit Maschinenpistolen in das Haus. Die Ehefrau und die Tochter Elisabeth mussten sich in je eine Ecke des Zimmers stellen. Rudolf Güldenpfennig wurde mitgenommen. Seine Frau versuchte, die Soldaten zu überzeugen, ihn zu Hause zu lassen. Der Zustand seines Beines hatte sich wieder verschlechtert. Die Granatsplitter eiterten heraus und er hatte große Schmerzen. Aber es gab keine Gnade. Die Bewirtschaftung des verpachteten Ackers lohnte sich wohl nach Kriegsende nicht mehr. Die Familie bekam ihn völlig verkrautet und „ausgehungert“ zurück. Es begann eine harte Zeit. Die Ehefrau musste mit Joachim und Elisabeth anfangen, die insgesamt 30ha umfassenden Flächen zu bewirtschaften. Von morgens früh bis zum Dunkelwerden wurde geschuftet. Das hielten sie bis zu Joachims Verhaftung im Herbst 1952 durch. Dann mussten sie ihre Wirtschaft der örtlichen Landwirtschaft zur Verfügung stellen, aus der im Frühjahr 1953 die LPG wurde. Der Aufnahmeantrag der Frauen in die LPG wurde abgelehnt. Ihnen unterstellte man auf Grund der Verhaftungen, dass sie dem Betrieb schaden könnten. Joachim Güldenpfennig und sein Onkel waren im November 1952, diesmal von DDR-Behörden, verhaftet worden, als letzterer in einer Gaststätte auf einen Vorgang zu sprechen kam, der schon über drei Jahre zurück lag. Joachim Güldenpfennig hatte im März 1949 zwei SED-Kandidaten für die Wahl zur Gemeindevertretung, die mitverantwortlich für die Verhaftung seines Vaters gemacht, in einer öffentlichen Einwohnerversammlung gefragt, wie sie das wieder gut machen wollen, was seit 1945 geschehen war. Er hatte dabei auf die noch bestehenden sowjetischen Speziallager auf dem Gelände ehemaliger Konzentrationslager und die Tatsache, dass darin auch Unschuldige eingesperrt seien, verwiesen. Joachim und Otto Güldenpfennig wurden nach der Kontrollratsdirektive 38, Abschn. II, Art. III A III vom Bezirksgericht Magdeburg wegen der Verbreitung „faschistischer Propaganda“ und „Kriegshetze“ verurteilt, Otto zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und Joachim Güldenpfennig zusätzlich nach Art. 6 Abs. 2 der DDR-Verfassung zu einer Zuchthausstrafe von zwei Jahren. Darüber hinaus wurden Sühnemaßnahmen auferlegt. In der Begründung zum Urteil heißt es: „Es ist eine typische Behauptung der monopolkapitalistischen Hetzer. Diese sind stets bemüht, sowohl den Mitgliedern der Sozialistischen Einheitspartei, vielen fortschrittlichen Menschen in unserer Republik und vor allem der SU zu unterschieben, das sie - unschuldige - Menschen interniert und in Internierungslagern umkommen lassen. Im Rahmen einer Hetze gegen die SU ist dies Propaganda für den Faschismus. Außerdem stellen derartige Äußerungen eine ernste Gefährdung der freundschaftlichen Beziehungen des deutschen zum sowjetischen Volke dar und sind tendenziöse Gerüchte, die von dem Angeklagten erfunden und verbreitet wurden und die geeignet sind, den Frieden des deutschen Volkes und den der Völker der Erde zu gefährden. (…) Sie sind eine Unterstützung des kriegshetzerischen Monopolkapitals und fördern damit die Bestrebungen der Imperialisten, im deutschen Volke Unfrieden zu stiften und die Gemüter zu erhitzen und sie gegen die Führerin des Weltfriedenslagers, die SU aufzuwiegeln. Außerdem dienen derartige Hetzreden dazu, die Werktätigen in ihren Bestrebungen einen neuen Weltkrieg zu verhindern, zu verwirren und von diesem Ziel abzubringen. Sie sind ein Angriff auf die Aktionseinheit sämtlicher friedliebender Völker und dazu angetan, in breitem Maße der Antisowjethetze zu dienen. Damit haben die Angeklagten sich zu Handlangern der Kriegsbrandstifter gemacht. (…) Es ist unbedingt erforderlich, dass beide Angeklagte, eine politische Umerziehung durchmachen müssen und die in unserem modernen Strafvollzug gewährleistet ist“. (4) Elisabeth Güldenpfennig half im Ort in einem Arzthaushalt, 1954 heiratete sie, arbeitete dann zehn Jahre in einem Lebensmittelgroßhandel und anschließend im Fleischkombinat, Einkaufsabteilung Haldensleben. Dort konnte sie eine Ausbildung als Landwirtschaftskaufmann abschließen. Im Dezember 1989 schied sie aus dem Betrieb aus, da sie das Rentenalter erreicht hatte. Sie