Zeitungsartikel Volksstimme Magdeburg , Volksstimme-Bericht über die Tagebuch-Lesung in der Thearter-Villa
Tagebuch einer Werderanerin von 1945 entdeckt
Was ist aus der Lehrerin geworden?
Viel mehr ist über sie nicht bekannt. Nach wie vor nicht. Bei Gesprächen mit alten Werderanern, darunter eine fast 100 Jahre alte Frau, konnten die Chronisten keine weiteren Angaben ermitteln, wie Nadja Gröschner sagt. Fest stehe, dass nach dem Krieg in der damaligen Engels-Schule an der Cracauer Straße (früher Ernst Thälmannstraße) arbeitete. Ihr letztes Lebenszeichen sei von dort gekommen. „Wir recherchieren derzeit noch in Archiven des Magistrates, schließlich muss sie als Bedienstete der Stadtverwaltung geführt worden sein. Auch von einer Forschungsgruppe zur Schulgeschichte an der Uni erhoffen wir uns noch weitergehende Informationen“, sagt Nadja Gröschner. Auf den Bericht in der Volksstimme über die Veranstaltung im Theater an der Angel meldeten sich zahlreiche Leser sowohl in der Radaktion als auch bei Nadja Gröschner und Frank Kornfeld. Die am Stadtteil-Lesertelefon eingegangenen Informationen werden von den Stadtchronisten noch ausgewertet. Da meldete sich etwa ein Leser aus Niedersachsen, der nach seinen Angaben eine Abschrift des Tagebuches von Marianne Gutsche besitzt. Eine ältere Frau berichtete, wie sie kurz vor Kriegsende in der Oststraße 1 bei einer Lehrerin Nachhilfeunterricht bekam. Nadja Gröschner: „Nach der Veröffentlichung ist klarer geworden, in welchem Umfeld die Tagebuchschreiberin lebte. Außer ihr wohnten dort einige weitere Lehrer.“ Eine Lehrerin Kranholt zum Beispiel, eine Lehrerin Kretschmann. Dann ein Prof. Ahrbeck, ein Studienrat an den sich viele Leser erinnerten.
Im Februar weitere Lesung geplant
Jetzt planen die Chronisten und Theaterleute, die Lesung mit Bilderschau und Erläuterungen (Titel: „Das Tagebuch“) an einem Nachmittag im Februar zu wiederholen und die neuen Erkenntnisse aus ihren Recherchen einzubauen.
Texte über die letzten Kriegstage auf der Elbinsel Tagebuch
Von Robert Richter
Werder. Es ist ein Zufallsfund, entdeckt im Schulmuseum. Bei Nachforschungen zur Magdeburger Heimatgeschichte stießen Nadja Gröschner (Chefin der „Feuerwache“ in Sudenburg) und Frank Kornfeld unlängst auf das Tagebuch einer unbekannten Werderanerin, geschrieben zwischen April und August 1945. Es vermittelt naturgemäß eine ganz persönliche Sicht auf die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs, macht deutlich wie die Menschen in Magdeburg und speziell auf dem Werder diese Zeit erlebten, wie sie empfanden. An der Zollstraße im Theater an der Angel lasen die Entdecker am Samstagabend Auszüge, unterstützt von den Schauspielern Ines Lacroix und Matthias Engel. Die Theater-Leute hatten dem Vorschlag der Geschichtsforscher zugestimmt, eine solche Lesung zu organisieren. Als Termin wählten sie den Vorabend des Volkstrauertages. Sich an diesem Abend auf Geschichte zu besinnen, die von Lebensläufen geschrieben wird, das war das Anliegen der Veranstalter, die in der Theater-Villa 20 Zuhörer hatten.
Ohne Kommentar
Bekannt ist über die Schreiberin so gut wie nichts, sagte Nadja Gröschner. Fest stehe einzig, dass sie eine Lehrerin war. Gespräche mit alten Werderanern hätte noch nicht zu einem genaueren Bild verhelfen können. Für die Lesung bearbeitet wurde der Stoff insofern, dass im Kriegs-Chaos flink angefertigte Notizen an einigen Stellen durch Satzumbau lesbar gemacht wurden, wie Thomas Engel sagte. „Wie haben aber den Text nicht unter künstlerischen Gesichtspunkten aufgearbeitet. Wir haben ihn im Wortlaut vorgetragen- ohne Kommentar, damit er für sich spricht. Dabei allerdings übergingen sie eine Reihe von Eintragungen. Das nicht nur aus Zeitgründen. Die Lesenden begründeten es mit ihrer „klaren Haltung, die sie zu dieser Zeit haben.“ Das bedeutet: Ihre Auffassung über die Ereignisse in Deutschland 1945 decken sich nicht mit jenen der Tagebuch-Schreiberin. Als deutsch-national beschreibt Matthias Engel deren Einstellung. Aus ihren Eintragungen geht hervor: Sie verstand den Einmarsch von Amerikanern und Russen keineswegs als Folge des Kriegstreiben der Deutschen.
Gerüchte statt Fakten
Auch auf dem Werder schlugen in den letzten Kriegstagen Bomben ein. An der Zollstraße etwa und in der Badestraße. Währenddessen hoffte die Lehrerin in ihrer Wohnung an der Oststraße, statt der Russen, die sie verachtet und fürchtete zugleich, mögen die Amerikaner Magdeburg besetzen. Das galt ihr als das geringere Übel. Von allen Seiten sah sie „den Feind“ kommen, während die Zeitungen noch von Erfolgen an der Front schrieben. Sie berichtet von Kampffliegern am strahlend blauen Himmel über Magdeburg. Plötzlich waren die Elbbrücken zerstört und Werderaner abgeschnitten vom Rest der Welt. Ohne Nachrichten aus dem Radio noch dazu: Es floss kein Strom mehr. Statt Fakten verbreiten sich auf der Insel solcherlei Gerüchte: Hitler sei irgendwo auf der Flucht entdeckt worden- verkleidet als Frau. Als schließlich die Werderaner aufgefordert waren, die weißen Friedens-Flaggen durch Rote Fahnen zu ersetzen und als die Russen begannen die Wohnungen auf der Insel zu kontrollieren, da schloss die Lehrerin ihr Tagebuch. Nadja Gröschner: „Was aus ihr wurde, ob sie vielleicht in den Westen Deutschlands zog, darüber wissen wir leider nichts.“
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Tagebuch während der Zeit der Belagerung Russenherrschaft Magdeburg-Werder/Oststraße 1
11.April- von Marianne Gutsche
Sei mir gnädig, Gott sei mir gnädig! Denn auf Dich traut meine Seele und unter dem Schatten deiner Flügel hab ich Zuflucht, bis daß das Unglück vorübergehe. Psalm 57,2
Sonnabend, den 7.April Schierke
Früh um ½ 8Uhr erhielten wir Bescheid, daß wir um 12Uhr zur Abfahrt bereit sein müssten. Während sich die Schüler freuten, bedauerten wir Lehrkräfte sehr, Schierke verlassen zu müssen. Alle KLV-Lager wurden aufgelöst. Der Feind rückte immer näher heran. Uns war gesagt worden: „Ist der Feind in Nordhausen, dann müssen Sie aus Schierke fort.“ Nun kam der Augenblick der Abreise schneller als wir geglaubt hatten. Das letzte essen war so gut und so reichlich wie nie zuvor. Wir bekamen auch reichlich Brot, Marmelade, Wurst und Käse mit. Außerdem erhielt jeder 2 Konservenbüchsen. Um 3Uhr fuhren wir von Elend ab. Kaum waren wir losgefahren, als es hieß: „Tiefflieger.“ Wir fuhren in den Wald zurück und mussten schnellstens aussteigen und verteilten uns im Wald. Nach 20 Minuten stiegen wir wieder ein und hatten eine herrliche fahrt bei Sonnenschein runter nach Wernigerode. Wir erfuhren unterwegs, daß Drei-Annen-Hohe angegriffen war, da dort das Oberkommando der Wehrmacht lag. Der Bahnhof erhielt Treffer. In Wernigerode brachten wir zunächst unser Gepäck zur Aufbewahrung zu „Bruder“, um dann unser Quartier in „Haus Sonneck“ im Mühlental zu beziehen. Wir wurden recht gut mit einer Erbsensuppe mit Fleisch verpflegt. Um ½ 8Uhr sollte eine Besprechung mit dem Oberbannführer sein. Er kam glücklich um ½ 1Uhr in der Nacht. Wir hatten aufzubleiben! Es wurde uns mitgeteilt, daß wir um ¾ 5Uhr früh mit dem Zug nach M fahren sollten. Um 3Uhr machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof. Der Zug fuhr nicht und wir mussten wieder nach „Sonneck“ zurückgehen. Um ½ 11Uhr glücklich, nachdem wir 2 Stunden
Sonntag, den 8.April
Gewartet hatten, fuhren wir bei Vollalarm in Richtung Halberstadt. Kurz vor Minsleben sahen wir am Himmel leuchtende riesige Angriffszeichen. Dünne, weiße Streifen ziehen sich vom Himmel zur Erde: Rauchzeichen. Bald darauf hörten und sahen wir die Bomberverbände. Wir mussten uns hinhocken und uns ganz ruhig verhalten. Keiner durfte aus dem Fenster sehen. Nachdem sich die Bomber entfernt hatten, fuhr der Zug langsam in die Bahnstation ein und wir mussten aussteigen und in die Splittergräben unter den Bahngleisen gehen. Nach einer Stunde rief uns der Oberbannführer zu einer Besprechung zusammen. Was sollten wir tun? Entweder konnten wir mit einem Zug fahren, der von Flakgeschützen begleitet worden war oder nach Wernigerode zurückfahren. Noch während des Alarms fuhren wir nach W. zurück, wo wir bis zum nächsten Mittag blieben.
Montag, den 9.April
Es bestand große Unsicherheit darüber, was werden sollte. Der Bann kam keine Nachricht. Da entschloß sich Herr Hinze zu eigenem Handeln. Jede Lehrkraft bekam 4 Schüler zugeteilt und sollte versuchen, mit Mitkraftwagen so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone herauszukommen. Nur das wichtigste Gepäck durfte mitgenommen werden. So ließen wir Bettsäcke, Kisten und Koffer bei „Bruder“ schweren Herzen zurück. Um 3Uhr hielten Herrn Schmidts, Herrn Hornigs und meine Gruppe ein Lastauto an, das uns nach Derenburg bei Halberstadt brachte. Da keine Aussicht war, ein Auto nach ? zu bekommen, mussten wir biss zum nächsten Morgen im kleinen Gasthaus „Zum deutschen Haus“ warten. Durch die NSV erhielten wir warme Suppe und die Gasthofbesitzerin versorgte uns mit Kaffee und Bier. Gegen Abend kamen Trupps von Soldaten rodmüde zu uns um sich von ihrem Marsch von Halberstadt auszuruhen. Sie trugen nur einen Stock bei sich. Sie schliefen auf Stühlen und als die nicht mehr reichten, auf den nackten Fußboden. Die kleine Gaststube war überfüllt. Die Schüler schliefen allmählich auf ihren Stühlen, den Kopf an die Wand gelehnt oder auf den Tisch gelegt, ein. Gegen Abend war Herr Hinze, der mit dem Rad gefahren war, zu uns gestoßen.
