Als ich gelegentlich vom Dom zum Museum schlenderte, kam ich bei einem "alten Magdeburger" vorbei (leider war er jung gestorben). Da er ein echter Elbröwer war (sein Elternhaus stand in der Klosterstraße, nicht weit vom Brücktor), fragte ich ihn nach Erinnerungen an seine Kindheit. Und da sprudelte er los. Da sich das Erlebnis hauptsächlich auf dem Fürstenwall abspielte, stelle ich es hier ein.
Bild entfernt (keine Rechte)
Im Jahre 1805 im Sommer bemerkte man plötzlich eine große Regsamkeit in der Stadt. Mehrere der alten Commodenhäuser am neuen Markte wurden abgeputzt, das Pflaster, was von da zum Fürstenwalle hinab führte, wurde ausgebessert, das Gouvernementsgebäude, dessen oberer Stock durch eine hölzerne Überbrücke mit dem Fürstenwalle zusammenhing, in Stand gesetzt, der Fürstenwall, von wo man die Aussicht auf einen bedeutenden Abschnitt der Elbe und ihrer Ufer hatte, mannigfaltig durch die strengen Linien der gegenüber liegenden Citadelle und die Baumanlagen des rothen Horns, empfing an schicklichen Stellen einen Ueberzug von grünem Rasen, in den blühende Stauden und insbesondere blaue und rothe Hortensien in unendlicher Anzahl eingesenkt wurden, endlich errichteten Werkleute und Tapezierer auf einem Vorsprunge des Walls ein russisches Zelt mit buntem Dache. Der Sinn dieser Anstalten wurde bald klar, es hieß, der König und die Königin würden Magdeburg besuchen. Damals erinnere ich mich zum erstenmal von jener Fürstin reden gehört zu haben. Ich war von frühster Kindheit an sehr neugierig und horchte überall zu, wo ich Erwachsene redend zusammenstehen sah, wie ich denn überhaupt eher ein Verhältniß zu älteren Leuten gehabt habe, als zu meines Gleichen. Die Wirkung der annahenden Königin auf die Männerwelt war nun wirklich so, daß man Jeden für einen Champion der schönen Majestät hätte halten dürfen. In der bürgerlichen Sphäre wurde damals weit weniger gereiset als jetzt, Viele hatten daher die Monarchin noch nicht gesehen und Alle waren voll Erwartung des Wunders, oder Entzückens über die Wiederkehr hoher Freude voll. Man sprach nur von der Königin, sie wurde, wo auf sie die Rede kam „die admirable Frau" genannt. — Nicht lange währte es, so legte eines Morgens mein Vater mit ernstem Antlitz seine gestickte Uniform an, in der ich ihn noch nie gesehen hatte und in welcher er mir, Degen an der Seite, dreieckichten Hut auf dem Haupte, wunderbar und fremd vorkam. Ich drückte mich, nachdem ich den Glanz dieses Anblicks oben aus des Vaters Zimmer eingesogen, unten in eine Ecke des Hausflurs, um den Genuß noch einmal zu haben. Er schritt an mir vorüber, ohne mich wahrzunehmen, nachdenklich vor sich hinsehend, und ich war ganz erschüttert und betäubt, denn ich hatte keine Ahnung davon gehabt, daß ein solcher Prachtrock in der Welt, geschweige daß er im Hause sey. Gleich nachher donnerten die Kanonen, läuteten die Glocken, sprengten die rothen Kammerhusaren — eine Art von Verwaltungsmiliz, die ein in diesem Friedendienste unmäßig corpulent gewordener Rittmeister commandirte — durch die Straße, lärmte und schrie das Volk, und lief im wildesten Rennen nach dem Brückthore. Es war uns Kindern streng verboten worden, uns in das Getümmel zu wagen, aber wie wäre da Haltens gewesen! — Das Haus war von seinen Bewohnern geleert und nur der Hut einer alten Wärterin anvertraut. Der vorbeizukommen hielt nicht schwer. Rasch hatte ich die Thüre hinter mir und war mit den letzten Nachzüglern auch im vollen Rennen nach dem Brückthore. Aber in der Nähe desselben kamen uns glänzende Equipagen entgegen gefahren, nachfluthete der Volksstrom dem Fürstenwalle zu, von diesen Wogen wurde auch ich gefaßt, nun schwamm ich mit der Fluth und wurde von ihr Ruckweise auf die Stirn des Walls befördert. Dort stand Kopf an Kopf und es schien fast unmöglich bis zum Gouvernementsgebäude vorzudringen, in welchem die Majestäten abgestiegen waren. Aber was wäre einem von Neugier brennenden Knaben in solchem Falle unausführbar? Gehend und kriechend, schiebend und geschoben, stoßend und gestoßen schrotete ich mich die schwarze Menschenmasse hindurch und gelangte endlich glücklich wenn auch etwas gequetscht an einen Ort, wo ich nun unter den Vordersten gerade der großen Salonthüre gegenüber stand, in welcher die Herrscher erscheinen mußten, wenn sie sich, wie Jedermann erwartete, dem Volke