wohnt heute noch gemeinsam mit der Familie eines ihrer Söhne in ihrem Elternhaus. Ein anderer Sohn wohnt in Norddeutschland. Jahrzehnte hatte sie nichts über Rudolf Güldenpfennig gehört. Erst nach dem Ende der DDR erfuhr sie vom Suchdienst des DRK, dass er am 25.September 1949 im Lager Buchenwald (4) gestorben war. Quellennachweis: (1) Die Informationen zur Geschichte Rudolf Güldenpfennig gaben seine Tochter Elisabeth Thiele und Magdalena Ruden während mehrerer Gespräche im August 2008, wofür ihm die Verfasser ( Edda Ahrberg, Dorothea Harder) herzlich danken. (2) Brief von E. Thiele am 19.8.2008 an Edda Ahrberg, in: VOS-Archiv Magdeburg. (3) Urteil vom 6.3.1953 (Oberrichter Richter, Staatsanwalt Jürgens), in: BStU, BV Magdeburg, Ast.419/52, Bl. 18-24. (4) Volkhard Knigge, Bodo Ritscher: Totenbuch Speziallager Buchenwald 1945-1950. Wiedergabe als Niederschrift Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. Landesgruppe Sachsen-Anhalt (Hg.) Schriftreihe Band 65 Seiten 102-105 Abgeholt und verschwunden (2)
Rogätz Alwin Kempe geb. 26.September 1898, verst. 10.Juli 1947 im Speziallager Sachsenhausen Alwin Kempe wurde als das zehnte Kind und letzte Kind des Landarbeiters Heinrich Kempe und seiner Frau Luise am 26.September 1898 in Badeleben bei Magdeburg geboren. (1) Sein Berufswunsch war es, Lehrer zu werden. Verwandte halfen mit, seine Ausbildung zu finanzieren. Er besuchte bis 1917 die Präparandenanstalt in Weferlingen und wurde im Februar 1917 eingezogen. Nach einem halben Jahr Ausbildung musste er im Oktober des gleichen Jahres ins Feld und war bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in Frankreich. Anschließend setzte er bis 1920 in Halberstadt seine Ausbildung fort. Nach Abschluss arbeitete er ein halbes Jahr als Schreiber im Tagebau, Grube „Anna“, bevor er 1921 eine Stelle als Elementarlehrer in Badeleben bekam. Schließlich wurde er als Lehrer in Heiligenfelde angestellt. Dort wohnte er im Schulhaus und konnte sich auch in dem dazugehörigen Garten betätigen, wo er Gemüse züchtete und Bienen hielt. 1923 verlobte er sich mit der drei Jahre jüngeren Bauerntochter Hedwig Schenk aus Heiligenfelde, die er im November 1926 heiratete. Inzwischen war er 1925 an die einklassige Schule in Erxleben bei Osterburg versetzt worden. Neben seinem Beruf engagierte er sich dort in Vereinen und spielte sonntags im Gottesdienst die Orgel. Auch hier besserte das Gemüse aus dem Garten das schmale Lehrergehalt auf. Die Landschaft gefiel ihnen sehr. Nicht nur allein, sondern auch mit den Schulkindern veranstalteten er und seine Frau Ausflüge in die Heide. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten änderte sich die politische Situation in Deutschland. Ende April 1933 trat Alwin Kempe in die NSDAP und am 31.Mai 1933 in den Nationalsozialistischen Lehrerbund ein. Laut überlieferter Unterlagen war er für die SA-Reserve II erfasst. (2) Im Oktober 1933 wurde seine Tochter Liese-Lore geboren und er hatte nun für eine kleine Familie zu sorgen. 1936 bot sich die Gelegenheit zum Wechsel an eine mehrklassige Schule nach Dahlenwarsleben in der Magdeburger Börde. Hier konnte er als Hauptlehrer unterrichten. Am Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 wurde Alwin Kempe bei der Musterung als „kriegsunfähig“ eingestuft und nicht zur Wehrmacht eingezogen. Trotzdem war der Krieg für alle spürbar und konnte auch in der Schule nicht ausgeblendet werden. Ein polnischer Zwangsarbeiter wurde um 1941 auf dem Marktplatz von Dahlenwarsleben erhängt, weil er sich mit einer deutschen Frau angefreundet hatte. Sie musste kahl geschoren der Hinrichtung zusehen und kam anschließend in ein Arbeitslager, ihre beiden Töchter in ein Heim. Die Zwillinge waren Mitschülerinnen von Liese-Lore Kempe. Ihr Vater hatte am Hinrichtungstag nachmittags außerschulischen Unterricht angesetzt, damit die Kinder von der Straße waren. (3) Im Frühjahr 1942 zog die Familie zurück in die geliebte Altmark nach Rogätz an der Elbe. Ab 1.April 1942 wurde Alwin Kempe hier Schulleiter. In dieser Funktion hatte er nun immer wieder auch in der Öffentlichkeit aufzutreten und Reden zu halten. 