Dienstag, den 10.April
Um ½ 6Uhr gelang es Herrn Hinze, ein Auto anzuhalten, das uns nach Dessau über Halberstadt in 2 Stunden brachte. Räumlich hatten wir zwar nicht viel gewonnen, denn noch immer waren wir 50km von M. entfernt, aber wir waren aus der größten Gefahrenzone raus. Halberstadt machte einen trostlosen Eindruck. Die Innenstadt ganz zerstört. Es wurde noch eifrigst gelöscht. Nach Umwegen ließen wir die Stadt hinter uns liegen und nun rasten wir die glatte Landstraße entlang. Vereinzelt waren Panzersperren aufgebaut, die sich beim Vormarsch der Feinde als bedeutungslos erwiesen. In Dessau hatten wir 2 Stunden Aufenthalt. Bei Alarm fuhren wir gegen Mittag ab und kamen endlich um 2Uhr in M. an. Hier ertönten gleich wieder die Sirenen und schleunigst verließ ich mit meinem Schüler Höbel den Bahnhof, um mit ihm den Alarm im Theaterbunker abzuwarten. Der Bunker war übervoll und wir mussten stehen. Die Ansagen ließen uns nicht zur Ruhe kommen. „Anflug auf M.“ setzte uns in äußerste Spannung. Es erfolgte aber kein Angriff und um ½ 4Uhr kam Entwarnung. Ich brachte Höbel zum Bahnhof, da sein Zug 4.10Uhr nach Genthin abfuhr. Die Elektrische brachte mich bis zum Kaiser-Wilhelm-Platz. Von dort aus musste ich mich in „Sommersglut“ mit einem schweren Gepäck bis zur Oststraße schleppen. Müde und hungrig erreichte ich Bettkens Heim . B begrüßte mich herzlich und sorgte gleich rührend für mich. Herr Prof. Buch, Ute Hanewald und Herr Bötiger und Frl. Bauer waren bei B. Herr Buch hatte Geburtstag und B. hatte ein köstliches Geburtstagsmahl hergerichtet. Mit gutem Wein wurde auf Herrn Buchs Gesundheit getrunken. Voller Dankbarkeit erkannte er B-s Güte an. Herr Ahrbeck und Gisela sind bei Frl. Reps in Wilsleben. Ute fuhr am frühen Morgen nach Seehausen.
Mittwoch, den 11.April
Am Vormittag habe ich meinen Koffer gepackt, um am Nachmittag nach Haldensleben zu fahren. Um ½ 5Uhr ging ich mit Herrn Bötiger los. Wir hatten meine Sachen auf einen Wagen gepackt und fuhren die Mittelstraße entlang. Plötzlich rief uns eine Frau, die um die Ecke kam, entgegen „Gehen Sie zurück! F e i n d a l a r m in 5 Minuten.“ Das hieß: Die Feinde kommen in 5 Minuten nach Magdeburg. Sie stehen vor Sudenburg. Als ich das hörte, bekam ich einen Schreck und ließ mich bestimmen umzukehren. Ich hatte nicht den Mut, abzufahren. B. redete mir zu, dennoch M. zu verlassen. Sie sagte: „ Belaste Dich nicht mit soviel Gepäck, nimm wenig und versuche, den Zug zu erreichen.“ Ich ging aber nicht. Tatsächlich ertönte nach einer halben Stunde die Sirene. Das Auf und Ab der Töne erschien mir noch eindringlicher, mahnender, aufreizender als sonst. Der Feind ist da. Das lange Gefürchtete war Wahrheit geworden. Was würden uns die nächsten Tage, die folgenden Stunden bringen? Wir hofften, M. würde zur offenen Stadt erklärt werden. Der Oberbürgermeister Markmann hatte unsere Lage als hoffnungslos erkannt, da wir weder genug Militär noch genug Lebensmittel hatten und wollte M. nicht verteidigen. Auch der Kommandant, der Warschau und Küstrin verteidigt hatte und nun Magdeburg verteidigen sollte, war derselben Ansicht und hatte M. schon vorher verlassen. Markmann wurde abgesetzt. D i e B e l a g e r u n g f i n g a n. Bomber flogen über der Stadt. Tiefflieger schossen in die zerstörten Häuser und ängstigten die Bevölkerung. Gerüchte verbreiteten sich. Die Amis (Amerikaner) die Elbe bei Schönebeck erreicht und schon einen Brückenkopf gebildet. Die Partei verbrannte ihr Haus mit Inventar in der Oststraße und die Leute verbrannten noch am Abend ihre Fahnen!! Auch die Bewohner der Oststraße1.
Donnerstag, den 12.April
Immer noch war ich im Zweifel, ob ich M. verlassen solle oder nicht. Schlimm würde es sicherlich werden. Ein Soldat hatte zu mir gesagt: „Die Hölle erwartet Sie.“ In H. würde es bestimmt weniger gefährlich sein. Auch B. schwankte. Ihrem Mann zu liebe glaubte sie, gehen zu müssen; denn sie hat ihm versprochen, im Ernstfall nach Möser zu ziehen. Andererseits glaubte sie, Herrn Buch und Herrn Bötiger im Stich lassen zu können. Sie kämpfte einen schweren Kampf. Um 2Uhr hieß es: Am Viktoriagarten steht ein Auto, das Werderaner nach Möser fahren will, Frl. Bauer, die überaus nervös war, entschloß sich sofort und -ohne noch zu essen- mit einem ganz kleinen Bündelchen-verließ sie uns. B. und ich standen jetzt vor der entscheidenen Frage. Ich wollte fahren -und nach nochmalige ernsthafter Überlegung rang sich Bt. durch zu dem Entschluß: Ich fahre meinem Mann zu Liebe, um das versprechen zu halten und um ihn nicht zu enttäuschen. Ausgestattet mit Esswaren, bepackt mit einem schweren Rucksack, liefen wir zur Mittelstraße. Als wir hinkamen, war kein Auto mehr zu sehen. Am Abend beim Milch holen trafen wir Frl. Meggie (Fr. Osterroth) und sie erzählte, daß sie mit ihrem Mann und ihrer Hausgemeinschaft beim Anbruch der Dämmerung M. verlassen wollte. An der Elbe wollten sie entlang gehen; denn es hieß, der Feind habe M. bereits umstellt, nur nach Norden zu sei noch ein Weg frei. B. redete mirs, mitzugehen. Ich selbst war unsicher. Nun, ich entschloß mich, die Auswanderung mitzumachen. Schnell holte ich meinen Rucksack und rannte zur Gartenstraße.Als ich ankam, war die Hausgemeinschaft schon längst über alle Berge. Osterroth und ich blieben daheim. Dreimal hatte ich versucht fortzukommen und jedes Mal kam ich zu spät. „Es sollte nicht sein, sagte ich mir.“ Nun versuche ich es noch einmal. Jetzt bleibe ich hier.
Fortsetzung folgt
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Vom frühen Morgen ab heftiger Beschuß. Die Artillerie schoß über unsere Häuser hinweg. Bomber bedrohten uns. Tiefflieger erschreckten uns. Als wir bei Egona standen, flogen sie so tief, daß wir nicht auf der Straße stehen bleiben konnten, sondern nach Hause flüchten mussten. Es war ein unruhige, unangenehmer Tag. Eine Frontzeitung erscheint, vom Faber-Verlag. Magdeb. Ztg. Herausgegeben. 3 Nm. sind erschienen. Es war ein Blatt, einseitig bedruckt.
Sonnabend, den 14.April
Am Vormittag ging ich über die Strombrücke, Fürstenufer entlang zum Friedr.-Wilhelm-Garten um Marken im Haupternährungsamt zu holen. Der Weg war ohne Zwischenfall ruhig. Erst nach Tisch ging die Schießerei wieder los. Der Beschuß war so arg, daß ich zu Hause blieb. Um 9Uhr gingen wir zu Bett. Ich schlafe jetzt unten im Keller im Waschraum in einem Liegesruhl. Mit mir schlafen dort Fr. und Frl. Schneider, Fr. Blick und Fr. Bäumler (geb. Blick). Mein Stuhl hat B. so fein ausgepolstert, daß ich gut und bequem darauf liege. Es ist kalt im Raum und die Luft feucht, aber wenn ich ½ Stunde gelegen habe, gewöhnte ich mich daran und schlafe ruhig mit einem sicheren Gefühl als oben in der Wohnung.
Sonntag, den 15.April
Der Sonntag war ruhig. Ich habe genäht. B. hat gekocht. Es gab gutes Sonntagsessen mit Speisen. Herr Bucvh und ich erkannten es voll an. Am Nachmittag besuchte ich Hennebolds. Fr. H. ist in der Nähe von Haldensleben auf einem Gut (hier kann es sich nur um Gut Detzel handeln *). Sie ist nicht mehr zurückgekommen. Es war mit Herrn H., Helga und Renatchen gemütlich wie immer. Ich musste mit ihnen Kaffee trinken. Meine und Bettk. Rauchkarte habe ich ihm gegeben mit der Bitte, Zigaretten dafür zu besorgen. (Anmerkung zu * Das hier von Fr. Gutsche genannte Gut kann nur das Gut Detzel sein. Es liegt auf halber Strecke zwischen Haldensleben und dem Ort Satuelle links der Überlandstraße. Gegenüber vom Gut Detzel, liegt das Schloß Detzel -R. Schulze-).
Nachtrag zum Freitag, den 13.April
Um ½ 9Uhr ging zur Löperschule zum Wirtschaftsamt, um Marken zu holen. Es war aber kein W.-amt mehr da. Als ich mit einem Polizeibeamten sprach, sagte er: „Es ist eine Schweinerei, daß sie abgezogen sind. Sie hätten ruhig bleiben können. Nun müssen Sie die Lebensmittelkarten im Hauptw.-amt Fr. W. Garten holen.“ Da ich die Zeit hatte, rannte ich zu Hennebolds. Auf dem Wege dorthin kam ich an der Zuckerbuschkaserne vorbei und sah, wie die Vorratsräume geplündert wurden. Jeder konnte sich holen soviel er wollte. Ich kam zwar schon spät, erhielt aber dennoch feine Sachen: 3 Pfannen, 1kl. Besen, 1 Kartoffelquetsche und 12 prachtvolle, ganz neue Bücher (z.B. Rembrandt; v. Naso; Seydlitz; Burkardt; Renaissance in Italien; Meyer’s kl. Konversationslexikon; Lagerlöf; Gösta Berling usw.). Ich brachte die Sachen zu H. und erfuhr, daß Fr. H. nicht da war. Herr H. begrüßte mich, munter und frisch. Auf dem Rückweg ging ich noch mal zur Kaserne und eroberte fast unter Lebensgefahr mehrere rotbraune, blaue und grüne Pullover aus Baumwolle. Geschlagen und beschimpft haben sich die Leute ganz fürchterlich. Es herrschte eine völlige Kopflosigkeit. Jeder räuberte soviel er konnte. Seit 4Uhr früh war die Kaserne vogelfrei. Ganze Säcke Zucker, Schinkenseiten, riesige Käse, Pelzmäntel, Autobedarfsartikel, Ledertaschen, bergeweise Pfannen, Krüge, Papier und Bücher wurden verschleudert. Kein Licht und kein Wasser mehr.
Montag, den 16.April
Die Strombrücke ist zusammengebrochen als ein Gefährt darüberfuhr. Die Insassen stürzten in die Elbe. Der Kutscher mit dem Vorderteil des Wagens hing an der Brücke. Um 11Uhr machten B. und ich uns auf, um von der Viktoriaschule unser Gehalt abzuholen. Da wir erst in der Gustav-Adolf-Straße Öl kauften und das erst zurückbringen mussten, kamen wir erst so spät fort, denn über Mittag ist es immer am gefährlichsten. Wir ginge die Jakobstraße lang und dann über den Alten markt. Als wir um die Ecke zum Breitenweg biegen wollten, hörten wir ein nahes Zischen „Eine Granate“ durchfuhr es mich und ich hockte mich auf die Straße, angelehnt an einen Trümmerhaufen, mit dem Blick auf Lemke und Klavehn. Meine Augen blieben gebannt an einem Fenster haften. Die Granate fuhr hinein und wirbelte eine riesige Staubwolke auf. Der Nebel verhüllte Haus, Straße, Kirchturm. Wir sprangen auf und eilten weiter den Breitenweg runter. Als wir endlich die Viktoriaschule erreicht hatten, wurde uns gesagt, daß kein Geld mehr ausgezahlt würde, da die Herren die Schule schon verlassen hätten, denn vor ½ Stunde waren rings um die Schule 5 Bomben eingeschlagen. Wir sahen noch die Splitter von Türen und Fenstern auf den Korridoren. Enttäuscht kehrten wir -ohne Zwischenfall- zur Oststraße zurück. Nach dem Essen um 4Uhr trieben uns die Kanonenschüsse in den Keller. In der Mittelstraße wurden Häuser getroffen und bis spät in die Nacht hinein loderten die hellen Flammen zum Himmel empor. Ein schauerlich schönes Bild. Ute kehrte nach eine 5tätigen Reise heim. Die Nacht war verhältnismäßig ruhig. An den Kommandanten von Magdeburg war ein Ultimatum gestellt worden, von dem wir am Dienstagmorgen noch nichts wussten. Er lehnte es ab, die weiße Fahne zu hissen und so erfolgte die unheimliche Kanonade, die schlimmste während der ganzen Belagerung.
