Georg Karl Pessel geb. 14.September 1893 Satuelle, gest. 11.Dezember 1946 im Speziallager Sachsenhausen. Georg Karl Pessel wurde am 14.September 1893 in Satuelle (Krs. Haldensleben) geboren. (1) Er wuchs mit acht Geschwistern in einer Großen Familie auf und beschloss, nach seiner Schulzeit Lehrer zu werden. Seine berufliche Laufbahn wurde jedoch durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Am Ende des Krieges wurde er als Leutnant der Reserve entlassen, beendete seine Ausbildung und heiratete Else Güldenpfennig aus Neuenhofe. 1920 begann er, als Dorfschullehrer in Ostingersleben zu arbeiten. Dort unterrichtete er ab 1924 die Klassen fünf bis acht in allen Fächern. Er liebte seinen Beruf sehr. Das Ehepaar bekam drei Kinder: Georg (1920), Magdalena (1922) und Heinz Joachim (1924). Die Familie bewohnte eine Dienstwohnung im Schulhaus. Im Hof und Garten bestand die Möglichkeit, Gänse und Hühner zu halten sowie Gemüse anzubauen. In den 1930er Jahren trat Georg Pessel in die NSDAP und in die SA ein. Er ging zu Versammlungen, übernahm aber keine leitende Funktionen. (2) Im Familienleben spielte die Partei keine Rolle. An einem der Nürnberger Parteitage nahm er jedoch teil und kam begeistert von dort zurück. Seine Frau Else verstarb bereits 1937. Ihre Mutter versorgte danach die Kinder und den Haushalt. Magdalena trat in die Fußstapfen des Vaters. Schon als Kind hatte sie ihren Puppen in seinem Klassenzimmer Unterricht gegeben. Sie ging 1939 von zu Hause weg und absolvierte eine Ausbildung zur Grundschullehrerin. Später unterrichtete sie in Westpreußen an verschiedenen Schulen deutsche und polnische Kinder. Einen Unterschied, wie es politisch nahe gelegt wurde, machte sie zwischen ihnen nicht. Das ließ ihr Gerechtigkeitsempfinden nicht zu. Es regte sie schon auf, dass zum Beispiel in den Geschäften die Polen andere, meist schlechtere Lebensmittel, als die Deutschen bekamen. 1940 wurde Georg Pessel zum Kriegsdienst eingezogen und kam zu den Eisenbahn-Pionieren. Ein paar Mal konnte er im Urlaub seine Tochter besuchen. Er kam viel umher. Der Streckenbau führte ihn durch halb Europa bis nach Frankreich, Norwegen, Russland (Kursk) und zuletzt nach Italien. Von dort wurde er 1944 als seelisch zerbrochener Mann nach Hause entlassen. Seine Tochter, die gerade in den Herbstferien zu Hause war, erlebte ihn vollkommen verändert, ganz ungewohnt still und ängstlich. Über das, was ihm widerfahren war, sprach er nicht. Die Familie erkannte ihn nicht wieder. 1941 hatte er zum zweiten Mal geheiratet, diesmal eine Frau aus Gohre, Louise Heine, genannt Lisa. Er begann nun wieder als Lehrer in seiner alten Schule zu arbeiten. Im Januar 1945 kehrte die Tochter wegen der näher rückenden Front erst mit einem Treck und dann von Stettin mit dem Zug nach hause zurück. Als ihr Vater hörte, dass sie auf dem Bahnhof Wefensleben angekommen war, ließ er den Unterricht ausfallen und holte sie mit dem Schlitten dort ab. Auch der Bruder Georg war da. Ihr jüngerer Bruder war bereits am 9.Dezember 1942 18jährig als Pilot über dem Flugplatz von Fürstenwalde bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückt. Nach dem Ende des Krieges wurde der Kreis Haldensleben zunächst von amerikanischen und britischen Einheiten besetzt. Die deutschen Offiziere wurden festgenommen, auch Georg Pessel. Er kehrte jedoch schon am Folgetag zurück. Die Lage schien sich zu normalisieren. Noch im Mai gelang es der Tochter, bei dem Besuch einer Freundin in der nahe gelegenen Stadt Helmstedt eine Karte der Besatzungszonen zu bekommen. Sie musste entsetzt feststellen, dass ihre Heimat den sowjetischen Truppen unterstellt werden sollte. Ihr Bruder fragte später einen englischen Soldaten, der öfter Eier bei ihnen holte, wann denn die Russen eintreffen würden. Die Antwort „today or tomorrow“(3) blieb seiner Schwester für immer im Gedächtnis. Noch am gleichen Tag beschloss Georg, in den Westen zu fliehen um dort sein Medizinstudium fortzusetzen. Sein Vater brachte ihn am Abend zum Grenzstein zwischen Morsleben und Helmstedt, auf dem schon „UdSSR“(4) geschrieben stand. Sie verabschiedeten sich und wussten zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass es für immer war. Der Vater ging trotz Aufforderung nicht mit, er war sich keiner Schuld bewusst. Im Gegenteil, er hatte einigen Zwangsarbeitern Stellen beschafft, wo sie gut behandelt wurden. Dann kamen die neuen Besatzer. In den ersten Tagen war noch alles friedlich. Magdalena Ruden: „Ich weiß noch, sie sind jeden Abend singend durchs Dorf. Die Russen haben ja wunderbare Lieder, diese russischen Chöre sind ja ein Genuss. Singend durchs Dorf gezogen, dass wir uns noch gesagt haben, was hat uns der Goebbels denn bloß erzählt!“(5) Das änderte sich dann bald. Am 30.Juli wurde Magdalena Pessel auf dem Weg durch das Dorf zu einer Freundin von zwei sowjetischen Soldaten angehalten. Sie berichtete 2007: Sie hielten mir einen Zettel hin mit zehn Namen. Der 10.Name war rot umrandet, war der Name meines Vaters. Mir wurde gesagt, er solle sich bei der Kommandantur melden. Ich habe meinen Vater benachrichtigt. Er ging sofort los, kam nach kurzer Zeit zurück, der Kommandant wäre nicht da, am nächsten Tag sollte er sich melden.“(6) Am kommenden Tag versuchte er es noch einmal. Es war warm, er ging im Sommeranzug und nahm keinen Mantel mit. Die Kommandantur befand sich in einem großen Bauernhaus (7) des Ortes: „Nachmittags ging der Vater wieder los, ich folgte ihm und habe gesehen, wie die zehn Männer in Richtung Eimersleben-Erxleben abgeführt wurden.“(8) Unter den Männern waren auch einige Bauern, darunter Franz Kuhrts (9). Auch dieses Bild prägte sich der Tochter ein. Die Festnahme sprach sich natürlich schnell unter der Bevölkerung herum, „das Dorf war wie geschockt. (10) Am 1.August kamen die gleichen zwei Soldaten wie zwei Tage vorher ins Schulhaus. Nachdem sie sich kurz umgesehen hatten, verlangten sie die Herausgabe des Radios, Marke SABA. Magdalena Pessel musste es, flankiert von beiden, quer durch das Dorf zur Kommandantur tragen. Gemeinsam mit ihrem verlobten, der, in Estland aufgewachsen, gut russisch sprach und als Dolmetscher arbeitete, versuchte sie im Nachbarort Erxleben, wo die Häftlinge gesammelt wurden, über die Soldaten Kontakt mit den Festgenommenen aufnehmen. Der Versuch schlug fehl, sie wurden verjagt. Nach einiger Zeit kamen acht der Männer ins Dorf zurück. Georg Pessel und Franz Kuhrts waren nicht unter ihnen. Der Vorgänger Georg Pessel, Lehrer Krull, setzte sich für seine Freilassung ein und sammelte Unterschriften im Dorf. Viele unterschrieben, aber es nützte nichts. Es sickerte durch, dass die Männer nach Tangermünde gebracht wurden und auf der Burg festgehalten werden. Eine Freundin der Mutter war dort mit einem Zahnarzt verheiratet. Dieser hatte den sowjetischen Kommandanten zum Patienten. Durch ihn bekam sie wahrscheinlich die Gelegenheit, beim Abtransport der Häftlinge über die behelfsmäßige Tangermünder Elbbrücke Georg Pessel im Auftrag seiner Ehefrau eine Decke zuzustecken. Danach hörte sie erst einmal nichts mehr von ihm. Auch sein Schwager, der Bruder seiner ersten Frau, Rudolf Güldenpfennig, war inzwischen abgeholt worden. Georg Pessel kam ins Lager Sachsenhausen. Er versuchte, seiner Familie eine Nachricht zukommen zu lassen. Oranienburger, die im Lager arbeiteten, schmuggelten manchmal Briefe hinaus und halfen auch, Lebensmittelpakete hinein zu bringen. Auf diese Weise erhielt Lisa Pessel einen vierseitigen Brief von ihrem Mann, der darin erwähnte erste Brief war allerdings verloren gegangen. Georg Pessel schrieb ihr am 12. und 13.November 1945 über die Situation und Mitgefangene: „Die Vormittagsfreistunde ist vorüber. Man hat sich in der Barackenstraße trotz des nasskalten Novemberwetters die Füße vertreten, sich gegenseitig getröstet, vertröstet, neue Parolen angehört. Ja, ja, es ist nach 15 Wochen nicht mehr so ganz einfach, manch einer ist schon zerbrochen, andere sind auf den besten Wege dazu. Und doch gilt es nun, den Kopf und den Glauben nicht zu verlieren, eines Tages muß unser Tag der Freiheit kommen. Wieviele Male hofften wir schon, dass es soweit sei, aber immer war der Glaube verfrüht. Sonst kann ich von mir sagen, ich bin gesund und trotz allem hoffnungsfreudig, nur nicht vom Schicksal unterkriegen lassen, wenn es auch manchmal hart ist. (…)Als größtes Unrecht empfinden wir, dass so viele andere, die dasselbe und mehr waren, frei umherlaufen. Wenn man uns (…) mit produktiven Arbeiten beschäftigte; aber das tut man nicht oder wenig. Es bleibt zuviel Zeit zum Grübeln. Es ist gut, dass man immer wieder Bücher auftreibt und lesen kann. Die Unterbringung ist ganz gut, nur darf noch nicht regelmäßig geheizt werden. Über die Behandlung kann man sich auch absolut nicht beklagen, man zählt täglich zweimal wie Nummern durch, kümmert sich sonst wenig um uns. Selbst über die Verpflegung wäre den Umständen nach wenig Nachteiliges zu sagen, seit Anfang isst man morgens eine warme Suppe, eintönig in seiner Art, wochenlang dasselbe, fettlos, mal dicker, mal dünner, aber im Geschmack nicht schlecht. Dann wartest du bis Nachmittag auf die 2. warme Suppe, seit 8 Wochen so eine gutschmeckende Kartoffelsuppe mit wohl einigen Gramm Fett in Form von Öl oder Fleisch. Gegen Abend gibt es dann als Abendbrot 600g Brot und Kaffee. Man magert mehr oder weniger stark ab, ich habe immerhin noch 64kg in der Vorwoche gehabt.(11) Ganz übel ist die Bekleidungsfrage, hätte man sich doch damals gleich wintermäßig ausgerüstet. Ich bin so froh in Tangermünde noch das Paket erhalten zu haben, sonst hätte ich nicht mal eine Decke. Ich danke Dir recht herzlich noch dafür, das war eine Freude damals. Soviel aus meinem Dasein, ich denke, es genügt, um Euch ein Bild über den Vati zu machen, der hofft in Kürze, wenigstens bis spätestens zu Weihnachten wieder unter Euch weilen zu können. (…) Bleibt nur gesund und haltet gleichfalls den Kopf hoch, dann wird alles auch noch wieder besser. (…) Vor einigen Tagen haben die Stendaler ihren Oberbürgermeister hier begraben, ihn zerbrach das Schicksal nach kurzer Krankheit. 13.11. Über Nacht ist der erste Schnee gefallen, es schneit noch. Ich hatte Dich mit Frau Reinicke vorigen Freitag oder Sonnabend in der Nähe des Lagers erwartet, um uns Sachen zu bringen , aber der Brief scheint nicht hingekommen zu sein. Hoffentlich kriege ich diesen gut hinaus und kommt er recht schnell in Deine Hände. Wenn es auch verboten ist Post nach Hause zu senden und Post und Pakete zu empfangen, es bieten sich doch Möglichkeiten. Am letzten Freitag hätte es fein geklappt. Um für den Fall, dass man uns noch längere Wochen festhält, durchhalten zu können, bitte ich um folgende Bekleidung und Wäsche und Fett: den alten grünen Überzieher, die noch gute Militärstiefelhose, Pullover, 1 Wollhemd, 1 dicke Unterhose, 1 P. Strümpfe, 2 Taschentücher, 1 P. Fausthandschuhe, 1 Kopfschützer. Die Wäsche verstaue in die Mantel- bzw. Hosentaschen, die Bekleidung übernehme ich hier gleich lose in den Mantel eingerollt, um Pullover und Mantel gleich anzuziehen, die Hose wird untergeknöpft. Die Fettigkeiten packe in einen Karton und stecke ihn in den alten Rucksack. Sieh doch mal zu, ob Du bei meinen Geschwistern nicht eine Reihe Pfunde für mich zusammenkriegen kannst, so hält man es nicht mehr lange ohne Schaden aus. Ich denke so auf eine Reihe Woche verteilt an 2-3 Stck. Butter, 2-3 Pfd. Schmalz, 3-4 Pfd. Speck, 2 Büchsen Wurst, 2-3 Pfd. Hartwurst, ½ Brot oder Semmel, 2kl. Kruken Marmelade. Es ist zuviel, wirst Du denken, hast vielleicht gar Recht, aber, verstehe, nach den Entbehrungen meine dringende Bitte. Sollten wie dann mal plötzlich nach Hause kommen, so wird es schnell an meine altmärkischen Freunde verteilt, die es in Natura zurückgeben. Die Zusammenstellung überlasse ich Dir. In das Paket muß noch 1 Kiste Zigarren, evtl. Schachteln Zigarillos, die Pfeife mit rein, ferner 5 Rasierklingen, 1 Näh-, 1 Stopfnadel, 1 Küchenmesser, 1 Löffel, Zahnbürste, evtl. Schachteln Streichhölzer, evtl. Äpfel und Zwiebeln. Damit Du alles in Ruhe erledigen, Dir eine evtl. notwendige Reisebeschreibung besorgen kannst, setze ich den Tag des Kommens weiter zurück fest. Darüber genau am Schluß. Die Fahrt geht über Berlin Stettiner Bhf. Nach Oranienburg. Anreisetag am Tage vorher nach Hohenneuenburg (4Stationen vor Oranienburg). Dort wohnst Du Friedrichstr. 