1944 wurde die zweite Tochter Adelheid (Heidi) geboren. Mit der Zunahme der Bombardements auf die großen Städte und besonders nach der Zerstörung Magdeburgs im Januar 1945 kamen viele Flüchtlinge in den kleinen Ort. In der Schulchronik heißt es für 1944: „Das Schulleben stand in diesem Kriegsjahr leider im Zeichen des feindlichen Bombenterrors und der Evakuierung der Bevölkerung. Alle sonstigen Sorgen im schulischen Leben traten gegen die neuen Aufgaben zurück. Die ersten Flüchtlinge kamen aus Magdeburg im Frühjahr 1944. Das Lehrerpersonal half beim Ausladen der Möbel und deren Transport im Dorf. Ca. 50 Schulkinder kamen zu uns, vorwiegend in die Grundschulklassen, da ja die Kinder aus den oberen Klassen meist geschlossen in ein KLV-Lager (4) kamen. (5) Gegen Ende des Krieges sollte bei Rogätz noch zur Verteidigung der Elbe ein Brückenkopf gebildet werden. Die Bevölkerung wurde über Lautsprecher aufgefordert, den Ort zu verlassen. Viele kampierten in der Feldmark zwischen Angern und Rogätz, auch Familie Kempe. Schließlich rückten Anfang Mai 1945 amerikanische Panzer heran. Mit weißen Tüchern gingen die Menschen auf sie zu. Der Bevölkerung wurde befohlen, sich am Bahnhof in der Feldmark zu versammeln. Liese-Lore Hopp erinnert sich: „Vor dem Bahnhof bot sich ein Bild des Entsetzens: am Abend zuvor hatte sich hier der Kreisleiter Niemöller (…) mit einigen seiner letzten Getreuen dem Suff ergeben, die Nacht durchgezecht und sich dann erschossen. Wahrscheinlich waren Hitlerjungen und Soldaten zur Verteidigung auf dem Bahnhof postiert, die nun erschossen, blutverschmiert übereinander geworfen vor dem Bahnhof lagen. Wir wurden über evtl. versteckte Soldaten in der Feldmark verhört und dann im Konvoi nach Rogätz zurückgebracht. (…) Tage später konnten wir vom Dach der Schule beobachten, wie die Russen mit Schlauchbooten über die Elbe nach Rogätz kamen und am Ufer von den Amerikanern mit Jubel empfangen wurden, um gemeinsam eine Siegesfeier zu veranstalten.“(6) Als sich die Amerikaner, wie unter den Siegermächten vereinbart, Ende Juni zurück zogen und die sowjetischen Truppen kamen, richteten sie in der Schule ihre Kommandantur ein. Kempes mussten ausziehen und bekamen im Schloss zwei Zimmer zugewiesen. Nachdem schon die Amerikaner alle leitenden NSDAP-Funktionäre verhaftet hatten, setzte nun eine neue Verhaftungswelle ein. Am 12.August wurde Alwin Kempe mit anderen Männern an die Elbe bestellt, um Kähne auszuladen. Er war nicht zu Hause als die Soldaten kamen um ihn festzunehmen, deshalb wollten Mutter und Tochter ihn warnen. Liese-Lore Hopp erinnert sich: „Und ich lief wie um mein Leben, erreichte die Strasse , die zur Anlegestelle herab führte, da kam mir ein Trupp russischer Soldaten entgegen, wieder mit aufgepflanzten Gewehren und führten Vater vor sich her. An diesen Augenblick mag ich bis heute nicht denken; ich weiß nur noch, dass ich einen Augenblick
stutzte und wollte mich zu ihm stürzen. Vati muss es gespürt haben, er sah mich mit so einem festen Blick an, der mir versagte, mich ihm zu nähern. Ich stellte mich hinter die Litfasssäule und schlich dann in einiger Entfernung hinterher und beobachtete, dass sie in einer Villa verschwanden, und noch andere Verhaftete dort abgeliefert wurden. Ich raste zurück zum Schloss; Mutti war völlig verzweifelt angekommen, sie hatte Vati nicht mehr gesehen. Sie versuchte über den Bürgermeister und andere Zugang zum Kommandanten zu bekommen oder wenigstens etwas zu erfahren –aber nichts war möglich. Die nächsten zwei Tage hielt ich mich nur in der Nähe dieses Hauses auf. Ein russischer Posten, mit dem ich mich wortlos verständigen konnte, oder vielleicht war er bei der Verhaftung dabei gewesen, verschwand kurz im Haus, um mir dann zu bedeuten, an das Kellerfenster zu gehen. Es wurde für einen sehr kurzen Augenblick geöffnet, Vati schaute aus dem Keller nach oben herauf: -Bring einen Rucksack und warme Sachen, wir kommen weg – Das war für mich der zweite unvergessene Moment. Ich eilte zurück zu Schloss und Mutti packte einige Sachen in den Rucksack zusammen. Derselbe Russe ließ wieder kurz das Kellerfenster öffnen, wir durften Vati den Rucksack hineinschubsen –und ihn noch einmal kurz sehen.