Dienstag, den 17.April
Die Sonne schien so heiß wie im Hochsommer auf die staubig, verstörte Stadt nieder. B. und ich machten uns um ½ 9Uhr auf den Weg. Unser Heimweg verlief ohne Zwischenfall. Wir gingen zum Fried. Wilh. Garten, da die Beamten in der Viktoriaschule noch nicht da waren. Aber auch auf dem Wirtschaftsamt war noch kein Betrieb. Die Dame mit dem Schlüssel war nicht erschienen. Mit uns warteten mehrere Menschen, die wie wir auch schon 2 u.3x dagewesen waren. Wir waren ärgerlich. Da schlug B. vor, den Schlüssel zu holen. Der Vorschlag wurde angenommen und nun ging ein Polizeibeamter zu der betreffenden Dame. Nach einer Stunde kam sie tatsächlich u. wir erhielten unsere Marken. Nun eilten wir zur Viktoriaschule. Das Schießen hatte schon begonnen. Wir kamen gerade noch rechtzeitig in der Schule an um Schutz zu finden vor den Bomben, die nun rings um uns herum nieder rauschten. Wir saßen im nicht mehr zu erleuchtenden Keller, als wir erschüttert wurden. Das Fenster klirrte und die Glassplitter wurden in unseren Raum hineingestreut. Am Geldauszahlen war nicht zu denken. Wieder hieß es, die Herren seien wegen des Beschusses weggegangen. Zu uns gesellte sich Frau Bäumler. Gemeinsam warteten wir in Spannung bis der Beschuß nicht mehr in unserer unmittelbaren Nähe war. Zu unserer Überraschung kehrte der maßgebende Herr zurück u. nun wurde im Kellerraum das Geld ausgezahlt. Ich erhielt mein Gehalt für die Monate Mai, Juni, Juli mit dem bescheid, das ich vorübergehend beurlaubt sei. Man händigte mir auf den Tisch in bar 1290RM aus. Nun machten wir uns eilig auf den Nachhauseweg, denn es war spät geworden u. gegen Mittag, das wussten wir aus Erfahrung, trommelten die Amis immer am meisten. Und tatsächlich gerieten wir 3 in das stärkste Bombardement, das während der ganzen Belagerung ausgeführt wurde. Fr. Bäumler zu gefallen gingen wir zunächst zurück zur Sternstraße. Und hier fing es an. Flieger brummten über uns u. wir suchten Deckung im Schuppen der Eberh. Villa. Während Frau B. und ich den Beschuß abwarten wollten, trieb B. zum Vorwärtsgehen. Wir liefen mehr als wir gingen, die Sternstraße bis zum Hasselbachplatz hinunter und dann den Breitenweg. Seit dem Morgen waren Bomben in die schon zerstörten Häuser gefallen u. neuer Schutt, frische Trümmerhaufen verhinderten uns an einem ganz schnellen Vorwärtsgehen. Beim Dom angekommen, sausten die Bomber so tief und dicht über uns weg, daß wir Deckung suchen mussten in dem Torweg von Kaffee Körner. B. deängte stark u. so rannten wir wieder weiter, B. immer 20 Schritte voran. Geschossen wurde die ganze Zeit. Ununterbrochen brausten 4motorige Bomber über uns hinweg. Bomben fielen und platzten, das Gemäuer krachte. Granaten zischten und schlugen ein. MG-Schüsse knallten und ließen die Luft erbeben. Als ich in der Höhe vom Schlosskaffee war, rauschten Bomber-2 Pulks, 12 Stück- so dicht über mir, daß ich abermals Schutz suchte. Ich hockte aan der Seite von Schlosskaffee, die an der kl. Gasse liegt. Mein Atem stockte; ich sah nach oben, ungeheuer gespannt die Bomber verfolgend mit den Augen, mit den Lippen sprechend: „Der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten und ihnen aus.“ Der Spruch, den Mutti und ich schon einmal während eines Angriffs, bei dem Mutti oben im Krankenbett geblieben war u. ich neben ihr lag, gebetet hatten, mitten im 2. Spruch: „Der Herr hat seinen Engeln befohlen über dir…“ sah ich ein Schauspiel, das mich verstummen ließ. Östlich der Ulrichstürme sausten aus den Bombern, die geordnet in 6 Flugzeugen flogen, die losgelösten Bomben schräg auf die Stadt hernieder. Eine, zwei, drei, vier und dann hörte ich auf mit Zählen. Über dem grässlichen Erleben vergaß ich alle Angst. Das hast du vor Jahren im Film gesehen, als uns die Zerstörung von Warschau gezeigt wurde u. jetzt hagelt es Verderben über M. Haushohe Rauchwolken stiegen in den Himmel. Es hatte gezündet. Brandbomber! Hinter uns- zur Wilhelmstadt zu ungeheure Qualmentwicklungen von gewaltigen Bränden. Während einer kleinen Pause sprang ich rüber zu Steigerwald u. wartete wieder ein paar Schüsse ab. B. wollte auf keinen Fall warten u. so lief ich denn hinter ihr u. fr. B. her, bis wir zur Jakobstraße kurz vor der Jakobskirche anlangten. Von neuem jagten die Bomber hinter uns her. Unglaublich tief erschienen sie mir. Ich warf mich ohne jeglichen Schutz an einen niedrigen Trümmerhaufen, kauerte in Staub und harrte in atemloser Erregung. Heftiger als auf dem Breitenweg klopfte mein Herz. Von B. und Fr. B sah ich nichts. Ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit packte mich in dieser Steinöde bei Mittagsglut. „Wenn ich jetzt erschlagen werde, so laß mich zu meiner Mutter kommen, lieber Gott, Vater unser…“ Die Gedanken überfielen mich schneller als ich schreiben kann. Beten tat ich stumm. Diesmal wagte ich nicht aufzublicken, die Granaten schienen so unheimlich nah einzuschlagen. Und tatsächlich schlug eine 50 Schritt vor mir ein u. entwickelte so gewaltige braunrot gefärbte Staubwolken, daß sich eine dichte Nebelwand vor uns erhob. Ziegelsteine und Mörtel schlugen krachend auf die Straße. Als ich mich erhob, sah ich B. in einiger Entfernung noch am Boden liegen. „Bettken“ rief ich von heftiger Angst gepackt. Sollte etwa der Steinschlag? Erleichtert atmete ich auf, als sie sich aufrichtete. „Gott sei Dank, sie lebt“ dachte ich. Durch die allmählich aufsteigende Staubwand rannten wir nun zum Jakobibunker. Ich war glühend heiß, atemlos und zuerst völlig blind, da es im Bunker finster war. Die Aufsichtführende Frau schickte uns in den Bunker hinein, in dem Tausende v. Menschen in kleinen, von Kerzen erleuchteten Kabinen rechts u. links von einem langen Gang saßen und standen. Unfreundlich wurden wir aufgenommen. „Bloß so schnell wie möglich hier wieder raus“ dachten wir. Aber es verging wohl ½ Stunde, ehe man uns auf eigene Gefahr gehen ließ. Die Augustaschule war wiederum getroffen worden u. die Leute des Elektrizitätswerkes waren z.T. verwundet. Soldaten und Sanitäter wurden nach ihnen ausgeschickt. Unsere Unruhe steigerte sich immer mehr, besonders hatte B. den dringenden Wunsch, nach hause zu kommen. So v erließen wir den Bunker u. rannten in der Mittagshitze weiter zur Hindenburgbrücke. Hier kamen wir nicht weiter, denn wieder jagten die 5motorigen über unsere Köpfe hinweg. Würden sie uns treffen? Es half nichts, wir mussten schleunigst links der Brücke die Steinstufen zur Elbe runterstolpern, um in dem Brückenbunker Schutz zu suchen. Dunkelheit umfing uns. Tappend erreichte ich eine Pritsche und fiel erschöpft nieder, aber doch erleichtert, denn die Brücke stand noch. Wir können noch rüber. Wir waren noch nicht abgeschnitten. Ein Dutzend Soldaten lagen od. saßen od. standen gebückt indem Verließ. Geredet wurde nicht. Es vergingen wieder 30 Min. Ein Soldat erhielt die Meldung: Aufstehen, du hast jetzt Wache. Ein junges Kerlchen erhob sich gähnend von seinem harten Lager, schnallte sich die Koppel um und ging hinauf. Ich begleitete ihn mit dem Wunsche, daß ihm nichts passieren möge. Uns hielt es nicht mehr. Wieder „auf eigene Verantwortung“ setzten wir uns in Marschtempo u. eilten über die Brücke. Das Geschieße, Gebrumme, Gezische hatte noch immer nicht nachgelassen. Immer noch wurden wir gehetzt. B. rannte jetzt durch bis zur Oststraße. Fr. Bäumler und ich flüchteten hinter der Brücke in einen Splittergraben vor einer Villa in der Markgrafenstraße und machten zum letzten Mal Station im Ackermannschen haus, um dann hochrot und heiß im Keller der Oststraße 1 zu landen. Waren wir froh! Wir waren die letzten der Hausgemeinschaft. B. brachte mir gleich einen Teller Suppe u. dann saßen wir still im dunklen Keller. Ein wahres Ein wahres Getrommele, Geprassele, Geknattere von Bombern und Tieffliegern ging los. Über uns zischten die Artilleriegeschosse u. schlugen nach kurzer Zeit dumpftönend in der Ferne auf. Ein Höllenlärm. So musste es an der Front sein. Unser Haus erzitterte und bebte. Nach 2 Stunden ließ das Trommelfeuer endlich nach, nur der Artilleriebeschuß dauerte bis zum Abend an, da hinter den Kasernen uns gegenüber unsere Artillerie stand. Die Brücken waren noch nicht getroffen worden. Während der Nacht gab es unheimliche Detonationen. Der Lärm lebte wieder auf. Das Knallen, Donnern, Zischen nahm erst gegen Morgen ein Ende.
Fortsetzung folgt
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Beim Erwachen und Raufkommen in die Wohnung sahen wir, was die Amis angerichtet hatten. Die Mittel- und Zollstraße waren schwer mitgenommen worden. Große Brände wüteten noch bis in den Tag hinein. Noch ein Leid hatte uns getroffen. Um 2Uhr nachts fand B. den 79jährigen Prof. Buch tot in seinem Bett liegen. Mit der Pistole, die neben ihm lag, hatte er sich in den Mund geschossen. Noch um Mitternacht erkundigte er sich im Keller, ob wir unten wären. Er soll öfters mit B. über Selbstmord gesprochen haben und einen tag vorher hat er sich mit Herrn Mejer lange über das Thema unterhalten. Die Ursache seines Todes wird sein, daß er niemanden zur Last fallen wollte. Um ½ 9Uhr bei Egoma angestanden nach Graupen, Zucker, Keks, Streichhölzer, Schuhcreme, Salz. Keine Tiefflieger vertrieben uns. Nur die Artillerie schoß. Gegen 1Uhr wurde hier auf dem Werder der Volkssturm aufgelöst. Alle Männer mussten die Armbinde abtun. So wurde ihnen u.a. gesagt: „Sie sind nie eingesetzt gewesen, um das Vaterland mit der Waffe zu verteidigen.“ Alle zogen sofort Zivilkleidung an. Die Amis sollen durch die Kölnerstraße zum Breitenweg u. von dort aus dem Skageraplatz vorgedrungen sein. Am Abend riesiger Brand in der Badestraße. Wir haben einen Schuppen mit Öl- und Haferflockenvorräte usw. angezündet, damit die Amis nichts nehmen können. In der Nacht wieder starker Artilleriebeschuß. Die Hindenburgbrücke gesprengt. Der Bogen ist in der Mitte zerbrochen. Nun sind wir vom Westufer abgeschnitten.