7II bei Gertr. Schultze (Frau eines hiesigen Kameraden). Einige Zeilen des Mannes für seine Frau liegen bei. Verpflegung für Dich nimm bitte mit, Beamtenhaushalt. Einen ausführlichen Brief nähe irgendwo unter dem Futter gut ein. 2 Paar Fußlappen und etwas weißes und schwarzes Garn beilegen. Lasse Frau Kuhrts bestens grüßen. Kurt Reinicke schreibt seiner Frau allein. Komme bitte allein, keine Gesellschaft, da lässt sich alles gut abwickeln, da unauffälliger. (…) (12) Frau Pessel fuhr gemeinsam mit einer Lehrersfrau aus Wefensleben und einem Paket nach Oranienburg. Ob ihr Mann die Sachen auch bekommen hat, das weiß seine Tochter nicht. Danach hörte die Familie nichts mehr von Georg Pessel. Am 11.Dezember 1946 starb er. Es wurde als Todesursache „Herzlähmung“ vermerkt. (13) Franz Kuhrts war schon ein halbes Jahr vorher, im März 1946, gestorben. Die Familie musste nach der Festnahme des Vaters erst die Wohnung und später den Ort verlassen. Die Mutter der ersten Frau kehrte nach hause zurück. Die Ehefrau zog wieder in ihren Heimatort und führte den elterlichen Bauernhof in Gohre. 1965 erreichte sie das Rentenalter und ging 1972 zu einer Freundin in die Bundesrepublik nach Bad Segeberg und später in Hannover. Ab 1998 lebte sie in einem Stendaler Heim, wo sie im Ater von fast 99 Jahren im Jahre 2003 starb. Magdalena Pessel arbeitete als Unterstufenlehrerein und gab auch Sportunterricht, erst in Haldensleben, dann in Magdeburg.(14) Ihr Verlobter war zunächst bei einem Bauern angestellt, dann als Dolmetscher bei der Kommandantur in Haldensleben und später bei verschiedenen Betrieben. Sie heirateten, bekamen einen Sohn und zogen 1949 kurz vor der Geburt der Tochter nach Magdeburg. Immer mal wieder nahm Magdalena verh. Ruden Kontakt zu aus Lagern Zurückgekehrten auf, um etwas über ihren Vater zu erfahren, aber die Männer schweigen über das Erlebte. Sie erfuhr auf diese Weise nichts.1957 besuchte sie Freundinnen in Helmstedt und Hamburg, daraufhin sollte sie strafversetzt werden. Das lehnte sie ab und man ließ sie gehen. Für eine Schwangerschaftsvertretung wurde sie 1959 schließlich wieder eingestellt. Neun Jahre war sie als Parteilose auch stellvertretende Direktorin, aber die Politisierung in dieser Position sagte ihr nicht zu. So war sie erleichtert, als sie diese Tätigkeit 1972 aufgeben und nur noch Mathematik- und Physikunterricht geben konnte. 1974 erhielt ihr Bruder in Iserlohn über das Deutsche Rote Kreuz Sterbedatum und Sterbeort des Vaters. Nun hatten sie endlich Gewissheit, auch wenn viele Fragen damit nicht beantwortet waren.1982 ging Magdalena Ruden in den Ruhestand, blieb aber weiter an Geschichte interessiert und nahm regen Anteil an der Politik. Wie beliebt ihr Vater war, erfuhr sie 1987 während eines Schultreffens in Ostingersleben, zu dem die ehemaligen Schüler, oft von weit her, angereist waren. Auch im Dorf wird heute noch gut über ihn gesprochen. Nach dem Ende der DDR bemühte sich Magdalena Ruden gemeinsam mit ihrem Sohn um weitere Aufklärung des Schicksals ihres Vaters und wurde 2007 als Angehörige eines politischen Häftlings anerkannt.
Quellennachweis: (1) Die Informationen zur Geschichte Georg Karl Pessel gab seine Tochter Magdalena Ruden während mehrerer Gespräche im August 2008, wofür ihm die Verfasser ( Edda Ahrberg, Dorothea Harder) herzlich danken. (2) Die Auskunft des DRK-Suchdienstes München vom 10.4.2007 an M. Ruden beinhaltet den Hinweis, dass er „angeblich als Mitglied der NSDAP +Propagandaleiter + gewesen sein soll. Der Tochter ist darüber nichts bekannt. Vgl. Zeitzeugengespräch am 6.8.2008 mit M. Ruden, in: VOS-Archiv Magdeburg, und Auskunft des DRK, in: Privatarchiv M. Ruden. (3) Zeitzeugengespeäch am 6.8.2008 mit M. Ruden, in VOS-Archiv Magdeburg. (4) Ebenda, (5) Ebenda. (6) Schreiben von M. Ruden am 14.5.2007 an das Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt, in: Privatarchiv M. Ruden. (7) Das Haus gehörte Familie Wulfien, vgl. Zeitzeugengespräch am 6.8.2008 mit M. Ruden, in: VOS-Archiv Magdeburg. (8) Schreiben von M. Ruden am 14.5.2007 an das Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt, in: Privatarchiv M. Ruden. (9) Es wurde der Tochter erzählt, dass die anderen Männer sich ohne ihren Vater am Abend vorher im anderen Schulhaus getroffen und abgesprochen haben, ihn zu belasten. Den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht konnte sie nicht überprüfen. Vgl. Zeitzeugengespräch am 6.8.2008 mit M. Ruden, in: VOS-Archiv Magdeburg. (10) Ebenda. (11) Nach Angaben seiner Tochter hatte er damit seit seiner Festnahme rund 20kg. abgenommen, ebenda (12) Brief von Georg Pessel am 12./13.11.1945 an seine Ehefrau, in: Privatarchiv M. Ruden, Es ist zu vermuten, dass er an einigen Stellen die Situation beschönigt um seine Familie nicht noch mehr zu beunruhigen. (13) Auskunft des DRK-Suchdienstes München vom 10.4.2007 an M. Ruden. Vgl. auch: Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten: Totenbuch sowjetisches Speziallager Nr.7/Nr.1 in Wessow uns Sachsenhausen 1945-1950, Berlin 210, S. 226. (14) 1944 hatte sie die Sportlehrerprüfung abgelegt. Vgl. Zeitzeugengespräch am 6.8.2008 mit M. Ruden, in: VOS-Archiv Magdeburg. Wiedergabe als Niederschrift Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. Landesgruppe Sachsen-Anhalt (Hg.) Schriftreihe Band 65 Seiten 96-102 Abgeholt und verschwunden (2)
Rudolf Güldenpfennig geb. 2.August 1892, verst. 25. September 1949 im Speziallager Buchenwald Rudolf Güldenpfennig entstammt mit seiner Schwester Else einer größeren Familie. (1) Er wurde am 2.August 1892 als Sohn des Bauern Heinrich Güldenpfennig und seiner Frau Dorothee in Neuenhofe geboren. Aus dem Ersten Weltkrieg trug er als ganz junger Soldat schwere Verletzungen davon. Durch Granatsplitter war sein rechtes Bein versteift, so dass er nicht mehr richtig gehen konnte. Sein Bruder Heinrich war gefallen. Am 20. Oktober 1920 heiratete Rudolf Güldenpfennig Ella geb. Ernst. Das Ehepaar bekam drei Kinder Joachim (1922), Heinrich (1925) und Elisabeth (1929). „Er war ein ruhiger und recht ausgeglichener Mensch, war mit Leib und Seele Bauer“, sagt seine Tochter über ihn. (2) Auf Grund seiner Kriegsverletzung konnte er seinen Beruf nicht mehr ausüben. Der Acker und die Wiesen wurden ab 1932 verpachtet. Einen ½ ha behielt die Familie für sich. Sie hatten eine Kuh, zwei Schweine und etliche Hühner. Von 1935 bis August 1945 war Rudolf Güldenpfennig Bürgermeister von Neuenhofe. Er trat in die NSDAP ein. Vom Wehrdienst blieb er im Zweiten Weltkrieg verschont. Anfang August 1945 kamen sowjetische Soldaten mit Maschinenpistolen in das Haus. Die Ehefrau und die Tochter Elisabeth mussten sich in je eine Ecke des Zimmers stellen. Rudolf Güldenpfennig wurde mitgenommen. Seine Frau versuchte, die Soldaten zu überzeugen, ihn zu Hause zu lassen. Der Zustand seines Beines hatte sich wieder verschlechtert. Die Granatsplitter eiterten heraus und er hatte große Schmerzen. Aber es gab keine Gnade. Die Bewirtschaftung des verpachteten Ackers lohnte sich wohl nach Kriegsende nicht mehr. Die Familie bekam ihn völlig verkrautet und „ausgehungert“ zurück. Es begann eine harte Zeit. Die Ehefrau musste mit Joachim und Elisabeth anfangen, die insgesamt 30ha umfassenden Flächen zu bewirtschaften. Von morgens früh bis zum Dunkelwerden wurde geschuftet. Das hielten sie bis zu Joachims Verhaftung im Herbst 1952 durch. Dann mussten sie ihre Wirtschaft der örtlichen Landwirtschaft zur Verfügung stellen, aus der im Frühjahr 1953 die LPG wurde. Der Aufnahmeantrag der Frauen in die LPG wurde abgelehnt. Ihnen unterstellte man auf Grund der Verhaftungen, dass sie dem Betrieb schaden könnten. Joachim Güldenpfennig und sein Onkel waren im November 1952, diesmal von DDR-Behörden, verhaftet worden, als letzterer in einer Gaststätte auf einen Vorgang zu sprechen kam, der schon über drei Jahre zurück lag. Joachim Güldenpfennig hatte im März 1949 zwei SED-Kandidaten für die Wahl zur Gemeindevertretung, die mitverantwortlich für die Verhaftung seines Vaters gemacht, in einer öffentlichen Einwohnerversammlung gefragt, wie sie das wieder gut machen wollen, was seit 1945 geschehen war. Er hatte dabei auf die noch bestehenden sowjetischen Speziallager auf dem Gelände ehemaliger Konzentrationslager und die Tatsache, dass darin auch Unschuldige eingesperrt seien, verwiesen. Joachim und Otto Güldenpfennig wurden nach der Kontrollratsdirektive 38, Abschn. II, Art. III A III vom Bezirksgericht Magdeburg wegen der Verbreitung „faschistischer Propaganda“ und „Kriegshetze“ verurteilt, Otto zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und Joachim Güldenpfennig zusätzlich nach Art. 6 Abs. 2 der DDR-Verfassung zu einer Zuchthausstrafe von zwei Jahren. Darüber hinaus wurden Sühnemaßnahmen auferlegt. In der Begründung zum Urteil heißt es: „Es ist eine typische Behauptung der monopolkapitalistischen Hetzer. Diese sind stets bemüht, sowohl den Mitgliedern der Sozialistischen Einheitspartei, vielen fortschrittlichen Menschen in unserer Republik und vor allem der SU zu unterschieben, das sie - unschuldige - Menschen interniert und in Internierungslagern umkommen lassen. Im Rahmen einer Hetze gegen die SU ist dies Propaganda für den Faschismus. Außerdem stellen derartige Äußerungen eine ernste Gefährdung der freundschaftlichen Beziehungen des deutschen zum sowjetischen Volke dar und sind tendenziöse Gerüchte, die von dem Angeklagten erfunden und verbreitet wurden und die geeignet sind, den Frieden des deutschen Volkes und den der Völker der Erde zu gefährden. (…) Sie sind eine Unterstützung des kriegshetzerischen Monopolkapitals und fördern damit die Bestrebungen der Imperialisten, im deutschen Volke Unfrieden zu stiften und die Gemüter zu erhitzen und sie gegen die Führerin des Weltfriedenslagers, die SU aufzuwiegeln. Außerdem dienen derartige Hetzreden dazu, die Werktätigen in ihren Bestrebungen einen neuen Weltkrieg zu verhindern, zu verwirren und von diesem Ziel abzubringen. Sie sind ein Angriff auf die Aktionseinheit sämtlicher friedliebender Völker und dazu angetan, in breitem Maße der Antisowjethetze zu dienen. Damit haben die Angeklagten sich zu Handlangern der Kriegsbrandstifter gemacht. (…) Es ist unbedingt erforderlich, dass beide Angeklagte, eine politische Umerziehung durchmachen müssen und die in unserem modernen Strafvollzug gewährleistet ist“. (4) Elisabeth Güldenpfennig half im Ort in einem Arzthaushalt, 1954 heiratete sie, arbeitete dann zehn Jahre in einem Lebensmittelgroßhandel und anschließend im Fleischkombinat, Einkaufsabteilung Haldensleben. Dort konnte sie eine Ausbildung als Landwirtschaftskaufmann abschließen. Im Dezember 1989 schied sie aus dem Betrieb aus, da sie das Rentenalter erreicht hatte. Sie wohnt heute noch gemeinsam mit der Familie eines ihrer Söhne in ihrem Elternhaus. Ein anderer Sohn wohnt in Norddeutschland. Jahrzehnte hatte sie nichts über Rudolf Güldenpfennig gehört. Erst nach dem Ende der DDR erfuhr sie vom Suchdienst des DRK, dass er am 25.September 1949 im Lager Buchenwald (4) gestorben war.