“(7) Am nächsten Tag versuchte Hedwig Kempe vergeblich, im Magdeburger Regierungspräsidium etwas für ihren Mann zu erreichen. Währenddessen sah seine Tochter vom Fenster aus, wie der Vater weggebracht wurde: „Abends im Dämmern fuhr ein offener russischer Laster voller Menschen vorbei, einer stand in der Mitte und winkte mit dem Hut zum Schloss herüber, -das war unser Vater, der 3. Moment den ich nie vergessen werde.“(8) Der Vater kam nicht zurück. Mit Hilfe von Nachbarn gelang es, einen Lastwagen mit Hänger zu besorgen, der Hedwig Kempe und ihre Töchter nach einiger Zeit mit etwas Hausrat zu ihren Eltern nach Heiligenfelde brachte, wo schon andere Familienmitglieder Zuflucht gefunden hatten. Bis zum Frühjahr 1947 trafen ab und zu über wildfremde Menschen, denen das Leid der Lagerinsassen und ihrer Angehörigen nicht gleichgültig war, Kassiber vom Vater ein. Darin bemühte er sich, seiner Frau und den Kindern die Sorgen zu nehmen. In einem Brief an seine Schwester sprach er im November 1945 dagegen von einer „schlimmen Zeit, voll körperlichen und seelischen Belastungen“ und davon dass er „sehr hungrig und heruntergekommen“ ist. (9) Auf diese Weise wusste die Familie wenigstens, dass er zunächst auf die Burg Tangermünde, hier wahrscheinlich in die Alte Kanzlei, und dann in das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht wurde. Kassiber vom 15.August 1945: „Liebe Mutti u. Kinder, heute nach Tangermünde –Voraussichtlich in den nächsten Tagen nach d. Mark Brandenburg. Aufräumen. Wie lange –unbestimmt. Du musst die Wohnung dann doch wohl aufgeben und nach H. gehen. Kopf hoch! Die Situation meistern, nicht weich werden! Ich schlage vor: Schlafzimmer zu Knoll, Küche mit allen Kleinigkeiten verschließen, zu Hartwig, der vielleicht durch Rücksprache mit P. einen Raum für uns zubekommt. Miete dann für uns natürlich. Hartwig kann den Raum beaufsichtigen. Kaninchen für Knoll, Hühner für Hartwig, gegen spätere Rückgabe. Von Zeit zu Zeit kannst Du ja Geld und anderes nachholen. Bienen muß Müller auffüttern, bitte ihn darum. Einzelstücke und Wäsche- u. Konserven- u. Zeugkisten bei vertrauenswürdigen Leuten unterstellen. Podsada. Dann wie in den Großen Ferien nach Hause fahren! Vielleicht im Oktober! Ich bin vor anderen Kameraden noch gut dran, jünger, ohne Wirtschaft, gesünder. Trotzdem Sehnsucht zu Euch. Das kannst Du Dir wohl denken. Mit Mumme, Bethge, Klötze zusammen, das ist gut. Hoffentlich bei Euch alles gesund. Wenn ich Euch in H. weiß, bin ich beruhigt und das Unentbehrliche und Unangenehme tragen, wie die anderen. Für heute Schluß.“(10) Aus einem Kassiber vom 20.August 1945 aus Tangermünde an seine Frau: „Ihr Lieben alle, gestern habe ich in Gedanken den ganzen Sonntag mit Euch verbracht. Mir geht es gut. Hoffentlich hast Du Dich, liebe Mutti, gefasst und bist stark, alle auftauchenden Fragen zu meistern. Ich bitte Dich so darum, mutig und entschlossen zu sein, Dich nicht unterkriegen zu lassen. Es wird bestimmt wieder alles gut werden. Genaues wissen wir noch nicht. Immer alles heimlich beim Eussen. Man spricht von 8-11 Wochen Aufräumdienst bei Berlin. Die Zeit geht dann auch hin, nur die Gewissheit möchte ich haben, dass Du Dich nicht unterkriegen lässt. Ich tröste mich mit vielen Alten, 60,67 sogar einer 70 Jahre alt. Auch Frau R. aus Loitsche ist hier, 14 Tage Haft, dann soll sie wohl nach Hause. Es sind schon mehr Frauen hier, auch ein Frauenlager ist im Osten bei Berlin. Nur gesund bleiben, Nerven behalten, das ist die Hauptsache für beide Seiten.(…) Liegen auf der Burg, in einem mittelalterlichen Speicher, 260 Mann in 2 Etagen, aus dem ganzen Bezirk Magdeburg. Arbeiten nicht, nur herumsitzen, hungern nach Luft, Licht und Freiheit. Ich sehne mich nach der Tagelöhnerarbeit, wie glücklich war ich trotz ihrer Schwere, Verpflegung ist leidlich. Etwas abnehmen werde ich natürlich, das schadet aber nichts. - Der Russe räumt scheinbar das Gebiet nicht,alle Kameraden haben den Eindruck. Wir sind auch nicht die einzigen, die weggekommen sind, mehrere werden folgen.-(11)