Donnerstag, den 19.April
Früh um 6Uhr aufgestanden. Traf im garten einen Soldaten aus der Genesungskompanie. Er hatte augenscheinlich keine Lust mehr zu kämpfen. Wollte zu den Kameraden im Mestschen Bunker. -Jeder erhielt 5 Pfund Zucker- Eine Abordnung vom Werder ist zu den Feinden zur Verhandlung gegangen um 12Uhr. Unter ihr befand sich Herr Rechtsanwalt Ackermann. Um 5Uhr war noch niemand zurück. Wir waren unglaublich gespannt auf das, was werden würde. Geschossen wurde die ganze Zeit. Es gab Tote und wieder brannten Häuser in der Zoll- und Mittelstraße. Herrlichstes Frühlingswetter. Die Obstbäume stehen in voller Blüte. Gegen Mittag überflogen den Werder Hunderte von Bombern. Ihr Ziel war Berlin. Es war ein einzigartiger fast überwältigender Anblick. Diese in schöner Ordnung gruppenweise fliegenden silbernen Flugzeuge am klaren blauen Himmel. Wären das unsere gewesen, wie stolz hätten wir dann sein können! Das Essen erhielten wir heute von der Allgemeinverpflegung. Graupensuppe. Die Partei ist aufgelöst. Sie hat ihr eigenes haus mit allem, was drin war, niedergebrannt! Keine Polizei ist mehr hier. Die Wehrmacht -es sollen an die 40 Mann gewesen sein- ist abgerückt. Die weiße Fahne ist auf dem kl. Werder gehisst worden. Die Amis scheinen sie aber nicht zu beachten. Es wird immer noch geschossen. Wir schlafen schon seit einer Woche im Keller in der Waschküche, Fr. u. Frl. Schneider, Frau Blick, Frl. Blick (Fr. Bäumler) und ich. Licht und Wasser haben wir seit einer Woche nicht mehr. Wir holen Wasser von der Pumpe oder aus der Elbe. Am Abend unheimliches Trommelfeuer. Sollten es etwa schon Straßenkämpfe sein?
Freitag, den 20.April
Die Nacht war ruhig, aber gegen 5Uhr früh fing heftiges Artilleriefeuer an. Sie sind nicht mehr rechtzeitig vor der Brückensprengen hinübergekommen. Wir sind froh, daß wir es am Dienstag geschafft haben. Bis zum Schluß dieser Kartenperiode läuft alles so weiter wie es war. Danach soll die Leitung in die Hände der Wehrmacht gehen. Vorsitzender des Komitees ist Herr Bauermeister. Herr Gräbner gehört auch dazu. Die Amis sind auf dem Knochenhauerufer-Petriförder. Sie sollen das Ufer sogar stark besetzt halten u. beobachten den Werder aufs genaueste, um jede Verstärkung zu verhindern. Es ist vorgekommen, daß ein neugieriger Mann aus der Dachluke in der Gartenstraße guckte u. sofort das Feuer sich auf ihn richtete. Ihn traf die Granate nicht, aber ein junges Mädchen, das sich gerade in der Wasserstraße aufhielt. Auch beim Wasser holen werden die Leute beschossen. Die Schwester vom Tischlermeister Kirchner hat Selbstmord verübt. Sie und die Getroffene liegen im garten vom Schifferheim begraben.
Sonntag, den 22.April
Sehr ruhiger Rag. Alle Stunden einmal ein Artillerieschuß über uns hinweg, der uns auch gar nicht beunruhigte. Keine Fliegertätigkeit. Nasskaltes, unfreundliches Wetter. Den lieben langen Tag regnete es, wir aber saßen gemütlich an der Seite des wärmenden Ofens. Ich nähte. Ute las und B. drehte Bonbons. Wir haben von Lösche, der abgebrannt ist, aus großrn Fässern Zuckersirup in Eimern geholt. Daraus machte B. die köstlichen Frucht,-Kaffee- u …..bonbos, um damit, wie sie sagt, später ihre Liebe zu erfreuen. Friedensessen: Schweinebraten, Mohrrüben, Kartoffeln und hinterher eine delikate Rhabarberspeise mit falscher Schlagsahne. Um ½ 9Uhr kam Azzalinos auf 1 Stunde. Wir sind völlig nachrichtenlos. Ein unangenehmer Zustand.
Montag, den 23.April
Sehr ruhige Nacht. Gar kein Beschuß. Um 7Uhr 1 Schuß. B. zur Ärztin, Frl. Struve wegen ihres Ausschlages. Frl Str. ist außer 1 Zahnarzt Herrn Büringar, die einzige Ärztin. Sie ist zufällig beim Feindalarm hier gewesen u. nicht zurückgekommen. Keine Instrumente, keine Medikamente. Die Verwundeten müssen in der Nacht auf einem Boot rüber zum Margarethenhof gebracht werden. Ich habe geschrieben u. gelesen. Um 5Uhr kamen Azzalinos. Um 7Uhr setzte eine ungeheure Beschießung ein. Granatwerfer flogen(feuerten) und die Artillerie beschoß die Kasernen, es war, als rollten die Schüsse an unserem Haus die Lingnerstraße entlang. Die Erschütterung war stark. Eins unser Fenster zersplitterte in 1000 Scherben. Es ist sehr gefährlich auf die Lingnerstraße zu gehen. Auch die Kahnstraße liegt unter Beschuß. Als ein junges Mädchen aus ihrem Zimmer einen Koffer holen wollte, traf sie ein Granatsplitter. In der Nacht erlag sie der Wunde. Die Beschießung dauerte 2 Stunden lang. Um 11Uhr nachts fuhren Egbert Meyer (17 Jahre) und einige Kameraden mit einem Boot nach Friedrichstadt, um Nahrungsmittel zu holen. Gegen 1Uhr kamen sie zurück. Sie haben strengstes Schweigeverbot. Jede Nacht werden jetzt Sachen für uns geholt. Die Nacht war ganz ruhig.
Dienstag, den 24.April
Sehr ruhiger Tag. Nur die Artillerie schießen, das uns wenig stört. Sehr gutes und reichliches Essen. Schmarren mit Kartoffelsalat, Heringssalat, Bratkartoffeln, Bohnengemüse. Gute Suppen.
Mittwoch den 25.April
Gerücht: Die Amis hätten die Beziehungen zu Russland abgebrochen. Pappen und Ribbentrop seien in London (stellte sich heraus, daß es ein falsches Gerücht war). Besuch bei Fr. Hopstock. Schneiders ziehen nach Oststraße 5. Azzalinos beziehen mein Zimmer bei Bindemanns wegen des gefährlichen Beschusses in der Mittelstraße/Ecke Lingnerstzraße. Auf Ehrenwort verspricht mir Herr A., mir mein Zimmer zurückzugeben. Die Männer waren auf der Straße gewesen.
Donnerstag, den 26.April
Zum Fleischholen angestanden. Gelesen. Reine gemacht. Ruhiger Vormittag. Beim Mittagessen Giselas gemacht. Apfelsaft getrunken. Von 3Uhr ab ständiges schießen. Am unangenehmsten war das schießen mit MGs, Pistolen: Es hörte sich an wie ein scharfer, schneidender Peitschenhieb. Es ist uns wieder, als schossen die Amis die Lingnerstraße entlang. 5Uhr, das Schießen ist immer heftiger, aufreizender geworden. Ganz nah ertönt das Geknatter. Da -eine Brandgranate hat gezündet. Der Schuppen gegenüber von der Werder-Drogerie brennt. Noch einmal knallt es. Den 2 Schuppen hat es auch erfaßt. Ich stehe am Balkonfenster u. beobachte wie sich zuerst kleine Qualmwölkchen durch das dach zwängen, dann winzige Flammen aufzüngeln. Sie fressen aber schnell die Dachpappe und wenn sie einmal Luft bekommen haben, schlagen sie bald hoch auf. Der Ostwind wirbelt sie in die Höhe, Funken sprühen und übersäen das Nachbardach. Beängstigend nahe kommen sie dem Eckhaus. Eine Stunde vergeht. Die Schuppen zu retten ist unmöglich. Die Dachpappe in ihnen bietet bestes Futter für das Feuer. Auch Futtermittel und Haferflocken brennen. Lichterloh, haushoch steigen jetzt die Flammen u. greifen tatsächlich über zur Lingnerstraße zum Eckhaus. Der Dachstuhl brennt! Mächtige, dunkelschwarze Rauchwolken trüben den Himmel. Azzalinos letzte Habe liegen unten im Keller. Wir laufen hinein und retten die Sachen. Die übrigen Hausbewohner tragen ebenfalls alles, was tragbar ist, heraus. Der Brand hat solche Gestalt angenommen, daß Fr. Meyer um unser haus besorgt ist. Wir tragen daher Wasser aus der Elbe auf den Boden und in die Stockwerke. Die Badewanne, Eimer, Töpfe u. Krüge werden gefüllt. Bettken u, Frl. Schneider helfen bergen. Die Lingnerstraße entlang zu gehen war nun äußerst gefährlich. Die Amis hatten jetzt, da die Schuppen beseitigt waren, einen freien Durchblick bis zu den Kasernen. Die Soldaten in den Splittergräben müssen sich in Acht nehmen. Nachdem wir schnell Abendbrot gegessen hatten, gingen wir wieder auf die Straße. Wir blieben auf der Oststraße. Herr und Fr. Dörpmann und Schneiders aber gingen in die Gartenstraße, um noch zu helfen beim Löschen. Es standen wohl ein Dutzend Menschen bei der Pumpe neben Schellers Haus. Da- ein Aufschlagen einer Granate auf den Fahrweg. Splitter wurden herumgestreut u. Menschen wurden verletzt, Blut floß, ein Mann fiel -getroffen von einem Splitter an der Schläfe und einem im Rücken- tot auf die Steine. Fr. Dörpmann eilte aus dem zu löschenden Haus u. hörte rufen: Hier liegt ein Toter“. Eine Stimme in ihr sagte: „Das ist mein Mann“ Sie kniete bei ihm nieder u. jemand flüsterte: -Es ist Herr Dörpmann-. Auf einer Trage trug man ihn in eine Villa in der Oststraße. Wir waren tiefst erschüttert. Diese Nacht schliefen wir nur wenig; denn die Gefahr, daß unser Haus von dem Feuer ergriffen werden konnte, war noch nicht vorüber. Die Männer haben bis 2Uhr gelöscht. Nun konnten wir uns schlafen legen. Todmüde schlief ich endlich ein. Es wurde nicht mehr geschossen.