Quellennachweis: (1) Die Informationen zur Geschichte Rudolf Güldenpfennig gaben seine Tochter Elisabeth Thiele und Magdalena Ruden während mehrerer Gespräche im August 2008, wofür ihm die Verfasser ( Edda Ahrberg, Dorothea Harder) herzlich danken. (2) Brief von E. Thiele am 19.8.2008 an Edda Ahrberg, in: VOS-Archiv Magdeburg. (3) Urteil vom 6.3.1953 (Oberrichter Richter, Staatsanwalt Jürgens), in: BStU, BV Magdeburg, Ast.419/52, Bl. 18-24. (4) Volkhard Knigge, Bodo Ritscher: Totenbuch Speziallager Buchenwald 1945-1950. Wiedergabe als Niederschrift Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. Landesgruppe Sachsen-Anhalt (Hg.) Schriftreihe Band 65 Seiten 102-105 Abgeholt und verschwunden (2)
Alwin Kempe geb. 26.September 1898, verst. 10.Juli 1947 im Speziallager Sachsenhausen Alwin Kempe wurde als das zehnte Kind und letzte Kind des Landarbeiters Heinrich Kempe und seiner Frau Luise am 26.September 1898 in Badeleben bei Magdeburg geboren. (1) Sein Berufswunsch war es, Lehrer zu werden. Verwandte halfen mit, seine Ausbildung zu finanzieren. Er besuchte bis 1917 die Präparandenanstalt in Weferlingen und wurde im Februar 1917 eingezogen. Nach einem halben Jahr Ausbildung musste er im Oktober des gleichen Jahres ins Feld und war bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in Frankreich. Anschließend setzte er bis 1920 in Halberstadt seine Ausbildung fort. Nach Abschluss arbeitete er ein halbes Jahr als Schreiber im Tagebau, Grube „Anna“, bevor er 1921 eine Stelle als Elementarlehrer in Badeleben bekam. Schließlich wurde er als Lehrer in Heiligenfelde angestellt. Dort wohnte er im Schulhaus und konnte sich auch in dem dazugehörigen Garten betätigen, wo er Gemüse züchtete und Bienen hielt. 1923 verlobte er sich mit der drei Jahre jüngeren Bauerntochter Hedwig Schenk aus Heiligenfelde, die er im November 1926 heiratete. Inzwischen war er 1925 an die einklassige Schule in Erxleben bei Osterburg versetzt worden. Neben seinem Beruf engagierte er sich dort in Vereinen und spielte sonntags im Gottesdienst die Orgel. Auch hier besserte das Gemüse aus dem Garten das schmale Lehrergehalt auf. Die Landschaft gefiel ihnen sehr. Nicht nur allein, sondern auch mit den Schulkindern veranstalteten er und seine Frau Ausflüge in die Heide. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten änderte sich die politische Situation in Deutschland. Ende April 1933 trat Alwin Kempe in die NSDAP und am 31.Mai 1933 in den Nationalsozialistischen Lehrerbund ein. Laut überlieferter Unterlagen war er für die SA-Reserve II erfasst. (2) Im Oktober 1933 wurde seine Tochter Liese-Lore geboren und er hatte nun für eine kleine Familie zu sorgen. 1936 bot sich die Gelegenheit zum Wechsel an eine mehrklassige Schule nach Dahlenwarsleben in der Magdeburger Börde. Hier konnte er als Hauptlehrer unterrichten. Am Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 wurde Alwin Kempe bei der Musterung als „kriegsunfähig“ eingestuft und nicht zur Wehrmacht eingezogen. Trotzdem war der Krieg für alle spürbar und konnte auch in der Schule nicht ausgeblendet werden. Ein polnischer Zwangsarbeiter wurde um 1941 auf dem Marktplatz von Dahlenwarsleben erhängt, weil er sich mit einer deutschen Frau angefreundet hatte. Sie musste kahl geschoren der Hinrichtung zusehen und kam anschließend in ein Arbeitslager, ihre beiden Töchter in ein Heim. Die Zwillinge waren Mitschülerinnen von Liese-Lore Kempe. Ihr Vater hatte am Hinrichtungstag nachmittags außerschulischen Unterricht angesetzt, damit die Kinder von der Straße waren. (3) Im Frühjahr 1942 zog die Familie zurück in die geliebte Altmark nach Rogätz an der Elbe. Ab 1.April 1942 wurde Alwin Kempe hier Schulleiter. In dieser Funktion hatte er nun immer wieder auch in der Öffentlichkeit aufzutreten und Reden zu halten. 1944 wurde die zweite Tochter Adelheid (Heidi) geboren. Mit der Zunahme der Bombardements auf die großen Städte und besonders nach der Zerstörung Magdeburgs im Januar 1945 kamen viele Flüchtlinge in den kleinen Ort. In der Schulchronik heißt es für 1944: „Das Schulleben stand in diesem Kriegsjahr leider im Zeichen des feindlichen Bombenterrors und der Evakuierung der Bevölkerung. Alle sonstigen Sorgen im schulischen Leben traten gegen die neuen Aufgaben zurück. Die ersten Flüchtlinge kamen aus Magdeburg im Frühjahr 1944. Das Lehrerpersonal half beim Ausladen der Möbel und deren Transport im Dorf. Ca. 50 Schulkinder kamen zu uns, vorwiegend in die Grundschulklassen, da ja die Kinder aus den oberen Klassen meist geschlossen in ein KLV-Lager (4) kamen. (5) Gegen Ende des Krieges sollte bei Rogätz noch zur Verteidigung der Elbe ein Brückenkopf gebildet werden. Die Bevölkerung wurde über Lautsprecher aufgefordert, den Ort zu verlassen. Viele kampierten in der Feldmark zwischen Angern und Rogätz, auch Familie Kempe. Schließlich rückten Anfang Mai 1945 amerikanische Panzer heran. Mit weißen Tüchern gingen die Menschen auf sie zu. Der Bevölkerung wurde befohlen, sich am Bahnhof in der Feldmark zu versammeln. Liese-Lore Hopp erinnert sich: „Vor dem Bahnhof bot sich ein Bild des Entsetzens: am Abend zuvor hatte sich hier der Kreisleiter Niemöller (…) mit einigen seiner letzten Getreuen dem Suff ergeben, die Nacht durchgezecht und sich dann erschossen. Wahrscheinlich waren Hitlerjungen und Soldaten zur Verteidigung auf dem Bahnhof postiert, die nun erschossen, blutverschmiert übereinander geworfen vor dem Bahnhof lagen. Wir wurden über evtl. versteckte Soldaten in der Feldmark verhört und dann im Konvoi nach Rogätz zurückgebracht. (…) Tage später konnten wir vom Dach der Schule beobachten, wie die Russen mit Schlauchbooten über die Elbe nach Rogätz kamen und am Ufer von den Amerikanern mit Jubel empfangen wurden, um gemeinsam eine Siegesfeier zu veranstalten.“(6) Als sich die Amerikaner, wie unter den Siegermächten vereinbart, Ende Juni zurück zogen und die sowjetischen Truppen kamen, richteten sie in der Schule ihre Kommandantur ein. Kempes mussten ausziehen und bekamen im Schloss zwei Zimmer zugewiesen. Nachdem schon die Amerikaner alle leitenden NSDAP-Funktionäre verhaftet hatten, setzte nun eine neue Verhaftungswelle ein. Am 12.August wurde Alwin Kempe mit anderen Männern an die Elbe bestellt, um Kähne auszuladen. Er war nicht zu Hause als die Soldaten kamen um ihn festzunehmen, deshalb wollten Mutter und Tochter ihn warnen. Liese-Lore Hopp erinnert sich: „Und ich lief wie um mein Leben, erreichte die Strasse , die zur Anlegestelle herab führte, da kam mir ein Trupp russischer Soldaten entgegen, wieder mit aufgepflanzten Gewehren und führten Vater vor sich her. An diesen Augenblick mag ich bis heute nicht denken; ich weiß nur noch, dass ich einen Augenblick stutzte und wollte mich zu ihm stürzen. Vati muss es gespürt haben, er sah mich mit so einem festen Blick an, der mir versagte, mich ihm zu nähern. Ich stellte mich hinter die Litfasssäule und schlich dann in einiger Entfernung hinterher und beobachtete, dass sie in einer Villa verschwanden, und noch andere Verhaftete dort abgeliefert wurden. Ich raste zurück zum Schloss; Mutti war völlig verzweifelt angekommen, sie hatte Vati nicht mehr gesehen. Sie versuchte über den Bürgermeister und andere Zugang zum Kommandanten zu bekommen oder wenigstens etwas zu erfahren –aber nichts war möglich. Die nächsten zwei Tage hielt ich mich nur in der Nähe dieses Hauses auf. Ein russischer Posten, mit dem ich mich wortlos verständigen konnte, oder vielleicht war er bei der Verhaftung dabei gewesen, verschwand kurz im Haus, um mir dann zu bedeuten, an das Kellerfenster zu gehen. Es wurde für einen sehr kurzen Augenblick geöffnet, Vati schaute aus dem Keller nach oben herauf: -Bring einen Rucksack und warme Sachen, wir kommen weg – Das war für mich der zweite unvergessene Moment. Ich eilte zurück zu Schloss und Mutti packte einige Sachen in den Rucksack zusammen. Derselbe Russe ließ wieder kurz das Kellerfenster öffnen, wir durften Vati den Rucksack hineinschubsen –und ihn noch einmal kurz sehen.“(7) Am nächsten Tag versuchte Hedwig Kempe vergeblich, im Magdeburger Regierungspräsidium etwas für ihren Mann zu erreichen. Währenddessen sah seine Tochter vom Fenster aus, wie der Vater weggebracht wurde: „Abends im Dämmern fuhr ein offener russischer Laster voller Menschen vorbei, einer stand in der Mitte und winkte mit dem Hut zum Schloss herüber, -das war unser Vater, der 3. Moment den ich nie vergessen werde.