Aus einem Kassiber aus Sachsenhausen vom 22.November 1945: Liebe gute Mutti, herzliebe Kinder. Auf verbotenem Umweg ist es mir möglich, Post abzuschicken. Hoffentlich habt ihr meinen Kartengruß erhalten. Erneut will ich Euch bestätigen, dass ich gesund bin und hoffe sehnlichst von Euch dasselbe. Nur gesund bleiben, das ist mein Abend- und Morgengebet, mein Tageswunsch zu jeder Stunde, einmal wird die Stunde der Befreiung doch kommen. Wann weiß ich nicht, weiß im Lager (14.000) keiner. Wir warten seit Ende September, nun wo es kalt wird, erst recht. Wir sind ohne Winterausrüstung und hoffen daraus, wie aus dem Nürnberger Beschluß, dass die Häftlinge zu entlassen seien, dass es doch jeden Tag was werden kann. Aber, aber …die Parolen haben uns schon so oft enttäuscht, dass ich keiner mehr glauben kann und will. Ich will mich in Geduld fassen und bitte Dich und alle, es auch zu tun, auch wenn es in den Winter hineingehen sollte. Nur vor Weihnachten möchte ich bestimmt raus, wir alle, denn die meisten sind 45 bis 60, ja 70 jährige sind hier. Den Ort möchte ich nicht nennen, er liegt nördlich von Berlins.(…) Die Heimlichkeit der Russen ist wirklich unheimlich. Und wenn ich länger bleiben sollte, als ich hoffe, dann macht Euch noch keine Sorgen, sondern habt Geduld. Das Geduldhaben ist ja das Allerschwerste, das Gebundensein, die Unfreiheit! Manchmal unerträglich.(…) Cordes, Arendsee, ist gestorben, bitte aber um Geheimhaltung; die Todesnachricht kann Kaske der Frau überbringen. Bitte also beherrschen!(…)“(12) Aus einem Kassiber vom 27.November 1945: „(…) Von Entlassung wird viel gesprochen, aber es ist noch nichts davon zu merken. Andere Lager sind entlassen, wie Posen und Landsberg a.W., und nun hoffen wir natürlich auch. 14.000, darunter 1.000 Frauen sind hier im ehemaligen Konzentrationslager. Die Unterbringung ist leidlich, Verpflegung schwach, Arbeit wenig. Unser Hiersein ist eine reine Freiheitsstrafe, deren Ende wir so herbeisehnen, wie die Kinder das Weihnachtsfest. Ich bin oft krank vor Sehnsucht und muß mich sehr in Gewalt haben, dass ich mich vom Seelischen nicht unterkriegen lasse. Es ist nur gut, dass wir viele (70 Mann) in einer Baracke liegen, und so einer am anderen Halt hat und die Unterhaltung etwas vom Grübeln abhält. Heute morgen mussten wir in dem Lagerangeschlossenen Fabrikanlagen (z.Teil zerstört) Altpapier beiseite räumen. Das ist nicht schwer gewesen, aber es war kalt. Der Sommermantel wärmt ja nicht. Was bin ich bloß froh, dass Du liebe, gute Mutti, mir die 2 grünen Hemden mitgegeben hast. Den Pullover haben mir die Russen bei meinem Eintreffen weggenommen. Aber ich habe dafür die beiden dicken Hemden und das Unterhemd an. Ein Paar Halbschuhe habe ich bekommen, dafür bin ich sehr froh, denn kalte Füße verursachen sofort Durchfall bei mir. Seit einigen Tagen können wir auch heizen, nun ist’s zum Aushalten.(…)“(13) Der letzte Kassiber kam im Februar 1947. Darin schrieb Alwin am Schluß: „Gott hilft uns durch uns selbst. Zähne zusammenbeißen, wie ich auch. Ich bete für Euch, tut Ihr es für mich, sonst aber tapfer und groß sein.“(14) Als 1948 viele Häftlinge aus den lagern entlassen wurden, fuhr die älteste Tochter zu einem der Entlassenen, einem alten Bekannten aus Dessau, den ihr Vater auch in einem Kassiber erwähnt hatte: „Ich radelte an einem Sonntag im August nach Dessau. Er empfing mich allein im Zimmer, sagte nicht viel, sah mich nur unentwegt an. Er war mit Vater zusammen gewesen, der wurde im Sommer 1947 schwer krank, kam in eine Lazarett-Baracke. Falls einer gesundete, kehrte er zurück an seinen alten Platz. Vater kam nicht zurück. Er hat viel auf seiner Pritsche gesessen, und an uns geschrieben, falls er zu einem Stück Papier gelangte. Dann sagte Herr K.(…), indem er mich umfasste: - Fahr nach Hause und warte nicht mehr’…und schob mich aus der Tür. Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause radelte, obwohl nur noch ein winziger Funke Hoffnung mit uns gelebt hatte, war mit einem Male alles zerstört. Mutti hatte auf mich gewartet und brach total zusammen. Ich bekam Angst um sie , lief ins Dorf, wo die Familie beim Kaffee bei Onkel Karl versammelt war, und holte Oma und Tante Lisa. Heidi und Rosi, beide gerade vier Jahre alt, trabten uns nach, den beiden entging nie etwas. So konnten sie die plötzliche Traurigkeit nicht erklären, stellten sich unter dass Fenster und sangen Kinderlieder, wohl um uns abzulenken oder einfach Freude zu bringen und so die Stimmung zu ändern. Unsere Zeitrechnung – wenn Vati wiederkommt – galt mit einem Male nicht mehr.