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Nach dem Kaffeetrinken holte Herr Bötiger Bettken und mich ab, um beim löschen zu helfen. Bis ½ 1Uhr arbeiteten Herr B., Herr Dr. Düringer und B. unermüdlich. Wasser schleppten Frauen und ich und doch gelang es nicht, die Wohnung von Fr. Hennige zu retten. Die Küche brannte lichterloh auf. Die Wassereimer waren schwer. Jedesmal musste ich über 2 Blutlachen gehen, die vom gestrigen Abend, an dem Herr Dörpmann getroffen wurde, herrührte. Eine Frau bemühte sich lange vergebens, sie mit Wasser und Scheuerbürste zu beseitigen. Auf dem engen Hof sah es wüst aus. Kleiderstücke, Möbel, Esswaren, Malergeräte, Betten, alles lag übereinander und durcheinander. 2 Frauen brauten heißen Kaffee, eine andere wechselte ihre Strümpfe und wieder eine andere saß in sich versunken, rußgeschwärzt mit dem Stahlhelm auf dem Kopf in einer Ecke und stierte vor sich hin. „Ich kann nicht mehr“ sagte sie mir, ich habe die ganze Nacht über gelöscht und alles umsonst. Auch B. gab das Löschen schließlich auf. Die war völlig erschöpft. Um ½ 7 unheimliches Artillerieschießen und Pistolengeknalle. Um 11Uhr wieder tolles Schießen auf der Elbe. Unsere guten Leute, die das Essen holen, sind angeschossen worden. Herr Türck liegt an einer Fleischwunde danieder.
Sonnabend, den 28.April
Zunächst ein ruhiger Vormittag. Ich las „Der große Regen“ von Louis Bromfield, Propyläen-Verlag Berlin. Der Original engl Titel ist: The Rains come. Sehr spannend. Spielt in Britisch-Indien. Plötzlich höre ich laute Hilferufe vom gegenüberliegenden Ufer, die bald wieder verstummen. Ein Mann sagt mir, daß ein junges Mädchen beim Wasserholen, getroffen ist, jedes im Garten sein ist mit Lebensgefahr verbunden. Zu Mittag gab es Kartoffel und Öl und Zwiebeln. Gegen 3Uhr fing wieder ein wildes Geschieße an. Es war, als würde die Lingnerstraße entlang geschossen. Helle, knallende Pistolenschüsse. Wir laufen dann gewöhnlich in den Korridor, der, der sicherste Platz vor Splittern ist. Gegen Abend war ich bei Fr. Dörpmann, der ich Tulpen für ihres Mannes Grab brachte. Die Nacht im Keller war bis auf eine Salve um 12Uhr ruhig.Eine entsetzliche Nachricht erreichte uns. Herr Rechtsanwalt Ackermann soll wegen Feigheit hzum Tode durch den Strang verurteilt sein. Er wollte seine Familie in Sicherheit bringen u. kehrte nicht zurück. Am Morgen sollte seine Villa in die Luft gesprengt werden. Herr Bore hat es verhindert, weil er sagte, daß das Haus nicht Eigentum von Herrn A. sei. Nun hat man es aufgebrochen und Ausgebombte werden dort untergebracht.
Sonntag, den 29.April
Um 6Uhr aufgestanden. Um 8Uhr gingen wir zu Herrn Dörpmanns Beerdigung. Alle Hausbewohner nahmen daran teil. Im Garten des Schifferheimes sind schon 8 Gräber. Alle diejenigen, die ihr Leben den feindlichen Beschuß verloren haben, liegen hier begraben. Ein Herr Model sprach ein paar Worte am Grabe, unchristlich und ohne Tiefe, unmöglich der Frau u. Hansi Trost zu spenden. Fr. D. war sehr gefasst. Gelesen, geschrieben. Immer wieder aufgeschreckt durch grässliches Geknalle. Große Sehnsucht nach Mutti. Am späten Nachmittag kamen Azzalinos. Bettken drehte Bonbons. In der Nacht zwischen 12 uns ½ 3 erschreckten uns 3 ungeheuer schwere Detonationen. Unser haus erbebte in allen Fugen. Wir zündeten Kerzen an und lauschten. Es erfolgte aber nichts. Nur hörte ich nach einer Weile Männer an unserem Fenster vorübergehen, denn es war durch den gewaltigen Luftdruck aufgesprungen. Was bedeutete das alles? Kamen die Amis? Wir erwarteten sie mit Ungeduld.
Montag, den 30.April
Um ½ 6 aufgestanden. Sonnenaufgang vom Fenster aus erlebt. Der bewegte Fluß und die hohen knospenden Kastanien sind meine ganze Freude. Um 8Uhr brach Herr Bötiger die Nachricht, daß das Militär Hals über Kopf abgezogen sei. Große Munitionsmengen waren liegen geblieben. Außerdem hatten die Soldaten Mäntel, Esswaren, ja sogar gepackte und ungepackte Affen zurückgelassen. Herr B. bekam einen gepackte Affen, 1 Paar Stiefel und 1 Handtuch. In der Nacht soll ein Teil Munition in die Luft gesprengt worden war. Gegen 1Uhr hörte man es wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund sagen „Die Amis setzen über!“ Die Bevölkerung soll sich in kellern aufhalten. Die Läden wurden geschlossen. Ich bekam noch gerade meine sachen aus der drogerie, die ausverkaufte. Um 1Uhr setzte lautes Geschieße ein. Wie Peitschenhiebe knallte es. MG-Geschosse knatterten. Waren die Amis endlich auf dem Werder? Ach, nein, noch nicht. Es wurde 2Uhr, daß Schießen hörte auf. Es wurde 4Uhr, wir wussten noch nichts Näheres. Es wurde 6; 8; 10Uhr, kein Ami ließ sich blicken. Wir hatten umsonst gewartet. Eine Dame aus dem Ida Lücke-Heim war Fr. Hopstock um den hals gefallen vor Freude, daß die Amis kommen wollten. Wir haben alle eine geheime Angst vor den Russen. Wenn schon Besatzung kommen muß, dann von den Amis oder Engländern. Beim Wasserholen, auf den Straßen, in den Geschäften, überall wird die Stimme laut. Ist es nicht ein Wahnsinn? Kann denn die weiße Flagge noch nicht gehisst werden? Sollen wir denn alle umkommen? Aber da das Militär d.h. der Volkssturm so überstürzt abgezogen ist, weiß hier auf dem Werder niemand, wer zu sagen, wer anzuordnen hat. Bis jetzt will keiner die Verantwortung übernehmen. Das Munitionslager in der Lingnerstraße will man dem Feind als ganzes übergeben. Die Tage sind kalt. B. muß noch heizen. Es zieht, da fast alle Türen nicht fest schließen u. die Fenster entzwei sind. Heute Nacht habe ich zum 1 Mal wieder oben im Zimmer geschlafen, aber ich blieb voll angezogen. In Abständen wurde geschossen. Tapfere Männer fahren nachts mit dem Kahn zur Friedrichstadt, um Nahrungsmittel zu holen. Die Boote werden unter Beschuß genommen. Es hat 2 Tote gegeben. Mir Nahrungsmitteln werden wir gut versorgt. In den letzten Tagen haben wir 5Pfd. Zucker, Hafermehl, Graupen. 60gr. Fleisch pro Person, Fleischkonserven, Brot, Öl, Waschpulver, Streichhölzer. Alles gibt es, ohne Geld dafür zu bezahlen.
Frtsetzung folgt
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Der Morgen verlief ruhig, aber unsere Unruhe bleibt; denn wir wissen gar nicht, was unsere Kriegsführung bezweckt. Ich habe den ganzen Morgen geschrieben. B. Bonbons gemacht. Ute gelesen. Von ½ 3 ab sehr heftiger Artilleriebeschuß, den wir nicht erklären können, da doch kein Volkssturm mehr hier ist. Am Nachmittag besucht Frl. Liebing Bett. aus Friedrichstadt u. erzählt (nach Radiomitteilung). Die Amis haben die Beziehungen zu Russland nicht abgebrochen. Wir haben den Westmächten bedingungslosen Waffenstillstand angeboten, der aber nicht angenommen ist. Die Russen seien schon in Charlottenburg. Drüben im Westen sind die Männer von 15 bis 6o Jahren in Lager gebracht; tagsüber, aber können sie ihrer Beschäftigung nachgehen. Gegen Abend erneuter heftiger Beschuß. Wir sollen noch am Umflutkanal Militär haben, das auf die Amis beim Übersetzversuch beschießen könnte. Da die Amis keine Menschen unnütz opfern, kommen sie nicht zu uns rüber. Ich schlafe wieder im Keller.
Mittwoch, den 2.Mai
In Hubbes Lagerhaus auf dem Kl. Werder liegen kostbare Güter. Wir alle machen uns auf den Weg, um zu „organisieren“. Nicht ohne Gefahr ist der Gang. Gestern hat es 4 Tote und Schwerverletzte gegeben, da die Zollbrücke von den Amis beschossen wird. Wir wagen es aber dennoch. Bewaffnet mit Rucksäcken und Taschen schlichen wir zunächst an die Elbe auf dem Anglerweg entlang. In der Mittelstraße müssen wir über Trümmer u. Schutt laufen, bis wir zur Zollbrücke gelangen. Einzeln in größeren Abständen gehen wir ein wenig geduckt über die angeschossene Brücke u. lenken rechts beim Fliederbusch ein. Das Schwerste wäre überstanden. Nun tasten wir uns ein halbes Dutzend Stufen hinunter in den dunklen riesig großen Keller des Lagers. 2 Ausländer weisen uns den Weg. Wir stecken eine Kerze an, um lesen zu können, was auf den Konservenbüchsen steht; denn es sind Konservenbüchsen, die wir einheimsen. 150 Stück Bohnen, Erbsen und Haushaltsmischung bergen wir gegen Mittag in den Vorratsschränken. Der Gang hatte sich gelohnt. Aber außer Büchsen gab es noch Öl. Die 2 großen Ölbehälter waren angezapft worden. Und so holten wir nach und nach mehrere Eimer voll. Um ½ 6 setzte ein wahres Trommelfeuer von MG-Beschuß ein. Die Amis beschossen die Zollbrücke. Renatchen Hennebold musste 1 Stunde lang unter der Brücke in Deckung gehen. Frl. Liebing bringt die ungeheuerliche Nachricht vom Tode Hitlers. Wie und wo er ums Leben gekommen ist. Weiß niemand. Seine Leiche ist noch nicht gefunden worden. Göbbels soll einen Bauchschuß erhalten haben und Göring soll abgesetzt sein. Was wird nun werden? Wird endlich der Waffenstillstand ausgerufen werden.? Die weiße Fahne zu hissen hat niemand den Mut. Wir haben schreckliche Angst, die Russen könnten vor den Amis hierher kommen. Und die frage wir immer brennender: Sollen wir dann fliehen? Bett. ist in großer Sorge, denn dann wäre ihr Mann bei den Engländern und sie bei den Russen. Ein Zusammenkommen wird dadurch unglaublich erschwert. Wir sind tief niedergeschlagen. Die Nacht war völlig ruhig. Wir haben alle oben geschlafen.
Donnerstag, den 3.Mai
Die weißen fahnen sind gehisst auf öffentlichen Gebäuden. Auf Hubbes Haus ist eine angebracht. Auf der Zollstraße sind 2. Aus einigen Häusern hängen an Hitlerfahnenstangen jetzt weiße Tücher. Ein altes Mütterchen am Brunnen strahlte,als es sagte: „Das war eine schöne Nacht ohne Beschuß. Wir haben oben geschlafen.“ Jeder sehnt sich nach Ruhe. Aber noch immer weiß niemand was wird. Herr Hubbe soll mit den Amis verhandeln. Es ist so quälend, nicht zu wissen, ob wir amerikanisch oder russisch werden. Den Amis scheint nichts an uns zu liegen. Sie rühren sich nicht. 6motorige Bomber fliegen noch über uns hinweg. Sie halten uns in Atem und Spannung, wir werden unseres Lebens nicht froh und sind sicher niedergeschlagen. Die Friedrichstädter wollen die Amis durch Lautsprecher als Schutz holen. Früh um 9Uhr ging ich noch mal zu Hubbes, um Mohn für Hennebolds zu holen. Da es nicht schoß, ging ich zum 1x seit dem Beschuß über die Lange Brücke nach Krakau. Weiße Fahnen wehten aus vielen Häusern und reges Leben herrschte auf den Straßen. H. waren zu Hause. Sie haben auch viel „organisiert“. Ihnen ist ihre Wohnung erhalten geblieben und sind sehr zufrieden. Gegen Mittag haben wir wieder Öl und Mohn geholt und dann köstliche Puffer gegessen. Am Nachmittaag habe ich „Der große Regen“ zu Ende gelesen. Azzalinos besuchten uns.