“(8) Der Vater kam nicht zurück. Mit Hilfe von Nachbarn gelang es, einen Lastwagen mit Hänger zu besorgen, der Hedwig Kempe und ihre Töchter nach einiger Zeit mit etwas Hausrat zu ihren Eltern nach Heiligenfelde brachte, wo schon andere Familienmitglieder Zuflucht gefunden hatten. Bis zum Frühjahr 1947 trafen ab und zu über wildfremde Menschen, denen das Leid der Lagerinsassen und ihrer Angehörigen nicht gleichgültig war, Kassiber vom Vater ein. Darin bemühte er sich, seiner Frau und den Kindern die Sorgen zu nehmen. In einem Brief an seine Schwester sprach er im November 1945 dagegen von einer „schlimmen Zeit, voll körperlichen und seelischen Belastungen“ und davon dass er „sehr hungrig und heruntergekommen“ ist. (9) Auf diese Weise wusste die Familie wenigstens, dass er zunächst auf die Burg Tangermünde, hier wahrscheinlich in die Alte Kanzlei, und dann in das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht wurde. Kassiber vom 15.August 1945: „Liebe Mutti u. Kinder, heute nach Tangermünde –Voraussichtlich in den nächsten Tagen nach d. Mark Brandenburg. Aufräumen. Wie lange –unbestimmt. Du musst die Wohnung dann doch wohl aufgeben und nach H. gehen. Kopf hoch! Die Situation meistern, nicht weich werden! Ich schlage vor: Schlafzimmer zu Knoll, Küche mit allen Kleinigkeiten verschließen, zu Hartwig, der vielleicht durch Rücksprache mit P. einen Raum für uns zubekommt. Miete dann für uns natürlich. Hartwig kann den Raum beaufsichtigen. Kaninchen für Knoll, Hühner für Hartwig, gegen spätere Rückgabe. Von Zeit zu Zeit kannst Du ja Geld und anderes nachholen. Bienen muß Müller auffüttern, bitte ihn darum. Einzelstücke und Wäsche- u. Konserven- u. Zeugkisten bei vertrauenswürdigen Leuten unterstellen. Podsada. Dann wie in den Großen Ferien nach Hause fahren! Vielleicht im Oktober! Ich bin vor anderen Kameraden noch gut dran, jünger, ohne Wirtschaft, gesünder. Trotzdem Sehnsucht zu Euch. Das kannst Du Dir wohl denken. Mit Mumme, Bethge, Klötze zusammen, das ist gut. Hoffentlich bei Euch alles gesund. Wenn ich Euch in H. weiß, bin ich beruhigt und das Unentbehrliche und Unangenehme tragen, wie die anderen. Für heute Schluß.“(10) Aus einem Kassiber vom 20.August 1945 aus Tangermünde an seine Frau: „Ihr Lieben alle, gestern habe ich in Gedanken den ganzen Sonntag mit Euch verbracht. Mir geht es gut. Hoffentlich hast Du Dich, liebe Mutti, gefasst und bist stark, alle auftauchenden Fragen zu meistern. Ich bitte Dich so darum, mutig und entschlossen zu sein, Dich nicht unterkriegen zu lassen. Es wird bestimmt wieder alles gut werden. Genaues wissen wir noch nicht. Immer alles heimlich beim Eussen. Man spricht von 8-11 Wochen Aufräumdienst bei Berlin. Die Zeit geht dann auch hin, nur die Gewissheit möchte ich haben, dass Du Dich nicht unterkriegen lässt. Ich tröste mich mit vielen Alten, 60,67 sogar einer 70 Jahre alt. Auch Frau R. aus Loitsche ist hier, 14 Tage Haft, dann soll sie wohl nach Hause. Es sind schon mehr Frauen hier, auch ein Frauenlager ist im Osten bei Berlin. Nur gesund bleiben, Nerven behalten, das ist die Hauptsache für beide Seiten.(…) Liegen auf der Burg, in einem mittelalterlichen Speicher, 260 Mann in 2 Etagen, aus dem ganzen Bezirk Magdeburg. Arbeiten nicht, nur herumsitzen, hungern nach Luft, Licht und Freiheit. Ich sehne mich nach der Tagelöhnerarbeit, wie glücklich war ich trotz ihrer Schwere, Verpflegung ist leidlich. Etwas abnehmen werde ich natürlich, das schadet aber nichts. - Der Russe räumt scheinbar das Gebiet nicht,alle Kameraden haben den Eindruck. Wir sind auch nicht die einzigen, die weggekommen sind, mehrere werden folgen.-(11)
Aus einem Kassiber aus Sachsenhausen vom 22.November 1945: Liebe gute Mutti, herzliebe Kinder. Auf verbotenem Umweg ist es mir möglich, Post abzuschicken. Hoffentlich habt ihr meinen Kartengruß erhalten. Erneut will ich Euch bestätigen, dass ich gesund bin und hoffe sehnlichst von Euch dasselbe. Nur gesund bleiben, das ist mein Abend- und Morgengebet, mein Tageswunsch zu jeder Stunde, einmal wird die Stunde der Befreiung doch kommen. Wann weiß ich nicht, weiß im Lager (14.000) keiner. Wir warten seit Ende September, nun wo es kalt wird, erst recht. Wir sind ohne Winterausrüstung und hoffen daraus, wie aus dem Nürnberger Beschluß, dass die Häftlinge zu entlassen seien, dass es doch jeden Tag was werden kann. Aber, aber …die Parolen haben uns schon so oft enttäuscht, dass ich keiner mehr glauben kann und will. Ich will mich in Geduld fassen und bitte Dich und alle, es auch zu tun, auch wenn es in den Winter hineingehen sollte. Nur vor Weihnachten möchte ich bestimmt raus, wir alle, denn die meisten sind 45 bis 60, ja 70 jährige sind hier. Den Ort möchte ich nicht nennen, er liegt nördlich von Berlins.(…) Die Heimlichkeit der Russen ist wirklich unheimlich. Und wenn ich länger bleiben sollte, als ich hoffe, dann macht Euch noch keine Sorgen, sondern habt Geduld. Das Geduldhaben ist ja das Allerschwerste, das Gebundensein, die Unfreiheit! Manchmal unerträglich.(…) Cordes, Arendsee, ist gestorben, bitte aber um Geheimhaltung; die Todesnachricht kann Kaske der Frau überbringen. Bitte also beherrschen!(…)“(12) Aus einem Kassiber vom 27.November 1945: „(…) Von Entlassung wird viel gesprochen, aber es ist noch nichts davon zu merken. Andere Lager sind entlassen, wie Posen und Landsberg a.W., und nun hoffen wir natürlich auch. 14.000, darunter 1.000 Frauen sind hier im ehemaligen Konzentrationslager. Die Unterbringung ist leidlich, Verpflegung schwach, Arbeit wenig. Unser Hiersein ist eine reine Freiheitsstrafe, deren Ende wir so herbeisehnen, wie die Kinder das Weihnachtsfest. Ich bin oft krank vor Sehnsucht und muß mich sehr in Gewalt haben, dass ich mich vom Seelischen nicht unterkriegen lasse. Es ist nur gut, dass wir viele (70 Mann) in einer Baracke liegen, und so einer am anderen Halt hat und die Unterhaltung etwas vom Grübeln abhält. Heute morgen mussten wir in dem Lagerangeschlossenen Fabrikanlagen (z.Teil zerstört) Altpapier beiseite räumen. Das ist nicht schwer gewesen, aber es war kalt. Der Sommermantel wärmt ja nicht. Was bin ich bloß froh, dass Du liebe, gute Mutti, mir die 2 grünen Hemden mitgegeben hast. Den Pullover haben mir die Russen bei meinem Eintreffen weggenommen. Aber ich habe dafür die beiden dicken Hemden und das Unterhemd an. Ein Paar Halbschuhe habe ich bekommen, dafür bin ich sehr froh, denn kalte Füße verursachen sofort Durchfall bei mir. Seit einigen Tagen können wir auch heizen, nun ist’s zum Aushalten.(…)“(13) Der letzte Kassiber kam im Februar 1947. Darin schrieb Alwin am Schluß: „Gott hilft uns durch uns selbst. Zähne zusammenbeißen, wie ich auch. Ich bete für Euch, tut Ihr es für mich, sonst aber tapfer und groß sein.“(14) Als 1948 viele Häftlinge aus den lagern entlassen wurden, fuhr die älteste Tochter zu einem der Entlassenen, einem alten Bekannten aus Dessau, den ihr Vater auch in einem Kassiber erwähnt hatte: „Ich radelte an einem Sonntag im August nach Dessau. Er empfing mich allein im Zimmer, sagte nicht viel, sah mich nur unentwegt an. Er war mit Vater zusammen gewesen, der wurde im Sommer 1947 schwer krank, kam in eine Lazarett-Baracke. Falls einer gesundete, kehrte er zurück an seinen alten Platz. Vater kam nicht zurück. Er hat viel auf seiner Pritsche gesessen, und an uns geschrieben, falls er zu einem Stück Papier gelangte. Dann sagte Herr K.(…), indem er mich umfasste: - Fahr nach Hause und warte nicht mehr’…und schob mich aus der Tür. Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause radelte, obwohl nur noch ein winziger Funke Hoffnung mit uns gelebt hatte, war mit einem Male alles zerstört. Mutti hatte auf mich gewartet und brach total zusammen. Ich bekam Angst um sie , lief ins Dorf, wo die Familie beim Kaffee bei Onkel Karl versammelt war, und holte Oma und Tante Lisa. Heidi und Rosi, beide gerade vier Jahre alt, trabten uns nach, den beiden entging nie etwas. So konnten sie die plötzliche Traurigkeit nicht erklären, stellten sich unter dass Fenster und sangen Kinderlieder, wohl um uns abzulenken oder einfach Freude zu bringen und so die Stimmung zu ändern. Unsere Zeitrechnung – wenn Vati wiederkommt – galt mit einem Male nicht mehr.(15) Für Liese-Lore endete die Kindheit. Sie ging 1949 nach Rostock zur Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung. Wohnen konnte sie bei Bekannten ihrer Eltern, wo sie im Haushalt mitzuhelfen hatte. Ihre Mutter fing an in einem Nebengebäude des elterlichen Hofes einzurichten und ein Stück Land zu bewirtschaften. Hühner, eine Ziege und Schweine sorgten für das Lebensnotwendige. Daneben verdiente sie sich etwas durch Näharbeiten für die Nachbarschaft. In Rostock lernte Liese-Lore ihren späteren Mann Vollrath Hoppe aus Groß Schwiesow (Mecklenburg) kennen, der 1949 nach West-Berlin ging und dort an der Technischen Universität mit einem Studium begann. Sie selbst arbeitete nach dem Fachabschluss am Gesundheitsamt in Osterburg. Weihnachten 1952 fand die Hochzeit in Heiligenfelde heimlich statt, da die innerdeutsche Grenze inzwischen immer undurchlässiger geworden war und Vollrath Hoppe seinen ostdeutschen Pass entgegen der Anordnung noch nicht abgegeben hatte. Kurz darauf fuhr Liese-Lore Hopp nach einigen traurigen Abschiedsbesuchen ohne großes Gepäck mit dem Zug von Arendsee nach Berlin. Besonders schwer fiel ihr, die Mutter und die Schwester zurück lassen zu müssen: „Eine mir gut gesonnene Ärztin, Frau Dr. Butz, hatte eine Bescheinigung ausgestellt, die mich auswies, bestimmte Medikamente und Impfstoffe im Ministerium für Gesundheitswesen in Ost-Berlin abzuholen. So kam ich unbehelligt durch die Zugkontrollen. Auf dem S-Bahnhof Friedrichstraße war die letzte Hürde zu nehmen, nämlich, nicht am Einsteigen in die durch West-Berlin fahrende S-Bahn gehindert zu werden; außergewöhnlich lange hatten hier die Züge Aufenthalt zum Zweck der Kontrolle. Setzte sich die Bahn in Fahrt, ging ein allgemeines Aufatmen durchs Abteil. –Am Bahnhof Zoo fiel ich Vollrath, der dort mit einem Veilchenstrauß auf mich wartete, total fix und fertig in die Arme. –(16) Für die Mutter und Heidi waren Besuche bis zum Mauerbau 1961 in West-Berlin möglich, wenn auch mit großen Schwierigkeiten verbunden. Heidi entschied sich, in der DDR bei der Mutter zu bleiben und absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung als Medizinisch-Technische Assistentin. Sie durfte erst 1977 ihre Schwester, die inzwischen mit ihrer Familie in der Bundesrepublik wohnte, wieder besuchen. Hedwig Kempe hatte es als Rentnerin ab 1967 leichter. Sie erlebte 1989 noch das Ende der DDR. Bei ihrem letzten Besuch im Sommer 1990 gab sie ihr sorgsam behütetes letztes „Westgeld“ nicht ohne Skepsis aus. So ganz konnte sie noch nicht glauben, dass jetzt wieder eine einheitliche Währung in Deutschland galt. Den Tag der Wiedervereinigung am 3.Oktober verbrachte sie mit ihren beiden Töchtern in Hagenow. Der Anblick der Reiter aus Hitzacker und Dannenberg veranlasste sie zu dem Ausspruch: „Das ist ja wirklich alles wie früher!