zeigen wollten. Da stand ich denn also an der glücklichsten Stelle. Aber bald überfiel mich ein entsetzliches Bangen. Im Kampf und Ringen stürmt der Mensch sich bewußtlos auf die schmale Zinne eines Thurms hinauf, aber wenn er die Zinne erobert hat und nun da droben steht kann ihm schwindlich werden. Mir fiel plötzlich centnerschwer aufs Herz, daß ich denn doch wider das ganz ausdrückliche Verbot meines Vaters da vorhanden sey, welches mir so viel gelten mußte, als ein Befehl Friedrich's seinen Officieren gegolten hatte. Meinem Geiste trat eine furchtbare Phantasie nahe; ich dachte, der Vater könne da statt des Königs oder der Königin in der Salonthüre sich zeigen, sein Auge den Ungehorsamen entdecken. Zurückzuweichen war völlig unmöglich, die Menge hinter mir bildete eine undurchdringbare Mauer. Ich mußte also stehen bleiben, den Fügungen des Geschicks verfallen, und mich noch vor den beiden rothen Kammerhusaren in Acht nehmen, welche die Brücke nach dem Salon gegen den Andrang zu schützen hatten. Diese machten nicht viel Umstände mit dem Volke, und es ging hier zu wie aller Orten bei solchen Gelegenheiten. Nicht die Drängenden erlitten unsanfte Behandlung, sondern die Gedrängten, die unschuldigen Vordersten. Aber bald lösete ein reizendes Schauspiel alle Angst auf und jedes herbe Wesen. Die Königin trat in die Salonthüre. Ich erinnere mich ihres Anzuges noch ganz deutlich; sie trug einen stahlgrün seidenen Überrock, und war übrigens ohne Schmuck, einfach gekleidet. Das Volk begrüßte sie jubelnd, Mützen und Hüte schwenkend. Sie verneigte sich mit holdseliger Freundlichkeit nach allen Seiten und nun wurde ich Zeuge eines Auftritts, der wohl verdient erzählt zu werden. Auf silbernem Plateau wurde ihr eine Tasse dargeboten, sie nahm sie und frühstückte. Ein Herr mit mehreren Sternen auf der Brust näherte sich ihr aus der Tiefe des Salons und schien des Augenblicks zu warten, wo er ihr nach beendetem Frühstück die Tasse abnehmen dürfte. Plötzlich aber sah die Königin empor, dann mit unglaublicher Freundlichkeit nach dem Volke. Ihr Blick fiel auf ein Kind, mit welchem die Wärterin sich auch unter den Vordersten befand. Die Schönheit des Kindes mochte ihr gefallen, und das lange goldgelbe Lockenhaar des Kleinen. Sie winkte erst mit dem Finger, da aber Niemand die liebenswürdige Natürlichkeit dieser Gebärde begriff, so sagte sie Jemand, der hinter ihr stand, etwas, worauf der Dienstthuende über die Brücke gegangen kam und der Wärterin befahl, ihm mit dem Kinde zm Königin zu folgen. Die arme Person wurde blutroth, gehorchte zitternden Schrittes, und sah sich dabei unterweilen nach der Menge um, als wollte sie sages: Ich maaße mir diese Ehre nicht an. Inzwischen wollte der Herr mit den Sternen der Königin die Tasse abnehmen; sie lehnte es aber ab, neigte sich dem Kinde, welches unbefangen umher lächelte, entgegen, faßte seine Händchen, streichelte ihm die Wangen und gab ihm dann, aus ihrer Tasse in dem Theelöffel zu kosten. Sie fragte die Wärterin nach dem Alter des Kindes, nach seinen Eltern und was dergleichen mehr war. Alles dieses geschah in der Entfernung weniger Schritte von dem Platze, wo ich stand, so daß ich diese Einzelheiten genau merken konnte. Man begreift, welchen Eindruck der Vorgang im Volke machen mußte, bei dem eine Königin sich so lieblich mütterlich gegen ein fremdes Kind bezeigte. Es wurde nicht gerufen oder sonst eine laute Freude an den Tag gelegt, aber rings um mich her hörte ich murmeln, daß das doch noch eine Königin sey, wie sie seyn müsse.
Unter Anderem für diese gute Tat der Königin hat man ihr später ein weißes Marmordenkmal im Königin-Luise-Garte spendiert. Das hat aber der Erzähler nicht mehr miterlebt.
Ich will hier noch eine Ergänzung zu einem alten Thema einstellen. Es handelt sich um den Tatarenturm.
Johann Vulpius hat in seinem 1702 erschienen Werk Magnificentia Parthenopolitana den Tatarenturm erwähnt.
Bild entfernt (keine Rechte)
Damit wären zwei Fragen geklärt, wenn man Vulpius vertrauen kann.
1. Das Baujahr ist 1239. (Der Thume ist übrigens der DOM)
2. Der Name Tatarenturm wurde gewählt, weil in dem Baujahr einer der gefürchteten Tatareneinfälle in das christliche Reichsgebiet stattfand. Da sich solche kriegerischen Ereignisse immer tief einprägten, wurden die Erinnerungen daran an ein markantes Bauwerk genüpft.