Freitag, den 4.Mai
Ruhige Nacht. Nachricht: 6.10Uhr soll der Werder den Amis übergeben werden. Es hieß sogar, die Amis seien schon hier. Aber- alles falsch. Der Widerruf kam bald darauf. Dönitz soll gesagt haben, er sei v. Hitler am Tag vor seinem Tode zum Nachfolger ernannt worden. Der Kampf gegen den Bolschewismus geht weiter, nicht aber der Kampf mit den Westmächten, sofern sie nicht den Kampf gegen den Bolschewismus hinderten. Alles unklar, unsicher. Edert besuchte B. und erzählte, daß sie die Russen stündlich in Biederitz erwarteten. Die Demarkationslinie soll bei Braunschweig zurückgenommen werden. M. würde den Russen überlassen. Wir würden ein Sowjetdeutschland. Die Familien würden wieder zusammenkommen und wir sollten auf dem Werder ausharren. Am Abend brachte uns H. Nieter die Nachricht, saß an Stelle von Dönitz, von Papen getreten sei. Hitler sei an Gehirnschlag gestorben. Sein e Leiche sei aber nicht gefunden worden. Herrn Dr. Schöllner, Arzt im Lazarett Magarethenhof haben die Amis seine Uhr und sein Eisernes Kreuz weggenommen, als er wegen seiner vielen Amputierten verhandeln wollte. Frl. Löhr erzählt, wir würden vorläufig von den Franzosen besetzt werden. Magdeburg-Ost bekäme einen neuen Bürgermeister. Für Magdeburg-West sei Markmann erwählt worden. Er wurde aber nicht Bürgermeister, sondern wurde in der Verwaltung beschäftigt. Befehl: Alle haben die weiße Fahne rauszuhängen.
Sonnabend, den 5.Mai
Die Russen stehen mit ihren mit Flieder geschmückten Panzern in der Friedrichstadt aus dem Heumarkt. Russische Posten stehen an der Langen Brücke. Bis 5Uhr darf niemand nach Krakau und Friedrichstadt gehen. Um 4Uhr sollen Verhandlungen zwischen den Russen und den Amis stattfinden. Von heute ab beginnt unser neues Leid: die quälende Ungewissheit, ob wir russisch oder amerikanisch werden. Machtlos stehen wir zwischen Kommunismus und Demokratie. Die Elbe trennt uns vom Westen, dem wir uns viel mehr verbunden fühlen als dem Osten. Und so blicke ich mit wehmütigen Gefühlen hoch oben vom Hubbeschen Silo auf unsere ausgebombte Stadt, die sich terrassenförmig, kulissenartig über dem Kai erhebt. Amerikanische Posten gehen am Ufer auf und ab. Die Strombrücke und die Hindenburgbrücke liegen zerborsten, umspült von reißenden Strudeln in der Elbe. Durch ihren Fall ist Magdeburg in Magdeburg-Ost und Magdeburg-West geteilt. War es nicht unverantwortlich vom Kommandanten Regen er die Brücken sprengen zu lassen? Hätte er den Mut gehabt, Magdeburg den Amis zu übergeben, dann wären sie vor den Russen in Berlin gewesen und unendliches Leid wäre uns in Mitteldeutschland erspart geblieben. Mir brennt es im herzen zu wissen, daß wir rings von Feinden umgeben sind, daß es kein Entrinnen mehr gibt. Die Kampfhandlungen hatt Deutschland völlig eingestellt. Die Wiener haben Engländer so freudig empfangen wie noch nie zuvor ein fremdes Volk. Himmler und Dönitz sollen in Norwegen sein.
Fortsetzung folgt
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Sehr interessante Schilderungen zur Lage in Magdeburg, speziell ostelbisch. Wäre interessant, das mit Aufzeichnungen der russischen Kriegstagebücher zu vergleichen. Haben wir da was in dem Detaillierungsgrad wie zu der Division in Burg?
Wenn nicht anders bezeichnet, sind die gezeigten Bilder mein Eigentum. Eine nicht komerzielle Nutzung meiner Bilder ist grundsätzlich erlaubt.
Ja, gerade zu MD-Ost haben wir nun endlich konkrete Angaben zu den Regimentern , wo sie damals lagen und damit auch zur Situation Werder. Wenn das Tagebuch komplett im Forum ist, können diese Aufzeichnungen militärisch ergänzt werden.
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9Uhr Lesegottesdienst. Russen am Morgen wieder in der Wohnung auf der Suche nach Männern. Sahen Bötiger im Bett. Nahmen ihn nicht. Gr. Angst um Egbert. Ging noch mal gut ab. Niemand im Garten oder auf der Straße. Russen fuhren in Autos durch die Straßen. Innere Unruhe. Ständig in Spannung. Am Nachmittag gelesen.
Montag, den 14.Mai
Wir brachten den Tag mit Lesen, Schreiben und Arbeiten im Garten hin. Nur ein Wunsch beseelt uns. Rüber in die Stadt.
Dienstag, den 15.Mai Sonntag, den 6.Mai
Viele Russen auf dem Werder. 1 russische Streife. 1 Anschlag am Stift Weidestraße, russischer Unteroffizier, der die Streife auf dem Werder hat, ordnet an, daß alle Schusswaffen und Muniton abgeliefert werden müssen außer Jagdgewehre. 6.Mai 1945, i.A. Bauermeister. Gerüchte von Kellereinbrüchen auch von Deutschen. Drüben soll Markmann abgesetzt sein. An seine Stelle sind Bär und Witmack getreten. Die 1. Erschießungen haben stattgefunden. Nathusius, Ingenieur b. Polte, ist hingerichtet. Noch immer große Unsicherheit über unser Schicksal.
Montag, den 7.Mai
Vormittag geräumt. Sind sehr unruhig und niedergeschlagen. Noch immer keine Klärung der Lage. Die Russen suchen unsere Häuser nach Männern und Schnaps ab. Es war ¾ 7 abends. Bett. und Ute drehten Bonbons im Wohnzimmer. Unsere Korridortür stand wie gewöhnlich auf. Plötzlich hörte B. im Korridor Tritte und Stimmen. Scherzend sagte sieh zu U. „Wenn es Russen sind, sage ich Heil Moskau.“ Als sie zur Tür kam, sah sie niemanden, hörte aber in Hansis Zimmer Stimmen. Sie öffnet die Tür und ihr gegenüber standen 3 Russen, die ihre Gewehre an der Hüfte trugen. Äußerlich ruhig fragte sie „Was wünschen die Herren?“ Innerlich zitterte B. Der eine sagte: „Männer hier?“ B. „Nein nur arme Ausgebombte. Herrschaft fort, nur Frauen.“ Russe: „Schnaps?“ B. „Nix Schnaps“ Auf Hansis Bett lagen aber 2 Flaschen (das Zimmer sah vom räumen noch wüst und sehr unordentlich aus, das war aber gerade gut). Eine davon hob der Russe auf und fragte „Schnaps?“ B. wieder „Nein Rhababersaft“ und zeigte auf das Etikett. Der Russe händigte die Flasche seinem Kameraden aus, einem Offizier mit weißen Handschuhen. Der tat so, als ob er lesen könne und sagte „Limonade“ und warf die Flasche aufs Bett zurück. Neben der „Limonadenflasche“ aber lag eine Flasche Wein, aber B. sagte, „Auch Limonade“ und die Russen gingen ins Wohnzimmer, nachdem sie Hansis Zimmer gründlich beguckt hatten. Auch die übrigen Zimmer wurden geprüft, aber sie fanden wohl nicht das Wohlgefallen der Russen; denn sie zogen ohne eine weitere Bemerkung wieder ab. Jede Wohnung im Haus wurde einer Prüfung unterzogen. Bei Herrn Azzalino fragten sie nur, wie alt es sei. Bei Kellermanns setzten sie sich an den Tisch. Wir haben eine entsetzliche Angst ausgestanden. Hinterher waren wir ganz kaputt.
Dienstag, den 8.Mai
Immer noch grausige Ungewissheit. Man sagt, wir würden englisch. Churchill hat durch Rundfunk zu den Deutschen gesprochen. Er betonte, daß er uns entgegenkommen wolle, wenn wir ihm entgegenkommen. Die Russen sind noch immer auf dem Werder. Sie haben in der Hubbeschen Villa und im haus von Blänedorf Quartier genommen. Zu Mittag waren Azzalinos und Frl. Herzberg zum Pferdefleischessen unsere Gäste. B. hatte ein prächtiges Menü zusammengestellt. Nudelsuppe, Gulasch mit Bohnen und Kartoffeln, Stachelbeeren mit (falscher) Schlagsahne und Bonbons. Herr Azzalino hielt eine Rede auf B. und Frau A. war ganz gerührt. Mit Wein und Apfelsaft wurde angestoßen. Nachmittag im Garten mit einem Jungen „Mucki“ gepaddelt, der gerade von der Westseite rübergeschwommen war. Er erzählte ganz begeistert von den Amis. Sie sind freundlich und wenn man Bittet: „Give me a cigarette“, dann bekommt man gleich eine ganze Menge. Er spielte mit ihnen auf dem Petriförder Fußball. Erst zweimal brauchten in der Stadt die Männer arbeiten. Die beamten arbeiten weiter. Als Hilfspolizisten haben sich deutsche gemeldet. Sie tragen eine weiße Armbinde. Geplündert und geraubt wird nicht. Wohl sollen die Amis eine besondere Vorliebe für Uhren und Schmuck haben. Als einem Deutschen eine Uhr weggenommen war, ging er zum amerikanischen Kommandanten und er hielt seine Uhr zurück. Todesstrafe wird nur verhängt, wenn ein Ami angefallen und getötet wird. Um ¼ 9 ertönt die Sirene als Zeichen dafür, daß man nach hause gehen soll. 5 Minuten vor ½ 9 geht ein Schuß los und um ½ 9 müssen alle von der Straße fort sein. Wer diese Anordnung nicht befolgt, muß 20-100Mark Strafe zahlen oder 2 Tage sitzen. Elektrisch darf bis jetzt nur von den Amis genutzt werden, da der Strom noch sehr schwach ist. Gas soll auch schon vorhanden sein. Post und Eisenbahn verkehren noch nicht. Eisenhower war in Magdeburg. Er hat auf dem Domplatz eine Parade abgenommen. Wir haben Angst vor den Russen.