“(17) Sie starb kurz darauf am 10.Dezember 1990. Liese-Lore Hopp erfuhr 1992 bei einem Besuch in Rögätz, dass der 1945 als Nachfolger ihres Vaters eingesetzte Rektor, der Deutschlehrer Arthur König, damals in die Dorfchronik eintrug: „Rektor Alwin Kempe wurde 1945, beseitigt“.(18) Der Antrag auf Rehabilitierung durch russische Behörden verlief 1996 erfolglos. Auf eine erneute Anfrage erstellte die Hauptmilitärstaatsanwaltschaft Moskau am 24.Juli 1997 eine Archivbescheinigung, in der es heißt: „Alwin Kempe (…) wurde am 12.08.1945 verhaftet und gemäß Anordnung eines Vertreters der Abteilung für Spionageabwehr „SMERSCH“ der 265. Schützendivision am 14.08.1945 in ein Sonderlager des NKWD der UdSSR verbracht, da er als Mitglied der NSDAP seit 1933 die Ideen des Faschismus unter den Mitgliedern der Partei propagierte. Alwin Kempe ist am 17.07.1947 in einem Lazarett des Sonderlagers des NKWD der UdSSR an –Dysenterie (19) gestorben. In den Archiven sind keine Angaben über den Bestattungsort vorhanden.“(20)
Quellennachweis: (1) Die Information zur Geschichte der Familie Kempe gab die Tochter Liese-Lore Hopp 2008/2009, wofür ihm die Verfasser ( Edda Ahrberg, Dorothea Harder) herzlich danken. Sie legte ihre Erinnerungen in einer ausführlichen Familienchronik Weihnachten 2005 für ihre Enkel nieder. (2) Karteikarte mit vermerken zur Mitgliedschaft in NSLB, in der NSDAP und der SA-Reserve, in: BArch Berlin, MF NSLB B 0020, Bl. 930. Hier heißt es : „S.A.R.II.“. Seiner Tochter ist eine SA-Mitgliedschaft unbekannt. (3) L. Hopp: Familienchronik, Bd. 1, S.82 (4) KLV: Kinderlandverschickungslager. (5) L. Hopp: Familienchronik, Bd. 1, S. 112f. Die alte Schulchronik war im Besitz der Familie Kempe geblieben. Frau Hopp gab sie bei einem Besuch in Rogätz 1992 zurück. (6) Ebenda, S. 116. (7) Ebenda, S.119-121. (8) Ebenda, S. 121. (9) Kassiber vom 28.11.1945 aus Sachsenhausen an die Schwester und ihren Mann, in: L. Hopp: Familienchronik, Bd. 2, S. 33f. (10) Ebenda, S. 20. (11) Ebenda, S. 21f. (12) Ebenda, S. 23f. (13) Ebenda, S. 28f. (14) Ebenda, S.30. (15) Ebenda, S.36. (16) L. Hopp: Familienchronik, Bd. 1, S.143f. (17) Ebenda, S.187. (18) L. Hopp. Familienchronik, Bd.2, S.40. (19) L. Hopp: Familienchronik, Bd.1, S.101. (20) Anmerkungen: Dysenterie: Ruhr, . Wiedergabe als Niederschrift Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. Landesgruppe Sachsen-Anhalt (Hg.) Schriftreihe Band 65 Seiten 116-130 Abgeholt und verschwunden (2)
Wilhelm Hermann Wöhler geb. 31.Oktober 1893, verst. 24.November 1945 in Speziallager Mühlberg/Elbe Die Geschichte von Wilhelm Wöhler schrieb dankenswerter Weise sein Urenkel Steven Karow im Jahre 2011 auf. Der Sträfling gehört gewissermaßen nicht mehr zu den Lebenden. Victor Hugo, Die Elenden
Mein Urgroßvater Wilhelm Wöhler wurde am 31.Oktober 1893 in Preuß. Börnecke als Sohn von Andreas und Henriette Wöhler geboren. Er wuchs mit sechs Geschwistern auf. Am 15.Oktober 1913 trat er seinen Militärdienst als Musketier der 5. Kompanie des Inf. Rgt. 165 an. Im Jahr 1914 verstarb sein Vater und er wurde in der Schlacht bei Arras das erste Mal verwundet. Bei Stellungskämpfen im Bereich Artois wurde Wilhelm Wöhler am 17.Februar 1915 durch einen Brustschuss lebensbedrohlich verletzt. Seine Verlegung in ein Berliner Lazarett und der Pflege durch seine Schwester verdankte er sein Überleben. Dienstunbrauchbar wurde mein Urgroßvater am 6.März 1917 entlassen. Als 1920 das erste nationale Eisenbahnunternehmen, die Deutsche Reichsbahn, seine Arbeit aufnahm, fand Wilhelm Wöhler dort eine Anstellung als Bahnbeamter. In dieser Zeit lernte er wohl auch meine Urgroßmutter Else, eine Tochter des in Bottmersdorf ansässigen Schmiedemeisters Ludwig Lindwurm, kennen. Die beiden heiraten am 6.August 1921 und bekamen fünf Kinder: Editha (1921), Marga (1923), Ingeborg (1924) sowie Brigitte und Eginhard (1933). Das Paar verbrachte die ersten Jahre in der ehemaligen Schmiede in Bottmersdorf und bezog 1934 das neu erbaute Haus in der Bahnhofstraße in Wanzleben. Seit 1936 war mein Urgroßvater für die NSDAP als Blockleiter tätig, eine erneute Einberufung zur Wehrmacht erfolgte im Verlauf des Zweiten Weltkrieges nicht. Am 12.April 1945 wurde die Stadt Wanzleben durch die US-Armee besetzt, nachdem am Vortag der Volkssturm-Zugführer Richard Wegener mit einem weißen Taschentuch in der Hand den Soldaten entgegen gegangen war und damit eine Zerstörung der Stadt verhindert hatte. Die Amerikaner richteten ihre Kommandantur im Nachbarhaus der Familie Wöhler ein und veranlassten neben anderen Besatzungsmaßnahmen die Inhaftierung von nationalsozialistischen Funktionären.(1). Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands erfolgte am 8.Mai. In der Folge der alliierten Vereinbarungen erreichte die Rote Armee die Stadt am Morgen des 1.Juli 1945. Im gleichen Monat bildete sich der „Antifaschistische Ausschuss der Stadt Wanzleben“ unter der Leitung von Walter Krone (SPD), der ebenfalls in der Bahnhofstraße wohnte. Am 23.Juli 1945 wurde die Absetzung des Bürgermeisters Wessel beschlossen, der auf Grund seiner geringen Belastung von den Amerikanern und später von den Engländern im Amt belassen worden war. Im August/September 1945 nahm der Antifa-Ausschuss der Blockparteien seine Arbeit auf, der 689 ehemalige NSDAP-Mitglieder nach ihrer Belastung in verschiedene Kategorien einstufte. Ab August kam es zu Verhaftungen.(2) Der genaue Tag der Festnahme meines Urgroßvaters ist bisher nicht zu ermitteln gewesen. Die Familie wurde in der Nacht durch lautes Klopfen geweckt, das Haus war umstellt. Sämtliche Familienmitglieder mussten sich im Wohnzimmer versammeln, das Gebäude wurde vom Keller bis zum Boden durchsucht. Dabei gingen die Porzellankopfpuppen meiner Großmutter, Marga Wöhler , und ihrer Schwester kaputt, was meiner Oma noch bis ins hohe Alter präsent blieb. Wilhelm Wöhler wurde auf einen, bereits vor dem Haus wartenden, LKW geladen. Laut den Erinnerungen meiner Großmutter saßen bereits andere Personen auf der Ladefläche, sie sah ihren Vater in diesem Moment zum letzten Mal. Nach einer unklaren Zeit der Haft in einem Magdeburger Gefängnis findet sich der Name meines Urgroßvaters auf der Zugangsliste des Speziallagers Nr.1 des NKWD in Mühlberg/Elbe wieder. Als Zugangsdatum ist der 31.Oktober 1945, sein 52. Geburtstag, vermerkt. In der Folgezeit halfen die drei ältesten Töchter, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Laut Auskunft des „Exekutiv-Komitee der Allianz vom Roten Kreuz und Roten Halbmond“ vom 18.April 1975 verstarb Wilhelm Wöhler am 24.November 1945 an einer Herzschwäche. Bereits einige Jahre vor der schriftlichen Bestätigung erfuhr die Familie durch einen Mitgefangenen meines Urgroßvaters, dass er im Lager Mühlberg verstorben sei. Am 27.November 1952 wurde der Bruder meiner Großmutter, Eginhard, unter bisher ungeklärten Umständen tot auf dem Bahnhof in Blumenberg aufgefunden. In seine Grabplatte wurde auch der Name meines Urgroßvaters eingemeißelt. Meine Urgroßmutter Else verstarb im Oktober 1960 an den Folgen eines Schlaganfalls. Als ich vor einigen Jahren begann, mich mit der Familiengeschichte zu beschäftigen stieß ich auch auf das Schicksal meines Urgroßvaters. Die Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. bestätigte den Verbleib Wilhelm Hermann Wöhlers mit ihrem Schreiben vom 4.Oktober 2004.(3) Wir besuchten das Lager regelmäßig bis zum Tode meiner Großmutter am 8.Februar 2008. Sie empfand die Gedenkstätte immer als würdigen Ruheplatz für ihren Vater. Deshalb ist es mir besonders wichtig, der Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. für die Gestaltung und Pflege der Anlage zu danken.(4)
Quellenangaben:
*1) Vgl. Prof. em. Gerd Gerdes: Beiträge zur Geschichte der Stadt Wanzleben und des Altkreises Wanzleben 1945-1955. Ein Rückblick mit Daten und Zahlen auf ein Jahrzehnt nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges durch die kampflose Übergabe der Stadt. *2) Ebenda. *3) Vgl. auch Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. (Hg.): Totenbuch. Speziallager Nr. 1 des sowjetischen NKWD, Mühlberg/Elbe 2008, S. 205. *4) Bericht von Steven Karow um März 2011, in: VOS- Archiv Magdeburg.