(15) Für Liese-Lore endete die Kindheit. Sie ging 1949 nach Rostock zur Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung. Wohnen konnte sie bei Bekannten ihrer Eltern, wo sie im Haushalt mitzuhelfen hatte. Ihre Mutter fing an in einem Nebengebäude des elterlichen Hofes einzurichten und ein Stück Land zu bewirtschaften. Hühner, eine Ziege und Schweine sorgten für das Lebensnotwendige. Daneben verdiente sie sich etwas durch Näharbeiten für die Nachbarschaft. In Rostock lernte Liese-Lore ihren späteren Mann Vollrath Hoppe aus Groß Schwiesow (Mecklenburg) kennen, der 1949 nach West-Berlin ging und dort an der Technischen Universität mit einem Studium begann. Sie selbst arbeitete nach dem Fachabschluss am Gesundheitsamt in Osterburg. Weihnachten 1952 fand die Hochzeit in Heiligenfelde heimlich statt, da die innerdeutsche Grenze inzwischen immer undurchlässiger geworden war und Vollrath Hoppe seinen ostdeutschen Pass entgegen der Anordnung noch nicht abgegeben hatte. Kurz darauf fuhr Liese-Lore Hopp nach einigen traurigen Abschiedsbesuchen ohne großes Gepäck mit dem Zug von Arendsee nach Berlin. Besonders schwer fiel ihr, die Mutter und die Schwester zurück lassen zu müssen:
„Eine mir gut gesonnene Ärztin, Frau Dr. Butz, hatte eine Bescheinigung ausgestellt, die mich auswies, bestimmte Medikamente und Impfstoffe im Ministerium für Gesundheitswesen in Ost-Berlin abzuholen. So kam ich unbehelligt durch die Zugkontrollen. Auf dem S-Bahnhof Friedrichstraße war die letzte Hürde zu nehmen, nämlich, nicht am Einsteigen in die durch West-Berlin fahrende S-Bahn gehindert zu werden; außergewöhnlich lange hatten hier die Züge Aufenthalt zum Zweck der Kontrolle. Setzte sich die Bahn in Fahrt, ging ein allgemeines Aufatmen durchs Abteil. –Am Bahnhof Zoo fiel ich Vollrath, der dort mit einem Veilchenstrauß auf mich wartete, total fix und fertig in die Arme. –(16) Für die Mutter und Heidi waren Besuche bis zum Mauerbau 1961 in West-Berlin möglich, wenn auch mit großen Schwierigkeiten verbunden. Heidi entschied sich, in der DDR bei der Mutter zu bleiben und absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung als Medizinisch-Technische Assistentin. Sie durfte erst 1977 ihre Schwester, die inzwischen mit ihrer Familie in der Bundesrepublik wohnte, wieder besuchen. Hedwig Kempe hatte es als Rentnerin ab 1967 leichter. Sie erlebte 1989 noch das Ende der DDR. Bei ihrem letzten Besuch im Sommer 1990 gab sie ihr sorgsam behütetes letztes „Westgeld“ nicht ohne Skepsis aus. So ganz konnte sie noch nicht glauben, dass jetzt wieder eine einheitliche Währung in Deutschland galt. Den Tag der Wiedervereinigung am 3.Oktober verbrachte sie mit ihren beiden Töchtern in Hagenow. Der Anblick der Reiter aus Hitzacker und Dannenberg veranlasste sie zu dem Ausspruch: „Das ist ja wirklich alles wie früher!“(17) Sie starb kurz darauf am 10.Dezember 1990. Liese-Lore Hopp erfuhr 1992 bei einem Besuch in Rögätz, dass der 1945 als Nachfolger ihres Vaters eingesetzte Rektor, der Deutschlehrer Arthur König, damals in die Dorfchronik eintrug: „Rektor Alwin Kempe wurde 1945, beseitigt“.(18) Der Antrag auf Rehabilitierung durch russische Behörden verlief 1996 erfolglos. Auf eine erneute Anfrage erstellte die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft Moskau am 24.Juli 1997 eine Archivbescheinigung, in der es heißt: „Alwin Kempe (…) wurde am 12.08.1945 verhaftet und gemäß Anordnung eines Vertreters der Abteilung für Spionageabwehr „SMERSCH“ der 265. Schützendivision am 14.08.1945 in ein Sonderlager des NKWD der UdSSR verbracht, da er als Mitglied der NSDAP seit 1933 die Ideen des Faschismus unter den Mitgliedern der Partei propagierte. Alwin Kempe ist am 17.07.1947 in einem Lazarett des Sonderlagers des NKWD der UdSSR an –Dysenterie (19) gestorben. In den Archiven sind keine Angaben über den Bestattungsort vorhanden.“(20)