Mittwoch, den 9.Mai
Um 10Uhr zur Elbe-Arkonastraße gegangen und rübergerufen zu Frau Osterrith (Meggi), die am Petriförder stand. Wir geschrieen: „Alles in Ordnung. Können Sie schreiben?“ sehr schwer zu verstehen, da 25 Menschen gleichzeitig riefen. Es erschüttert mich, zu erleben, wie Frauen nach ihren Männern bangten, wie Mütter von ihren Kindern getrennt waren. So nah und doch so fern waren sie. Nur ein Wasserstreifen trennte und dennoch war ein zueinanderkommen unmöglich. Vielleicht auf Wochen?! Grausam. Und der dies letzte Leid über uns gebracht hat, war der Kommandant von Magdeburg, Regener. Der amerikanischen Unterhändler soll sehr nett gewesen sein. Er soll ihn eindringlichst vorgestellt haben, welch ein Leid er über Magdeburg bringen würde, wenn er noch weiter aushielt. Er erinnert sogar daran, daß die evakuierten Kinder zurück nach Magdeburg gekommen seien. Aber Regener blieb hart und unerbittlich. Darauf sagte der Amerikaner: „Dann muß ich morgen das Schwerste tun, daß ich je in meinem Leben getan habe, ein ungeheures Bombardement auf tausende von unschuldigen Frauen und Kinder loslassen.“ Seinen Worten gemäß folgte der Angriff am 17.IV., den wir in der Stadt erlebten. Regener erhielt das Ritterkreuz, aber nahm sich kurz darauf das Leben und wir leiden noch immer; denn wären die Brücken nicht gesprengt worden, dann würden die Amis bei uns und vielleicht wären sie vor den Russen in Berlin gewesen. Ein Jammer. Am Abend Nachrichten durch das Radio bei Herrn Kersten. Der 9.Mai wir offiziell als Tag des Sieges gefeiert. Göring und Kesselring haben sich in amerikanische Gefangenschaft begeben. Göring war von Hitler zum Tode verurteilt worden. Von der SS wurde er verhaftet, aber von der Luftwaffe wieder befreit. Alle Kriegsverbrecher sind auszuliefern. Ihr Vermögen wird eingezogen. St.Nazaire, Lorrient und La Rochelle haben sich ergeben. Seitz-Inquart von Amerikanern gefangen genommen. Der Belgier De Grell ist nach Spanien geflohen. Die feierliche Unterzeichnung der Waffenstillstandsbedingungen in Berlin hat stattgefunden. Geleitet wurde die Verhandlung von dem Russen Schuchkow Sukow) Er führte auch das Wort. Um 21Uhr wurden die Bedingungen von Keitel, Friedberg und Stumpf unterzeichnet. Schuchkow (Shukow) sagte: „sind sie gewillt zu unterzeichnen?“ „Ja“ Noch einmal wurde Frage und Antwort in englischer Sprache wiederholt und dann hieß es „Die deutsche Delegation möge sich entfernen“. Die Gleichen Worte hatten wir seiner zeit nach der Eroberung Frankreichs in Compiegne gebraucht. –die Friedensverhältnisse sollen in Deutschland, in Europe mit größter Schnelligkeit durchgeführt werden. Von nun ab soll nur noch Lebensmittel und Treibstoff und keine Munition nach Deutschland gebracht werden. So sprach Churchill. Männer von 17-50 müssen sich melden bei uns hier.
Donnerstag, den 10.Mai
Himmelfahrt. 9Uhr Lesegottesdienst im Stift. Gehalten von Herrn Azzalino. Kollekte ergab 151 Mark. Im garten gelesen. Flowering Wilderness v. Galsworthy. Sehr schön. Männer von17-50 müssen sich melden. Gerücht, daß die Russen sich bis zur Oder zurückziehen. Die Amerikaner bis zur Weser. Heß soll an oberster Stelle in dem dazwischen liegenden Teil „Deutschland“ stehen. Am Abend wurde ausgerufen. Die weißen Fahnen einziehen und alle roten Fahnen rausstecken.
Freitag, den 11.Mai
Im Garten mit Frau Dörpmann gesät, geplaudert. Von 5Uhr bis 7Uhr bei Zuckschwerdts englich Unterricht erteilt es nahmen teil Brigitte Z. (Architektin), Frl. kempf, Gisele, Frl. Lamz (Haustochter bei Bore) Frau Grünewald geb. Thron, die über die Königsbrücke geklettert ist, um bei ihren Eltern zu sein und Ute. Kenntnisse sehr gering. Die Frage,Verbformen. Anschlag: Frauen von 17Jahren bis 45 Jahren müssen sich melden.
Sonnabend, den 12.Mai
Im garten gearbeitet und gelesen. Herrliches Wetter. Wunderbar schön an der Elbe. Von Friedrichstadt hört man schreckliche Dinge. Selbstmorde und Vergewaltigungen! Immer noch in banger Sorge und Ungewissheit.
Ruhiger Tag. Die Pontonbrücke der Amis bei der Königsbrücke ist seit Sonntag fertig. Den Amis ist es aber von den Russen nicht gestattet, den Pionierübungsplatz, wo die Brücke endet, zu betreten. Ein Wagen mit Lebensmitteln für uns musste umkehren.
Mittwoch, den 16.Mai
Am Nachmittag bei Henneboldts. Renatchen sehr krank, Gelenkrheumatismus. Bei Henneboldts waren am Sonntag Russen (darunter 2 Ukraineriennen) und haben im haus geräubert. Bei H. haben sie ein Kleid von Helga und 7 elektr. Batterien genommen. Oben 4 Mäntel u. aus dem Keller mehrere Koffer. In Friedrichstadt sind sehr vielle Russen; an der Brücke stehen Posten. Sie sind aber freundlich und lassen uns vorbeigehen. Neues Verbot für uns: Es darf nicht mehr über die elbe gerufen werden. Die Zollstraße ist gesperrt. Es sind mehrere Personen rüber geschwommen und außerdem haben die ungehörigen, dumme Rufe von hinüber und herüber die Russen beleidigt z.B. ist gerufen worden: Ziehen die Idioten noch nicht ab?“ „Unsere Männer werden hier abgeführt.“
Donnerstag, den 17.Mai
Renatchen besucht. Ärztin hingeschickt (Frl. Struwe) Mich bedrücken die vielen Russen auf der Straße sehr, obgleich sie uns nicht belästigen, aber sie erinnern mich immer daran, daß wir völlig besiegt sind, das wir keine Rechte mehr haben, daß wir der Willkür ausgesetzt sind und- unsere Freiheit verloren haben. Dazu werden wir bei den Russen nie ein Gefühl der Unsicherheit, der Beklemmung los. Ihre Wesensart ist uns fremd Wir durchschauen sie nicht. Sie sind unberechenbar. Das macht das Zusammenleben mit ihnen so schwer. Um 12 Uhr kamen 4 Russen zu uns. Sie gingen in das Musikzimmer und die grünseidene Steppdecke gefiel ihnen. Zum Glück nahmen sie sie nicht mit und B. brachte sie später in den Keller. B. fragte: „Wodka?“ Ja, Wodka wollte einer trinken. Schließlich verließen sie das Haus. Die Russenbesuche greifen B. immer wieder an. Sie verbreiten eine anstrengende Atmosphäre um sich. Freitag, den 18.Mai
Ich musste bis zur Flakkaserne nach Prester laufen, um die Lebensmittelkarten von Ute, die dort arbeitete, zu holen. Unterwegs erreichte mich die schreckliche Botschaft, der Werder müsse bis 6Uhr abends geräumt sein. Mein Herz stand fasr still. Was sollte B. machen?. Sollen nun doch alle Sachen verloren gehen? Wir waren verzweifelt. Ich rannte fast den langen Weg nach hause. Über die Zoll- und Lange Brücke waren Züge von Russen gegangen. Es war glühend heiß. Ihre schwere Last drückte sie fast zu Boden und so warfen sie allen überflüssigen Ballast ab. Die Brücke war daher übersät von Mänteln, Jacken, Hemden, Hosen, Trompeten, Schifferklavieren, Schaftstiefeln, Beuteln und Kochgeschirr. Ein Bild, das an wilde Flucht erinnerte. Aber erschütternd fand ich, daß unsere deutsche Zivilbevölkerung sich auf diese Sachen- die Sachen von einst gefangenen Feinden- wie wild stürzte und mit Freuden an sich nahm und trug. Als ich ziemlich erschöpft in der Oststraße ankam, hatte es sich als Gewissheit herausgestellt, daß der Werder nicht geräumt werden brauchte. Erleichtert atmete ich auf. Alle kleinen Nöte verschwanden im Hinblick auf die große Freude. Wir brauchen nicht zu räumen. Am Abend kam Frl. Oelschig. 5 Wochen hat sie vergebens versucht, über die Elbe zu kommen. Auf ihrer schweren Wanderung hat sie alles, auch ihren Rucksack verloren. Sie wohnt in Cracau beim stellvertretenden Bürgermeister, Herrn Bovensiepen, der Kommunist ist.
Sonnabend, den 19.Mai
Anschlag: Alle Deutschen, die nach Westen wollen, haben sich in der Seestraße Cracau zu melden zwischen 8Uhr und 11Uhr. Herr Azzalino, Frl. Oelschig, Ute und ich gingen hin, um uns zu melden. Tausende wollten rüber. Ein paar Stunden mussten wir stehn, bis wir drankamen. Am Nachmittag bei Henneboldts. Jetzt haben die Russen einen Schlagbaum an der Langen Brücke- Seite Friedrichsstadt errichtet. Nur mit einer Ausweiskarte vom Kommandanten kann man hin und hergehen. Renate geht es besser. Am Abend mussten die Frauen und Männer noch einmal zum Reinemachen in die Kaserne. Die Arbeit soll widerlich gewesen sein. Die Umtransportierten übernachten in den Kasernen und unsere deutschen Frauen müssen deren Schmutz fortbringen! Ein besiegtes Volk. Einführung der russischen Zeit. Wir stellen unsere Uhr eine Stunde vor.
Sonntag, den 20.Mai
Lesegottesdienst. Gelesen im Garten: „The Patrician“ von J. Galsworthy. Mit F. Hopstock Kaffee getrunken. Abzüge von Franzosen nach dem Westen. Ein Lastauto an Lastauto steht in der Ost.-und Lingnerstraße. Beim Spazierengehen auf dem Roten Horn hat ein Russe zu deutschen gesagt: „Leute ruhig spazieren gehen. Russe nix tut. Hitler Deutschen Bild gezeigt, Russe Deutschen Hals abschneiden (er macht die Bewegung), Russe gut, Russe nix tut, Leute spazieren gehen.“ Viele Russen sind gutmütig. Auf der Straße ist noch niemand belästigt worden. In Kempfes Haus ist in einer leer stehenden Wohnung geplündert worden. Gisela rannte zum Brückenkommandanten, der bei Thors wohnt; er kam sofort und der Offizier der plündernden Soldaten musste sich bei Frau K. entschuldigen und schickte ihr am folgenden Tag 20Pfd. Erbsen. Bei Zuckerschwerdts ist eingebrochen worden. Man hat Herrn Z.’s Waffensammlung gefunden. Russen: Gefährlich. 3Uhr morgen Kommandant. Gefängnis Berlin. Bis jetzt ist noch nichts erfolgt. Herr Azzalino, der Nazi-Ortsgruppenleiter vom Werder, ist von deutschen Kommunisten abgeholt. Kam zunächst in die Hauptmann-Loeper-Schule, die jetzt Karl-Marx-Schule heißt, dann nach Biederitz. Die Kommunisten sind sehr enttäuscht, daß weder die Russen noch die Amis nicht strenger gegen Nazis vorgehen. Eine Frau erzählte mir: Ein Deutscher verriet seine Kameraden, zeigte det Ort, wo sich Deutsche versteckt hielten. Russe gab ihm darauf einen tüchtigen Schlag vor die Brust und rief: „Russland nix Verräter“ und forschte nicht nach Versteckten. Als ein Deutscher befragt wurde, bekannte er sich, indem er auf sein Braunhemd zeigte: „Ja, ich gehörte zur Partei“, Russe: „Der 1. der gleich bekennt“ und beförderte ihn.
Montag, den 21.Mai
Frl. Oelschig zieht zu uns. Sie will so schnell wie möglich auf die andere Seite und ist auf dem Werder näher an der Brücke als in Cracau. Japan soll mit Amerika einen Waffenstillstand abgeschlossen haben (falsches Gerücht).