Richard Gabriel Geboren 12. September 1878 Gestorben 31. Juli 1945
Helmut Gabriel Geboren 13. Februar 1915 Gestorben 2. Januar 1946 bei Krakowka (Sowjetunion)
Richard Gabriel wurde am 121. September 1878 als Sohn des Dorfschulzen Friedrich Chrisian Gabriel und seiner Frau Marie in Nedlitz bei Magdeburg geboren (11). Von 1889 bis 1893 besuchte er die Bürgerschule in Burg. Anschließend arbeitete er auf dem Hof seines Vaters. Zwischen 1908 und 1911 diente er bei den Altmärkischen Ulanen in Salzwedel. 1911 heiratete er die zehn Jahre jüngere Anna geb. Richter und bekam als ältester Sohn von seinem Vater den Hof, der zu den großen im Dorf gehörte, übergeben. Er betrieb mit seiner Frau die Landwirtschaft weiter. Das Ehepaar bekam zwei Söhne, Richard (1913) und Helmut (1915). Während des Ersten Weltkrieges war Richard Gabriel als Ausbilder in Salzwedel zur Reichswehr eingezogen. Nach dem Ende des Krieges ließ er in den 1920er Jahren auf Initiative seiner Frau ein Wohnhaus, das später als „Villa“ bezeichnet wurde, für seine Familie bauen. 1934 erklärte sich Richard Gabriel, nachdem mehrere Bürgermeister kurzzeitig tätig gewesen waren, bereit, wie sein Vater das Ehrenamt des Dorfschulzen für zwölf Jahre zu übernehmen. Mit Wirkung vom 16. Juli 1934 wurde er dazu berufen. Die Bürgermeisterei befand sich im Wohnhaus der Gabriels. Richards Bruder, Hubert Gabriel, übte dort auch sein Amt als Standesbeamter aus. Richard Gabriel war Mitglied der NSDAP, ab wann, ist nicht bekannt. Vom Wehrdienst im Zweiten Weltkrieg blieb er aus Altersgründen verschont. Sein Sohn Richard wurde bereits am 16. August 1939, es hieß „zu einer Übung“, eingezogen. Helmut war zu dieser Zeit aktiver Soldat bei der Kavallerie in Göttingen (12). Am Ende des Krieges wurde Nedlitz wie viele andere Orte östlich der Elbe von Flüchtlingen, die zwischen den Fronten umher irrten, durchquert. Viele blieben. Die Einwohnerzahl stieg und die Menschen mussten enger zusammenrücken. Anfang Mai 1945 wurde der Ort von sowjetischen Truppen eingenommen. Die Einwohner hatten große Angst. In der alten Scheune und im Wohnhaus von Gabriels hatten viele Menschen für eine Nacht Unterschlupf gefunden. Auch in der Pfarr- Scheune des Ortspfarrers Grüneisen hatten sich junge Mädchen versteckt. Frau Grüneisen hatte den Mädchen aus Angst vor den Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten das Gesicht mit Ruß bemalt um sie damit älter erscheinen zu lassen. Gleich zu Beginn des Einmarsches sollen der Ortsvorsteher der NSDAP und der Ortsbauernführer von sowjetischen Soldaten abgeholt und erschossen worden sein (13). Richard Gabriel wurde zunächst als Bürgermeister einige Male befragt und musste den Besetzern Auskunft erteilen, auch über die männlichen Einwohner des Dorfes. Diese wurden dann zum Teil abgeholt und weggebracht. Am 11. Mai 1945 (14) wurden Richard Gabriel und sein Sohn Helmut, der sich zu Hause befand, mittags vor dem Essen von Soldaten aufgefordert, sofort mit zu kommen. Sie konnten sich nicht mehr umziehen. So gingen er, in Filzpantoffeln und Weste, und Helmut, zwar in Schuhen, aber ohne Jacke, mit. Anna Gabriel hoffte zunächst auf eine baldige Rückkehr, da sie der Annahme war, ihr Mann und ihr Sohn seien wieder nur zu Befragungen abgeholt worden. Sie kamen aber nicht zurück. Auskunft über ihren Verbleib bekam sie trotz aller Bemühungen keine. Ihr ältester Sohn Richard war im Februar 1944 in einem Lazarett an der Ruhr verstorben. Nun stand sie mit dem großen Hof allein da. Sie nahm Flüchtlinge auf und unterstützte sie mit Notwendigem. Einige von ihnen halfen ihr, die anfallenden Arbeiten zu erledigen. Es gelang ihr auf diese Weise, die Landwirtschaft weiter zu führen. 1953 erschien im Zusammenhang mit der Bildung der LPG eine Kommission, die sämtliches Inventar auflistete und den Hof beschlagnahmte, während Anna Gabriel in der Küche saß und weinte (15). Da hatte einer der Kommissionsmitglieder Mitleid und legte ihr aus ihrer Speisekammer ein Glas Leberwurst, ein Glas Rotwurst und eine Wurst in den Schoss. Dann musste sie das Haus verlassen und durfte nur soviel mitnehmen, wie sie in zwei Stunden heraus tragen konnte. Sie musste zum Glück nicht, wie andere in der gleichen Situation, in einen anderen Kreis ziehen. Eine Bekannte im Dorf, die ihr ein Zimmer zur Verfügung stellte, konnte sie aufnehmen. Dort standen ein Schrank, ein Bett, ein runder Ausziehtisch, Stühle, ein Waschtisch mit Marmorplatte und einer Schüssel, ein Kachelofen, ein Sessel, eine Nähmaschine und ein schmaler Wohnzimmerschrank auf engem Raum. Sie konnte sich kaum dazwischen bewegen. Das, was nicht ins Zimmer passte, konnte sie ohne Miete zahlen zu müssen, in der Schmiede unterstellen. Die Dorfgemeinde achtete und unterstützte Anna Gabriel. Bürgermeister Peter gab ihr ein kleines Stück Land zurück, wo sie sich einen wunderschönen Garten einrichten konnte. Im Alter von 65 Jahren ging sie noch arbeiten, um sich nach fünf Jahren eine eigene Rentenanwartschaft zu erwerben. Man bedrängte sie, den Hof oder ein Stück Acker zu verkaufen, was sie mit dem Einverständnis der Miterben, von denen die meisten nach Westdeutschland geflohen waren, nicht tat. Beim Suchdienst des Roten Kreuzes in München waren die Sterbedaten von Helmut Gabriel seit den 1950er Jahren bekannt. Hierüber wurde Anna Gabriel informiert. 1955 musste sie schließlich ihren Mann für tot erklären lassen um eine Witwenrente zu erhalten. Als Zeitpunkt des Todes wurde vom Kreisgericht Burg der 31. Dezember 1950 – 24 Uhr – bestimmt (16) Auf dem Friedhof der Gemeinde befand sich das Familiengrab. Anna Gabriel saß dort oft auf einer Bank. Tafeln an der Wand erinnern neben ihrem Sohn Richard auch mit dem Zusatz: „die fern der Heimat ruhen“ an ihren Mann und ihren Sohn Helmut. Am 1. Juni 1971 starb sie ohne Kenntnis über den Verbleib ihres Mannes. Der DRK-Suchdienst München erfuhr einen Monat später, am 5. Juli 1971, vom Tod Richard Gabriels. Im Sommer 1990 bemühte sich die Nichte Annemarie Haring um Aufklärung. Im Juli 2005 erhielt sie von der Militärstaatsanwaltschaft Moskau die Nachricht, dass die Rehabilitierung ihres Onkels am 17. April 2003 abgelehnt worden war. In dem Schreiben heißt es:
„Wir verfügen über Angaben darüber, daß Richard Christianowitsch Gabriel (so in den Akten) am 07.06.1945 vom Militärtribunal der 69. Armee zur Höchsstrafe – Tod durch Erschießen verurteilt wurde, weil er als Bürgermeister des Dorfes Nedlitz von 1941 bis 1945 mehrmals an Razzien und Festnahmen sowjetischer Kriegsgefangener teilgenommen hatte, die aus den Lagern geflohen waren – er behandelte sie grausam und übergab sie im Weiteren der Polizei – und weil er entgegen der Anordnung des sowjetischen Militärkommandos über die Abgabe von Waffen illegal zwei Gefechtsgewehre und Patronen dazu besaß (17). In Nedlitz kann sich heute niemand vorstellen, wie die Aussagen über die Behandlung der Kriegsgefangenen zustande kamen. Richard Gabriel hat einen guten Ruf als Bürgermeister. Über Waffen ist der Nichte nichts bekannt. Überliefert ist, dass 1943 polnische Zwangsarbeiter den Burggraben reinigen und vom Schlamm befreien mussten (18)
Das Urteil ist am 31. Juli 1945 an Richard Gabriel vollstreckt worden. Er war da fast 67 Jahre alt. Der Hinrichtungsort und die Grablage wurden der Nichte seitens der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft nicht bekannt gegeben. Eine Akteneinsicht ist auf Grund der nicht erfolgten Rehabilitierung für sie als Angehörige nicht möglich. Helmut Gabriel wurde im Rang eines Feldwebels als Kriegsgefangener in die UdSSR gebracht und in der 2. Kompanie des Aufklärungsbataillons Nr.348 (Brest) für „verschiedene Arbeiten“ eingesetzt. Er verstarb am 2. Januar 1946 im Alter von fast 31 Jahren an Dystrophie und wurde einen Tag später „nordöstlich des Dorfes Krakowka bestattet (---) Während seines Aufenthalts in der UdSSR wurde er strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen. Unfälle wurden nicht registriert“ (19).
Quellennachweis:
*11) Die Informationen zur Geschichte der Familie Gabriel gab die Nichte Annemarie Harig geb. Gabriel 2007/2009, wofür ihr die Verfasser herzlich danken. Einige wenige Informationen finden sich in der Arbeitsgruppe der Nedlitzer Chronisten: Nedlitz. Ein Dorf im Wandel der Zeiten, Nedlitz 2003 *12) Aufzeichnungen von Richard Gabriel, in: Privatarchiv A. Haring *13) Schreiben von A. Haring am 29.4.2009, in: VOS- Archiv Magdeburg *14) Die Archivbescheinigung des Russ. Staatl. Militärarchivs vom 19.7.2005 gilt als Verhaftungsdatum den 15.5.1945 an, in: Privatarchiv A. Haring. *15) Am 9.4.1953 soll A. Gabriel eine Verzichtserklärung „aus gesundheitlichen Gründen und wegen Fehlens von finanziellen Mitteln“ im Rat des Kreises Burg abgegeben haben. Vgl. Arbeitsgruppe der Nedlitzer Chronisten: Nedlitz. Ein Dorf im Wandel der Zeiten, Nedlitz 2003, S. 59. *16) Beschluss des Kreisgerichts Burg vom 3.8.1955, in: Privatarchiv A. Haring. *17) Schreiben der Militärstaatsanwaltschaft Moskau vom 13.7.2005, in: Privatarchiv A. Haring. *18) Aufzeichnungen von Richard Gabriel, in: Privatarchiv A. Haring. *19) Archivbescheinigung des Russ. Staatl. Militärarchivs vom 19.7.2005, in: Privatarchiv A. Haring
Leitzkau
Karl Severin Geb. 1. Dezember 1894 in Letzkau Gest. 5. September 1945 wahrscheinlich im Speziallager Landsberg/Warthe
Karl Otto Severin (20) wurde am 1. Dezember 1894 in Leitzkau, einem kleinen Ort zwischen Gommern und Zerbst im Kreis Jerichow, als Sohn von Karl und Clara Severin geboren. Nach Beendigung der Schulzeit erlernte er wie sein Vater den Beruf eines Landwirtes. Als junger Mann musste er den Ersten Weltkrieg als Soldat miterleben. Am Beginn des Jahres 1915 wurde er zur Feldartillerie eingezogen, kam an die Ostfront und wurde Anfang Februar 1919 als Kanonier entlassen. Er erhielt das Eiserne Kreuz Erster Klasse und das Ehrenkreuz für Frontkämpfer (21). Am 5. Juli 1823 heiratete Karl Severin Frieda Martha Sens. Das Ehepaar bekam zwei Kinder, Karl (125) und Elisabeth (1927). Karl Severin jun. wollte ebenfalls Bauer werden. Er überlebte, 1943 als landwirtschaftlicher Lehrling zur Wehrmacht eingezogen, den Zweiten Weltkrieg aber nicht. Der Ort Leitzkau ist auch heute noch durch das Schloss, welches als Althaus und Neuhaus bis 1945 der Familie von Münchhausen gehörte, geprägt. Wann Karl Severin dort Bürgermeister wurde und wann er der NSDAP beitrat, ist nicht bekannt. In den 1940er Jahren gab es mehrere grausame Zwischenfälle in Leitzkau. Beziehungen zwischen deutschen Frauen und polnischen Zwangsarbeitern endeten mit KZ-Haft für die Frauen und der Todesstrafe für die Männer. Spätestens seit 1942 befand sich in der Nähe des Schlosses ein von der Gestapo eingerichtetes „Auffanglager für wieder ergriffene Ostarbeiter“. Dabei handelt es sich um Zwangsarbeiter, die von ihren Arbeitsstätten geflohen waren. Waren sie gestorben, wurden sie außerhalb des Ortes und nicht auf dem Friedhof begraben. Als Bürgermeister soll Karl Severin gegen diese menschenunwürdige Behandlung erfolglos protestiert haben (22).
Gegen Ende des Krieges lag Leitzkau im April unter amerikanischem Artilleriebeschuss und wurde auch bombardiert. Erst in der Nacht vom 1. zum 2. Mai räumte die Wehrmacht den Ort. Am 2. Mai bestätigte Karl Severin einem amerikanischen Spähtrupp, dass die Soldaten abgezogen waren (23). Zwei Tage später erreichte am 4. Mai ein sowjetisches Vorkommando Leitzkau. Karl Severin wurde in der Folge seines Amtes als Bürgermeister enthoben und zunächst für kurze Zeit eingesperrt (24). Die sowjetische Nachrichtendienst-Einheit SMERSCH der 247. Schützendivision verhaftete ihn dann Mitte Mai 1945 mit der Begründung: „leitender Mitarbeiter der NSDAP“ gewesen zu sein. Am 13. Juli ist er aus dem Speziallager Ketschendorf, wohin er zunächst gebracht wurde, nach Frankfurt/Oder und Ende Juli in das Speziallager Landsberg/Warthe transportiert worden, wo er wahrscheinlich am 5. September 1945 verstarb (25).
Elisabeth Severin ging 1948/49 in den Westen und arbeitete als Sekretärin in Aachen. Hier lernte sie ihren Mann kennen und heiratete Anfang der 1950er Jahre. Das Ehepaar bekam einen Sohn, Ulrich. Auf Grund der beruflichen Belastung seiner Mutter verbrachte dieser 1944 rund ein halbes Jahr bei seiner Großmutter Martha Severin in Leitzkau. Bis 1957 führte sie dort den großen Hof ihres verschollenen Mannes weiter. Dann verzog sie legal in die Bundesrepublik nach Krefeld, wo inzwischen auch die Tochter mit ihrer Familie lebte (26). Elisabeth Severin verh. Neubert ließ ihren Vater per Beschluss des Amtsgerichtes Uerdingen vom 20. April 1071 für tot erklären. Als Todeszeitpunkt wurde der 31. Dezember 1950 angenommen (27). Martha Severin starb am 5. April 1082, ihre Tochter zwei Jahre später am 8. August 1984 (28). Ihr Sohn Ulrich baute sich in den Vereinigten Staaten von Amerika mit seiner Familie eine neue Existenz auf. Mit Hilfe von Franziska Neubert, der zweiten Frau seines Vaters, sanierte er nach dem Ende der DDR das Gehöft seiner Großeltern in Leitzkau.