Quellennachweis: (1) Die Information zur Geschichte der Familie Kempe gab die Tochter Liese-Lore Hopp 2008/2009, wofür ihm die Verfasser ( Edda Ahrberg, Dorothea Harder) herzlich danken. Sie legte ihre Erinnerungen in einer ausführlichen Familienchronik Weihnachten 2005 für ihre Enkel nieder. (2) Karteikarte mit vermerken zur Mitgliedschaft in NSLB, in der NSDAP und der SA-Reserve, in: BArch Berlin, MF NSLB B 0020, Bl. 930. Hier heißt es : „S.A.R.II.“. Seiner Tochter ist eine SA-Mitgliedschaft unbekannt. (3) L. Hopp: Familienchronik, Bd. 1, S.82 (4) KLV: Kinderlandverschickungslager. (5) L. Hopp: Familienchronik, Bd. 1, S. 112f. Die alte Schulchronik war im Besitz der Familie Kempe geblieben. Frau Hopp gab sie bei einem Besuch in Rogätz 1992 zurück. (6) Ebenda, S. 116. (7) Ebenda, S.119-121. (8) Ebenda, S. 121. (9) Kassiber vom 28.11.1945 aus Sachsenhausen an die Schwester und ihren Mann, in: L. Hopp: Familienchronik, Bd. 2, S. 33f. (10) Ebenda, S. 20. (11) Ebenda, S. 21f. (12) Ebenda, S. 23f. (13) Ebenda, S. 28f. (14) Ebenda, S.30. (15) Ebenda, S.36. (16) L. Hopp: Familienchronik, Bd. 1, S.143f. (17) Ebenda, S.187. (18) L. Hopp. Familienchronik, Bd.2, S.40. (19) L. Hopp: Familienchronik, Bd.1, S.101. (20) Anmerkungen: Dysenterie: Ruhr, . Wiedergabe als Niederschrift Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. Landesgruppe Sachsen-Anhalt (Hg.) Schriftreihe Band 65 Seiten 116-130 Abgeholt und verschwunden (2)
Wanzleben: Wilhelm Hermann Wöhler geb. 31.Oktober 1893, verst. 24.November 1945 in Speziallager Mühlberg/Elbe Die Geschichte von Wilhelm Wöhler schrieb dankenswerter Weise sein Urenkel Steven Karow im Jahre 2011 auf. Der Sträfling gehört gewissermaßen nicht mehr zu den Lebenden. Victor Hugo, Die Elenden
Mein Urgroßvater Wilhelm Wöhler wurde am 31.Oktober 1893 in Preuß. Börnecke als Sohn von Andreas und Henriette Wöhler geboren. Er wuchs mit sechs Geschwistern auf. Am 15.Oktober 1913 trat er seinen Militärdienst als Musketier der 5. Kompanie des Inf. Rgt. 165 an. Im Jahr 1914 verstarb sein Vater und er wurde in der Schlacht bei Arras das erste Mal verwundet. Bei Stellungskämpfen im Bereich Artois wurde Wilhelm Wöhler am 17.Februar 1915 durch einen Brustschuss lebensbedrohlich verletzt. Seine Verlegung in ein Berliner Lazarett und der Pflege durch seine Schwester verdankte er sein Überleben. Dienstunbrauchbar wurde mein Urgroßvater am 6.März 1917 entlassen. Als 1920 das erste nationale Eisenbahnunternehmen, die Deutsche Reichsbahn, seine Arbeit aufnahm, fand Wilhelm Wöhler dort eine Anstellung als Bahnbeamter. In dieser Zeit lernte er wohl auch meine Urgroßmutter Else, eine Tochter des in Bottmersdorf ansässigen Schmiedemeisters Ludwig Lindwurm, kennen. Die beiden heiraten am 6.August 1921 und bekamen fünf Kinder: Editha (1921), Marga (1923), Ingeborg (1924) sowie Brigitte und Eginhard (1933). Das Paar verbrachte die ersten Jahre in der ehemaligen Schmiede in Bottmersdorf und bezog 1934 das neu erbaute Haus in der Bahnhofstraße in Wanzleben. Seit 1936 war mein Urgroßvater für die NSDAP als Blockleiter tätig, eine erneute Einberufung zur Wehrmacht erfolgte im Verlauf des Zweiten Weltkrieges nicht. Am 12.April 1945 wurde die Stadt Wanzleben durch die US-Armee besetzt, nachdem am Vortag der Volkssturm-Zugführer Richard Wegener mit einem weißen Taschentuch in der Hand den Soldaten entgegen gegangen war und damit eine Zerstörung der Stadt verhindert hatte. Die Amerikaner richteten ihre Kommandantur im Nachbarhaus der Familie Wöhler ein und veranlassten neben anderen Besatzungsmaßnahmen die Inhaftierung von nationalsozialistischen Funktionären.(1). Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands erfolgte am 8.Mai. In der Folge der alliierten Vereinbarungen erreichte die Rote Armee die Stadt am Morgen des 1.Juli 1945. Im gleichen Monat bildete sich der „Antifaschistische Ausschuss der Stadt Wanzleben“ unter der Leitung von Walter Krone (SPD), der ebenfalls in der Bahnhofstraße wohnte. Am 23.Juli 1945 wurde die Absetzung des Bürgermeisters Wessel beschlossen, der auf Grund seiner geringen Belastung von den Amerikanern und später von den Engländern im Amt belassen worden war. Im August/September 1945 nahm der Antifa-Ausschuss der Blockparteien seine Arbeit auf, der 689 ehemalige NSDAP-Mitglieder nach ihrer Belastung in verschiedene Kategorien einstufte. Ab August kam es zu Verhaftungen.