Quellennachweise:
*20) Den Hinweis auf das Schicksal von Karl Severin und Informationen zu seinem Lebensweg Verdanken die Verfasser Prof. Dr. Konrad Breitenborn, welcher im Rahmen seiner Nachforschungen zum Leitzkauer Schloss auch um die Aufklärung seines Verbleibs bemüht hat. Vgl. Konrad Breitenborn: Schloss Leitzkau zwischen 1944 und 1962, in: Stiftung Dome und Schlösser in Sachsen-Anhalt: Schloss Leitzkau, Halle (Saale) 2005; Antje Rohm: Buchrecherche klärte erst jetzt Schicksal des einstigen Leitzkauer Bürgermeisters auf, in: „Volksstimme“, , Ausg. Anhalt-Zerbst, vom 5.9.2005. Erwähnung findet K. Severin auch bei Annemarie Lüdicke: Vergessene Schicksale. Festnahmen in Mitteldeutschland 1945-1961, Zerbst, 2004, S. 175. Franziska Neubert, dem Urenkel Daniel Neubert und dem Enkel Ulrich Neubert gebührt großer Dank für die Unterstützung bei der Beschaffung von Fotos und zusätzlichen Informationen. *21) Vgl. Wehrpass, in: Privatbesitz Neubert. *22) K. Breitenborn: Schloss Leitzkau zwischen 1944 und 1962, in: Stiftung Dome und Schlösser in Sachsen- Anhalt: Schloss Leitzkau, Halle (Saale) 2005, S. 350. *23) Ebenda, S. 355-360. *24) Ebenda S. 362 *25) Auskunft des DRK- Suchdienstes München vom 21.7.2005 an Prof. Dr. K. Breitenborn mit Anlagen, in: Archiv K. Breitenborn. *26) Auskunft von U. Neubert am 29.9.2009. *27) Kopie des erneuten Antrags auf Toderklärung vom 1.3.1983 beim Amtsgericht Zerbst, in: Privatarchiv K. Breitenborn. Der Beschluss von 1071 wurde in der DDR nicht anerkannt. Beim DRK-Suchdienst lag seit 1959 eine Information vor, dass Karl Severin im September 1945 in Landsberg verstorben sei. Vgl. Auskunft des DRK- Suchdienstes München vom 21.7.2005 an Prof. Dr. K. Breitenborn mit Anlagen, in: Archiv K. Breitenborn. *28) Auskunft von D. Neubert am 28.9.1009.
Geb. 3. Januar 1900 Gest. 28.Januar 1948 im Speziallager Mühlberg
Bernhard Linowski wurde am 3. Januar 1900 in Allenstein/Ostpreußen als zweiter Sohn von August und Auguste Linowski geboren. Sein Vater arbeitete in einem Sägewerk und hatte insgesamt für acht Kinder zu sorgen (140): Das bedeutete, das die Kinder schon sehr für zur Versorgung der Familie beitragen mussten. Nach Kommunion und Schulzeit war Bernhard Linowski von 1916bis 1919 als Posthelfer bei der Bahnpost in Allenstein beschäftigt. Dann wurde er entlassen, weil Arbeitsplätze für Kriegsversehrte benötigt wurden. Er verpflichtete sich zu einer zwölfjährigen Dienstzeit beim Militär und absolvierte diese Zeit als Berufssoldat bis 1931 bei den „Ortelsburger Jägern“. Während dieser Zeit erlangte er den Abschluss der Heeresfachschule für Verwaltung und Wirtschaft. Anschließend fand er deshalb eine Anstellung beim Landratsamt Ortelsburg und durfte endlich 1931 Lina geb. Buttgereit heiraten. Die älteste Tochter Eva war zu diesem Zeitpunkt schon vier Jahre alt, . Das Ehepaar bekam dann noch drei Kinder: Heinz- Dieter (1932), Horst (1933) und Irmgard (1934). Bernhard bewarb sich Mitte der 1930er Jahre bei der Reichspost um eine Stelle und erhielt eine Zusage für Magdeburg. Die Familie zog daraufhin im September 1935 von Ostpreußen nach Mitteldeutschland. In Magdeburg arbeitete Bernhard Linowski zuletzt bei der Hauptpost als stellvertretender Leiter der Briefzustellung 1934 wurde er Mitglied der SA und 1937 nach eindringlichen Gesprächen auf seiner Arbeitsstelle, die ihm den Parteieintritt wegen der anstehenden Beförderungsmöglichkeiten nahe legte, der NSDAP (141). Er wurde Blockleiter und kassierte in der Folge die Mitgliedsbeiträge auf einer Seite in seiner Straße. Eine Einberufung zur Wehrmacht bekam er nicht, lediglich 1940 für sechs Monate eine Dienstverpflichtung zur Feldpost in Köln. Seiner ältesten Tochter ist bekannt, dass er gegen Ende des Krieges beauftragt wurde, in seiner Dienststelle einen Aufruf zum Bau von Panzersperren für die Verteidigung der Stadt zu verlesen. Nach dem Wechsel der Besatzungsmächte wurde er am 15. August 1945 von einer gegenüber wohnenden Nachbarin bei der deutschen Polizei als „ein außerordentlich aktiver Parteigenosse“ angezeigt und darauf hingewiesen, das seine Frau „keine Pflichtarbeit“ leisten würde (142). Dass Lina Linowski in dieser Zeit sehr krank war und an sonsten im zerbombten Magdeburg zum „Steine klopfen“ verpflichtet war, wurde im Bericht verschwiegen. Der Kriminalbeamte begann umgehend nach dem Bericht der Nachbarin mit Ermittlungen und führte eine Befragung beim Betriebsrat der Hauptpost durch. Dort bekam der Kriminalbeamte die Auskunft, dass Bernhard Linowski zur Entlassung aus dem Dienstverhältnis vorgesehen sei sobald sich ein Ersatz für ihn gefunden hätte, denn er sei als Nationalsozialist bei der Post bekannt gewesen. In dem Ermittlungsbericht heißt es aber auch zu seiner Entlastung: „Irgend welche Fälle von Provokationen oder Anzeigen durch ihn seien nicht bekannt“ (143). Kollegen rieten ihm, in die Westzone zu fliehen, als sie von den Nachforschungen erfuhren. Er meinte aber, er habe sich nichts vorzuwerfen, und blieb (144). Auch eine Verwandte hatte ihn vergeblich gewarnt, als sie von Verhaftungen in der Stadt hörte. Die Entscheidung zu bleiben, wurde Bernhard Linowski und seiner Familie zum Verhängnis. Eine Woche später wurde er von Polizeimitarbeitern verhaftet.
Die älteste Tochter erinnert sich 2008: „Am 25. August (145) wurde unser Vater vormittags durch zwei Peronen (wahrscheinlich Polizei in Zivil) aufgefordert, sich bis 14 Uhr beim Polizeirevier 6 in der Spielgartenstraße/Groß Diesdorfer Straße zu einem dreitägigen Arbeitseinsatz (Verpflegung für zwei Tage war mitzubringen) zu melden, von dem er dann nie wiederkehrte. Wir blieben ohne jede behördliche Nachricht – außer einer Mitteilung im Oktober 1945. Mit einer offiziellen Anforderung vom 12. Oktober (Poststempel) bat unser Vater um Winterbekleidung, Unterwäsche sowie eine Decke, Bettwäsche und ein kleines Kissen. Diese Sachen sollten in einen Rucksack gepackt werden und im Polizeipräsidium (Gefängnis- Anm. d. Red.), Halberstädter Str.8, abgegeben werden, was unsererseits auch erfolgte. In den Monaten September und Oktober hatten wir plötzlich die Möglichkeit, im Abstand von ca. einer Woche jeweils eine Tasche mit Lebensmitteln abzugeben. Das sah dann so aus: Auf einem LKW stehend, wurden die Taschen und Beutel von Justizangedstellten in Empfang genommen und in der Woche darauf u. U. mit Wäsche wieder zurückgegeben. Wir wsren ja froh, dass wir dann wieder etwas Lebensmittel abgeben konnten. Eine fast unübersehbare Menge verzweifelter Angehöriger brachte dort viele Stunden zu. Einmal fanden wir in der zurückgegebenen Tasche einen kleinen Zettel, einen Gruß unseres Vaters.
Hier nun eine Abschrift eines Kassibers:
Herzliche Grüße von hier sendet Euch Euer Papa. Wenn nicht diese Woche, dann 14 Tage oder noch später, ob wir hier bleiben, ist ungewiss. Was mag nur draußen los sein Mehr will ich nicht schreiben. Hoffentlich bekommt ihr den Zettel.
Inoffiziell hörten wir davon, dass die –Inhaftierten- im November 1945 abtransportiert worden sind (146). Das Ziel war nicht bekannt. Auf Anfragen und nachfragen gab es keine Antwort. Erst 1948 – Juli/August. – wurden wir auf Rückkehrer/Entlassene aufmerksam, die aus Mühlberg oder Torgau kamen. So warteten wir viele Wochen lang täglich gegen Abend auf dem Hauptbahnhof Magdeburg auf unseren Vater, der damals aber leider nicht kam. Nachforschungen blieben weiterhin erfolglos. Es sprach keiner über die Lager seiner Zeit. Später erfuhren wir von irgendjemanden, dass er in Mühlberg gewesen sein soll. Ansonsten stand unsere Mutter – selbst auch noch krank geworden – mit vier Kindern (18, 13, 12 und 11 Jahre alt) ohne Arbeit und Einkommen allein da. Nur durch Näharbeiten, angefertigt mit der ältesten Tochter, konnte zum Lebensunterhalt beigetragen werden. Gemüsebeete in den Grünanlagen angelegt, lieferten etwas für den Mittagstisch. Behördlicherseits und von der Deutschen Post gab es keine Unterstützung. Zwei der Geschwister erkrankten an Tbc. Diese Zeit war von großen Entbehrungen geprägt. Später gab auch Heinz-Dieter durch Lederreparaturarbeiten, er lernte Sattler, Unterstützung. Irmchen und Horst fertigten Häkeldeckchen an. Gezwungenermaßen und schweren Herzens beantragte unsere Mutter dann 1061 die Todeserklärung als Voraussetzung für den Bezug einer sehr geringen Witwenrente. Seit 1950 konnte sie als Sachbearbeiterin tätig sein. Hausbewohner und Freunde halfen zeitweise bis dahin, sonst hätten wir wohl alles nicht überstehen “ (147). Am 17. Juni 1953 war der zwanzigjährige Sohn Horst Linowski inhaftiert worden, nachdem er ein Flugblatt, das den Beginn des Ausnahmezustandes wegen des Volksaufstandes angekündigt, zerrissen hatte. Ein sowjetisches Militärtribunal verurteilte ihn am 4. Juli zu acht Jahren Arbeitslager, die r zum größten Teil in Bautzen verbüßen musste. Am 29. November 1960 wurde er aus der Haft entlassen (148). 1995 gemäß Artikel 3 des Gesetzes der Russischen Föderation „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen „ vom 18. Oktober 191. Gleichzeitig wurde mitgeteilt , dass Bernhard Linowski im NKWD- Lager Mühlberg an Dystrophie verstorben ist (149). Somit hatten wir nun das längst Geahnte amtliche bestätigt. Im Jahre 1996 haben wir Geschwister erstmals an der jährlich im September stattfindenden Gedenkfeier zu Ehren der Überlebenden und der Verstorbenen teilgenommen. So konnten wir zum Gedenken unseres Vaters am Holzkreuz Blumen niederlegen“ (150).
*140) Die Informationen zur Geschichte Linowskis gab seine Tochter Eva Mosebach während mehrere Gespräche 2088, wofür ihr die Verfasser herzlich danken. *141) Journal des NKWD/MWD- Speziallager Mühlberg e.V. Eine Eintragung auf einer MfS- Karteikarte gibt das Jahr 1939 für den NSDAP-Eintritt an. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, F 16. Hinweise in den Unterlagen des ehemaligen Berliner Document Center (heute Bundesarchiv) fanden sich nicht. *142) Bericht vom 15.8.1945. in: LHASA, MD, NS-Archiv des MfS, Nr. Obj. 7 ZA 55-139, Bl.32. *143) Vermerk von Krim. Ass. Kluth am 17.8.1945, in: LHASA, MD, NS-Archiv des MfS, Nr. Obj. 7 ZA 55-139, Bl.32 *144) Aktennotiz über ein Gespräch des RA. Dr. Aschenauer am 20.11.1959 mit Verwandten , die sich in der Bundesrepublik um Nachforschungen bemühten, in: BArch Koblenz, B305 Nr. 21129. *145) In Unterlagen des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt, die vom MfS übernommen wurden, findet sich der Hinweis, dass B. Linowski am 24.8.1945 als Gefangener von der Polizei übernommen wurde und die Gefangenen -Nummer 1871/45 bekam. Vgl. LHASA, MD, NS- Archiv des MfS, Nr. ZA I 11044. *146) Das Journal des NKWD/MWD- Speziallager Mühlberg gibt als Einlieferungsdatum den 24.101945 an. Vgl. Archiv der Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. *147) Bericht von Eva Mosebach im November 2008, in: VOS- Archiv Magdeburg. *148) „Der 17. Juni 1953, ein schwarzer Tag, auch in meinem Leben“, in: BSV e.V., Kreisverband Magdeburg: Ein Gespenst ging um. Erlebnisbericht aus dem „Sozialistischen Lager“ 1945 bis 1989, Hg. LStU Sachsen- Anhalt (Reihe „Betroffene erinnern sich“ 2), Magdeburg 1996, S. 41 ff. *149) Initiativgruppe Lager Mühlberg e.V. (Hg.) : Totenbuch. Speziallager Nr.1 des sowjetischen NKWD, Mühlberg/Elbe, Mühlberg/Elbe 2008, S.124. *150) Bericht von Eva Mosebach im November 2008, in: VOS- Archiv Magdeburg.
Geb. 13. März 1903 in Münster/Westfalen Gest. 15. Mai 1947 im Speziallager Torgau
Die Geschichte von Justus Lohmann schrieb dankenswerter Weise sein Sohn Hans-Jürgen Lohmann im Jahre 2009 auf:
„Justus Georg Lohmann wurde am 13. März 1903 in Münster /Westfalen als erster Sohn des späteren Regierungs- und Vermessungsrates Justus Lohmann und seiner Frau Anna geboren. Nach der Versetzung des Vaters nach Reppen, einer Kreisstadt 20km von Frankfurt/oder entfernt (heute Polen), besuchte er die dortige Vorschule und im Anschluss daran das Gymnasium in Potsdam. Im Oktober 1913 trat er in das Kadettenkorps Potsdam ein. Durch den Versailler Vertrag bestimmt, wurden die Kadettenanstalten 1920 aufgelöst. Er verließ die Anstalt mit dem Schulabschluss Obersekunda. Im Anschluss an eine zweijährige Ausbildung als Praktikant in den Eisenbahnwerkstätten Frankfurt/Oder besuchte er von 1922 bis 1925 die Staatliche Maschinenbauschule in Aachen. Er übernahm eine erste Tätigkeit als Ingenieur und Konstrukteur in der Zellstofffabrik Waldhof AG, in Tilsit/Ostpreußen. Im Jahre 1930 wechselte er in die Maschinenfabrik AG Köthen . Dort war er bis Sommer 1930 als Konstrukteur tätig, wurde dann jedoch arbeitslos. Ab Juli 1931 trat er in den Freiwilligen Arbeitsdienst ein. Im Sommer 1933 wurde er Mitglied der NSDAP. Im Oktober 1944 übernahm er eine Stelle als Techniker bei der Deutsch-Amerikanischen Petroleum Gesellschaft in Hamburg. Nach Magdeburg kam er 1936, als er eine Stelle als Konstrukteur Bei Schäffer & Budenberg antrat. Am 19. August 1939, wenige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges heiratete er Hildegard Krüger aus Groß Ottersleben. Im Heimatort seiner Frau blieben sie auch wohnen. Justus Lohmann wurde als -unabkömmlich- vom Militärdienst freigestellt. 1940 und 1942 bekam das Ehepaar zwei Söhne. Von 1940 bis zu seiner Einberufung war er als Stellvertreter des Kassenwarts für die Kassierung der Parteibeiträge zuständig, da der langjährige Kassierer einberufen worden war. Im November 1943 erfolgte auch seine Einberufung nach Halberstadt zu einer Pioniereinheit. Im Frühjahr 1945 geriet er in britische Gefangenschaft, aus welcher er bereits am 25. Mai wieder entlassen wurde. Er hatte sich als Landarbeiter für den Kreis Wanzleben gemeldet. Als er Ende Mai in Groß Ottersleben überraschend eintraf, befand sich dort auch sein Vater, der aus der Liegnitz/Schlesien vor den heranrückenden sowjetischen Truppen geflohen war. Die Familie hatten den Krieg glücklich überstanden. Am 1. Juli 1945 nahm Justus Lohmann seine Tätigkeit bei Schäffer & Budenberg wieder auf. Ende >Juni zogen sich die amerikanischen Truppen an die Demarkationslinie zurück und die Sowjetarmee hielt auch in Groß Ottersleben Einzug. Die russische Kommandantur befand sich im Wohn- und Praxisgebäude von Sanitätsrat Dr. Flügge am Eichplatz. Wenige Wochen später, im August 1945 erhielt Justus Lohmann, wie eine ganze Reihe von Männern aus Groß Ottersleben die Vorladung zu einer Vernehmung ins Rathaus der Gemeinde. Diese sollte am 23. August stattfinden. Da Justus Lohmann sich im Rückblick auf die letzten Jahre keinerlei Schuld bewusst war, ging er ruhigen Gewissens am Abend des 23. August in das Rathaus. Er verabschiedete sich von seiner Frau und seinem Vater- und kam nicht wieder. An diesem Abend sahen sie ihn das letzte Mal.
Auch am anderen Tag kamen keine Lebenszeichen von ihm. Dann sprach sich im Dorf herum, dass sich die verhafteten Männer im Keller der Kommandantur am Eichplatz befanden. Aber auf die Nachfrage der Angehörigen im Rathaus oder in der Kommandantur gab es keine Antworten. Hier setzten meine ersten Erinnerungen an dieses, für unsere Familie so tief greifendes Ereignis ein. Ich war damals gerade fünf Jahre alt. Ich sehe noch heute die vielen Frauen mit ihren Kindern an der Südecke des Magdeburger Justizpalastes in der Halberstädter Straße stehen. Ganz oben war im Turm ein Fenster geöffnet und aus dem Fenster schauten der Reihe nach für wenige Augenblicke die in diesen Tagen verhafteten Männer auf ihre vor dem Gebäude stehenden Frauen und Kinder. Ich habe meinen Vater aus der Vielzahl der Gesichter nicht erkennen können, aber ich habe noch die verzweifelten Rufe der Frauen in den Ohren. Für unsere Mutter und viele andere Frauen war das ein letztes Lebenszeichen von ihren Männern. Offensichtlich waren die Ottersleber Männer entweder vor oder nach dem Ereignis am Justizpalast in der Zeit vom 24. August bis 8. September 1945 in diesem Gefängnis, dem damaligen Russischen Militärgefängnis inhaftiert. Aus einer Aufforderung zur Bezahlung der Haftkosten für Friedrich Widuwilt gegen diese Daten hervor. Unsere Mutter bemühte sich nun, Informationen über den Aufenthaltsort unseres Vaters zu erhalten. Aber sowohl die russische als auch die deutschen Stellen gaben keine Auskunft. Es folgten Jahre der Ungewissheit, des Hoffen s und des Bangens bis dann 1948 die ersten Männer aus den Lagern zurückkehrten. Unsere Mutter versuchte vergeblich, von Leidensgenossen Informationen über den Verbleib unseres Vaters zu erhalten. In ihrem Nachlass fanden wir Briefe und Schreiben, aus denen das verzweifelte Bemühen um Auskunft über das Schicksal unseres Vaters nachvollzogen werden kann, so zum Beispiel am: 31.10 1947 Suchantrag –Deutscher Suchdienst- Berlin- Dahlem 04.06.1948 Bitte um Auskunft an den russischen Militär-Staatsanwalt 13.10.1948 Bitte um Auskunft über eine eventuelle Bestattung auf dem Friedhof Torgau 30.11.1948 Suchantrag -Suchdienst für vermisste Deutsche in der sowjetischen Besatzungszone- 11.05.1949 Bitte um Auskunft an die Zentrale des NKWD in Magdeburg, Porsestraße 3
Unsere Mutter verdiente den Lebensunterhalt für ihre Familie, den Schwiegervater und uns zwei Jungen, indem sie schneiderte. Wenn ich mich an diese Zeit erinnere, dann sehe ich sie nur bis spät in die Nacht an der Nähmaschine sitzen. Als im Jahre 1948 in der -Volksstimme- Bewerberinnen für einen Lehrgang zur Ausbildung als Berufschul-Lehrerinnen in der Fachrichtung Hauswirtschaft gesucht wurden, bewarb sich unsere Mutter am 10. September. Sie wurde angenommen und nahm am 1. Oktober 1948 das Studium auf, das sie mit viel Energie und Fleiß vorantrieb. Als im Zusammenhang mit einem Stipendiumsantrag den Nachweis vor legen sollte , dass gegen ihren Mann keine politischen Anschuldigungen vorliegen, erhielt sie von der Gemeinde Groß Ottersleben eine Erklärung, die mit dem Satz endete: -Etwas belastendes gegen Ihren Gatten liegt nicht vor.- Im Frühjahr 1948 trat eine unerwartete Wende ein. Während einer Lehrveranstaltung erschien plötzlich die Direktorin der Bildungseinrichtung und rief Hildegard Lohmann nach vorn. Dann verkündete sie lauthals, dass es in dieser Einrichtung kein Platz für die Ehefrau eines NS-Verbrechers gebe. Die Freude auf die zu erwartende Laufbahn als Lehrerin und die damit verbundene Hoffnung auf Besserung der wirtschaftlichen Situation nach dem Studium waren geplatzt. Diese Entfernung aus dem Lehrgang ohne irgendeine Schuld und ohne die Möglichkeit sich zu Rechtfertigen, haben sie sehr getroffen. Die Angst vor weiteren Repressalien hat sie ihr Leben lang begleitet. In den Folgejahren hielt sie sich und ihre zwei Söhne mit Näh- und Handarbeiten über Wasser.
Der Vorgang der gerichtlichen Todeserklärung brachte meinem Bruder und mir das Schicksal unseres Vaters und die Nöte unserer Mutter wieder in unser Bewusstsein. Wir erinnern uns an die Jahre nach dem Krieg. In der Folge der Angst vor Repressalien lernten wir Kinder damals sehr schnell, dass bestimmte, in der geführte Gesprächsthema, nicht an die Öffentlichkeit gelangen durften. Das führte zwangsläufig auch dazu, dass wir im privaten, vertrauten Kreise anders auftraten als in der Öffentlichkeit. Dieses Verhalten hat uns während unserer beruflichen Entwicklung und im Berufsleben begleitet und war bis zur Wende immer gegenwärtig. Mit dem Ende der DDR und dem Beginn der Freiheit, über die Vergangenheit sprechen und schreiben zu können, kehrten diese tot geschwiegenen und so lange zurückliegenden Ereignisse plötzlich wieder in das Bewusstsein zurück. Mit großer Energie bemühte sich unsere Mutter mit Erfolg um die Rehabilitierung ihres Mannes und sie versuchte erneut, etwas über sein Schicksal zu erfahren. Nach der –Volksstimme-Veröffentlichung- eines Gespräches mit Heinz Hildebrandt im Herbst 1990, die unter dem Titel zu lesen war: - Die Enkel sollen wissen, daß wir keine Verbrecher sind-, stellte sie im Februar 1991 einen formlosen Antrag an die Arbeitsgruppe Rehabilitierung beim Ministerium für Justiz in Berlin. Nach Prüfung der damaligen Umstände wurde unser Vater am 6. Juli1993 als ehemaliger politischer Häftling anerkannt. Grundlage hierfür war das Häftlingshilfegesetz § 10 Abs.4. Auf der Suche nach Informationen über die Umstände des Todes unseres Vaters, wandte sich Unsere Mutter erneut an den Suchdienst des Roten Kreuzes, nachdem Unterlagen über die ehemaligen sowjetischen Besatzungszone bestehenden NKWD- Lager aus Moskau übergeben und ausgewertet worden waren. So bekamen wir dann im November 1994 endgültig die offizielle Information, dass unser Vater am 15. Mai 1947 im Lager Torgau, Seydlitz-Kaserne, verstorben ist. Über den Ort der Bestattung ist bis heute nichts bekannt.
Ein Jahr vorher, im Sommer 1993 sind wir mit unserer Mutter nach Torgau gefahren und haben endlich, nach den vielen Jahren des Hoffens, der Sorgen und der Ungewissheit, am Gedenkstein für die Opfer der Gewaltherrschaft im Fort Zinna von unserem Vater Abschied genommen – unsere Mutter von ihrem Mann und wir von unserem Vater“