(2) Der genaue Tag der Festnahme meines Urgroßvaters ist bisher nicht zu ermitteln gewesen. Die Familie wurde in der Nacht durch lautes Klopfen geweckt, das Haus war umstellt. Sämtliche Familienmitglieder mussten sich im Wohnzimmer versammeln, das Gebäude wurde vom Keller bis zum Boden durchsucht. Dabei gingen die Porzellankopfpuppen meiner Großmutter, Marga Wöhler , und ihrer Schwester kaputt, was meiner Oma noch bis ins hohe Alter präsent blieb. Wilhelm Wöhler wurde auf einen, bereits vor dem Haus wartenden, LKW geladen. Laut den Erinnerungen meiner Großmutter saßen bereits andere Personen auf der Ladefläche, sie sah ihren Vater in diesem Moment zum letzten Mal. Nach einer unklaren Zeit der Haft in einem Magdeburger Gefängnis findet sich der Name meines Urgroßvaters auf der Zugangsliste des Speziallagers Nr.1 des NKWD in Mühlberg/Elbe wieder. Als Zugangsdatum ist der 31.Oktober 1945, sein 52. Geburtstag, vermerkt. In der Folgezeit halfen die drei ältesten Töchter, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Laut Auskunft des „Exekutiv-Komitee der Allianz vom Roten Kreuz und Roten Halbmond“ vom 18.April 1975 verstarb Wilhelm Wöhler am 24.November 1945 an einer Herzschwäche. Bereits einige Jahre vor der schriftlichen Bestätigung erfuhr die Familie durch einen Mitgefangenen meines Urgroßvaters, dass er im Lager Mühlberg verstorben sei. Am 27.November 1952 wurde der Bruder meiner Großmutter, Eginhard, unter bisher ungeklärten Umständen tot auf dem Bahnhof in Blumenberg aufgefunden. In seine Grabplatte wurde auch der Name meines Urgroßvaters eingemeißelt. Meine Urgroßmutter Else verstarb im Oktober 1960 an den Folgen eines Schlaganfalls. Als ich vor einigen Jahren begann, mich mit der Familiengeschichte zu beschäftigen stieß ich auch auf das Schicksal meines Urgroßvaters. Die Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. bestätigte den Verbleib Wilhelm Hermann Wöhlers mit ihrem Schreiben vom 4.Oktober 2004.(3) Wir besuchten das Lager regelmäßig bis zum Tode meiner Großmutter am 8.Februar 2008. Sie empfand die Gedenkstätte immer als würdigen Ruheplatz für ihren Vater. Deshalb ist es mir besonders wichtig, der Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. für die Gestaltung und Pflege der Anlage zu danken.(4)
Interessanter Beitrag - und, wie ich meine, im "Westen" nicht so bekannt. Das ist nicht negativ gemeint. Dass es ein solches Lager in Buchenwald gab kam/kommt in der Berichterstattung kaum vor. Ich hatte auch den Eindruck als ich Buchenwald besucht habe dass es gewollt ist dass die "Wegführung" zu diesem Teil der Gedenkstätte quasi als "Nebenprodukt" fungiert. Bei unserem Besuch waren haufenweise Besucher im KZ-Gelände unterwegs, in diesem Teil der Gedenkstätte waren wir dann alleine.
Hallo US330, ich war schon mehrmals zu Besuch in der Gedenkstätte Buchenwald (DDR-Zeit 3x) und seit der Wiedervereinigung 6x was nicht zu bedeuten warum zu DDR-Zeit sowenig. Was dein Gefühl der Wahrnehmung zu dem Speziallager Nr.2 betrifft, so wurden viele damalige Baracken auf Weisung der damaligen DDR-Regierung beseitigt wegen Ausbruchgefahr von Seuchen (für mich eine fadenscheinige Behauptung). Die Nutzung des Geländes durch den ehemaligen NKWD erfolgte nur auf ein Teilgebiet des ehemaligen Konzentrationslagers. Ich selbst habe es bis heute auch noch nicht geschafft, mir die Orte des ehemaligen Spezialagers Nr.2 zubesichtigen, was nicht heißen soll das ich davon nicht's Wissen will. Wenn man sich mit der Geschichte dieser Gedenkstätte intensiv beschäftigen will, da muß man zumindest eine halbe wenn nicht gar eine Woche un mehr einplanen. Gruß Teddy
Hallo Magado2, bekam heute die Eingangsbestätigung auf meine E-Mailanfrage an Mühllberg/Torga (Transport-und Namenslisten von Inhaftierten. Für Morgen ist ein Telefontermin vereinbart worden mit Frau Schramm. Gruß Teddy