Dienstag, den 22.Mai
Bettken und Frl. Oelschig gingen zu Herrn Bovensiepen, um Näheres über Herrn Azzalinos Ergehen zu erkunden. Sie haben nichts erfahren können. Aber anderes Traurige haben sie gehört. B. kam ganz Außer sich zurück. Vom Bürgermeister Trompa, der aus Königsberg gekommen ist und ein Werkzeug der Russen ist und im übrigen sehr unbeliebt ist, hat herausgegeben, das alle Nichtortsansässigen sich melden müssen zwecks Weiterbeförderung. Die Frage erhob sich: Wer ist Ortsansässiger? Viele meldeten sich sofort in der Hoffnung, nach Westen abtransportiert zu werden und nahmen gleich ihr Gepäck mit. Als sie in der Seestraße ankamen, wurden die Kräftigen und Jungen dabehalten und wurden ab nach dem Osten geschickt. Die Enttäuschung und Erbitterung waren grenzenlos. Die Russen brauchten Männer und wie sie uns immer sagen- wir haben es nicht anders gemacht. Andere wurden auf die umliegenden Dörfer geschickt und nur die Alten kehrten am Abend nach dem Werder zurück. Uns tut der Junge, der den Brief von Herrn Ahrbeck mitbekommen hat, denn er hoffte noch am Abend in Aschersleben sein zu können unendlich leid. Nun geht er zum 2.Mal in russische Gefangenschaft, aus der er sich in Burg befreit hatte. Herr Bovensiepen sagte in sehr „ermutigender“ Weise: „Wenn die Russen Sie heute Nacht aus dem Bett holen, werden Sie ja merken, was „ortsansässig“ heißt. Vielleicht stecken sie Ihnen auch Ihr Haus in Brand. Wissen sie denn nicht, was unsere Soldaten mit den Russen gemacht haben? Das halten uns die Russen täglich vor. Herr B. macht auf B. einen äußerst verängstigen Eindruck. Selbst er fürchtet die Russen, die nicht viel von den deutschen Kommunisten wissen wollen. B. war bei seiner Rückkehr gänzlich niedergeschlagen, fast krank, denn es hieß ja nichts anderes als Ute und ich müssen bis 6Uhr den Werder verlassen haben. Wir verlebten die traurigsten Stunden seit dem Feindalarm. Zunächst waren wir viel zu gelähmt, um wirklich ans packen gehen zu können. Da kam wie ein guter Engel Frau Weber und brachte die sichere Nachricht von unserem Bürgermeister hier Herrn Fuhlrott, daß wir seit dem 16.Januar hier amtlich gemeldet seien „Ortsansässig“ also und nicht fort brauchten. Tief dankbar gingen wir heute zu Bett.
Mittwoch, den 23.Mai
Alle Männer vom 14. bis 65 Jahr mussten sich um 5Uhr früh in der Seestraße melden. Sie kamen aber gegen 8Uhr wieder zurück. Anschlag: Alle Deutschen werden gebeten, den Höflichkeitsgruß den russischen Offizieren zu erweisen durch Hut abnehmen, die Frauen durch neigen des Kopfes (Kennzeichen Sterne auf der Schulter). Am 28. oder 3. sollen die Russen abziehen. Wir hoffen! Die Mark behält ihre Währung. Deutschland soll nicht unter die Feinde aufgeteilt werden, sondern in einzelne Provinzen geteilt werden. Rosenberg ist in Flensburg verhaftet worden. Laval ist von den Spaniern an die Engländer ausgeliefert. Japan wird von amerikanischen Superfestungen beschossen.
Donnerstag, den 24.Mai
Frl. Liebing brachte die Nachricht, daß die Spannungen zwischen den Russen und Amis weiter besteht und zwar werden sie sich nicht einig wegen Dresden und Magdeburg. Wir fürchten, die ziehen am 3. nicht ab. Bettken mit Oelsching bei deren Freunden. Bovensiepens wollen in eine kleinere Wohnung ziehen, um von den Amis nicht als „Bonzen“ angesehen zu werden, denn sie hatten sich in einer großen freistehenden Villa niedergelassen. Sie fürchten die Amis. Dies alles sieht Bett. als ein gutes Zeichen an, daß selbst die Kommunisten mir dem Kommen der Amis rechnen. Jede Parteiarbeit ist in Magdeburg-West verboten. Züge fahren von Genthin bis Biederitz- 10.000 Teller sollen von der Bevölkerung für die Russen gesammelt werden. Schlechtes Zeichen! so schwanken wir ständig zwischen einem winzigen Hoffnungsschimmer und tiefer Mutlosigkeit hin und her.
Freitag, den 25.Mai
Bett. mit Frl. Liebing nach Möser zu Fuß, um Esswaren zu holen. Vorher Bericht über Herrn Azzalino (Ortsgruppenführer) und Brief an Herrn Pastor Zuckschwerdt geschrieben. Ein Deutschamerikaner wollte die Briefe mitnehmen. Er ist aber nicht wiedergekommen. Am Nachmittag war ich bei Frl. Boye zum 75, Geburtstag im Ida-Lücke-Heim. Von Wanzleben erzählt. Bett. nicht zurückgekommen. Himmler ist von den Engländern verhaftet worden. Er fand noch Zeit Gift zu nehmen, das so schnell wirkte, daß er schon ror war, als man ihm den Magen auspumpte. Von Hitler keine Spur.
Sonnabend, den 26.Mai
Im „Roxy“ wird ein russisches Kinostück „Zirkus“ gespielt. Wir werden aufgefordert hinzugehen. Leider war die Brücke am Nachmittag wegen der Transporte gesperrt und so mussten wir auf den Besuch verzichten.
Sonntag, den 27.Mai
Um 9Uhr früh kam Bett. zurück. In Möser und Biederitz ist es nicht so schlimm, wie erzählt worden ist. Frl. Medem und Frau Gentsch sollen von Russen mitgenommen sein und in einem Krankenhaus liegen. Vom Abzug der Russen ist nichts zu merken. Sie räumen alle leer stehenden Wohnungen aus. Wir müssen für Mai rückwirkend Miete an die Russen bezahlen. Frau Casper bringt durch ihren Mann durch rüber rufen an einer geheimen Stelle von Herrn Ahrbeck die Nachricht, daß es ihm gut gehe und er in Quedlinburg sei. Anscheinend arbeitet er mit Herrn Klewitz zusammen.
Montag, den 28.Mai
Im Garten gelesen, gearbeitet. Frau Hopstock besucht. Herr Bore und Herr Laue die verhaftet worden waren, weil sie Esswaren von Ackermanns nicht gezeigt hatten, sind zurückgekommen.
Dienstag, den 29.Mai
Herrliches Wetter. Den ganzen Tag im Garten gesessen. Am 3. soll die Brücke für die, die nach Westen wollen, freigegeben werden. Am 6.6. soll der Verkehr hinüber und herüber stattfinden. Das wäre unausdenkbar schön, aber wir freuen und noch nicht; denn bis jetzt sind wir steht’s bitter enttäuscht worden. Herr Azzalino, Frl. Oelsching, Ute und ich wollen rüber, um uns eine Arbeit zu suchen. Vor mir spielt sich ein eigenartiges Schauspiel ab. Ich sitze auf den Steinstufen im Garten und blicke auf das gegenüberliegende Ufer. Im Hintergrund die roten Kasernen. Schon seit Stunden ziehen Scharen von Ost-Arbeitern und- Arbeiterinnen, einst unsere Gefangenen vorüber. Schwer bepackt meist mit großen Säcken auf den Rücken gehen sie schwitzend, gebeugt ihres Weges. Die rote Fahne flattert voran. Ein Riesenschild in Schwarz und Weiß von Stalin leuchtete auf. Große Lastautos, oft drei von einer Maschine gezogen, wirbeln eine Wolke von heißem Staub auf. Sie sind bis zum Brechen beladen mit Frauen in roten und weißen Tüchern auf den Kopf. Viele Russen unterbrechen ihre mühselige Wanderungen und baden in der Elbe. Am Abend liegen Hosen und Jacken und Hemden am Strand, die am nächsten Morgen früh gesammelt und am Ufer verbrannt werden.
Mittwoch, den 30.Mai
Ruhiger Tag. Im Garten gesessen und gelesen. Von Herrn Azzalino noch keine Nachricht.
Donnerstag, den 31.Mai
Die Russen hausen zusammen mit den deutschen Kommunisten, schrecklich. Alle Villen werden durchsucht und geplündert. Mir geht es nicht gut. Ich gehe frühzeitig zu Bett.
Fortsetzung folgt
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Ich habe einen unangenehmen Magen- und Darmkatarrh, darf nichts essen und muß still zu Bett bleiben. Am Nachmittag besucht mich Frau Hopst. Abends die erfreuliche Nachricht, morgen wird der Werder den Engländern übergeben. Und zwar als feste Tatsache von glaubwürdiger Seite. Glücklich schlafe ich ein.
Sonnabend, den 2.Juni.
Voller Hoffnung erwachte ich. Heute- ja heute- und ausgerechnet heute lag ich im Bett. Ob ich die Amis oder Engländer vom Fenster aus sehen würde? Würden sie mit Fahnen und Musik kommen? Ich wartete von 9-10-1. Nichts rührte sich. Aber noch hoffte ich. Der ganze Nachmittag lag ja noch vor uns. Jedoch wurde es 4 und 5 und nun sank ich in stiller Ergebung in die Kissen zurück. Wieder umsonst. Alle Erwartungen- zerschlagen. Nun glaube ich nichts mehr. Die von den Russen und Amis gemeinsam gebaute Brücke, die den schönen Namen „Freundschaftsbrücke“ trägt, ist eingeweiht worden. Mit Blumen und grünen Zweigen hatte man sie geschmückt. Die Amis zogen mit Musik bis zur Barriere an der Zollbrücke und reichten hier den Russen die Hand. Dann marschierten sie wieder nach „Westen“. Wir leiden weiter unter den Russen. Heute haben sie im Ida-Lücke-Heim geplündert. Alle Schränke und Kommoden wurden untersucht und durchgewühlt. Frau Kotwes machte nicht gleich auf und so schlug man die Korridortür ein. Um ½ 4 Uhr hörte ich ein russisches Auto hupen. Als ich aufgeschreckt raus sah, musste ich sehen, wie 2 Männer und 1 Russin Stühle und Tische, Bilder und Decken in größter Eile wie Diebe, auf den verdeckten Wagen warfen. Nun ruckte das Auto an, fuhr um die Ecke Lingnerstraße und- hielt vor unserem Haus. Meine Angst steigerte sich noch als ein Russe mit dem Gewehrkolben an die Haustür schlug und die Russin laut rief: „Frau Kellermann“, dazwischen ertönte es rau und barsch vom Mann: „Aufmachen“. Ich rief Bett. und versuchte schnell mein Kleid zu verstecken, dann legte ich mich wieder ins Bett. Ich hatte mich mächtig erschreckt. Gott sei Dank kamen sie nicht in die Wohnung. Sie suchten ein Grammophon, das sie hier gehört zu haben glaubten.
Sonntag, den 3.Juni
Kein Lesegottesdienst mehr. Es wird hier nicht gewünscht. Die Männer und Frauen müssen wie alltags arbeiten: Straßen fegen, Schutt wegbringen, Panzersperren beseitigen, Steine klpfen. Mich erschütterte es tief als ich unsere deutschen Frauen wie Gefangene in der glühendheißen Sonne bei Ostende sitzen sah und sie Steine beklopften. Die Russen stellen eine Aufgabe, z.B. bis heute Abend muß die Oststraße sauber sein, sonst muß der Leiter des Arbeitseinsatzes Herr Fuhlrott sitzen. Mir geht es wieder ganz gut. Ich verbringe sonnige Stunden im Garten.
Montag, den 4.Juni
Von den Werderanern, die drüben im Bunker waren, ist heute niemand heimgekehrt. Uns hat eine grenzenlose Niedergeschlagenheit gepackt. Bett. meint, nun könne es noch Monate dauern. Wir armen Werderaner sind „hermetisch“ nach beiden Seiten abgeschnitten von aller Kultur, von jedem politischen Leben. Besonders in der Ernährung macht sich das unangenehm fühlbar. Kein Gemüse, kein Obst, kein Fett, nur Pferdefleisch und Graupen.
Dienstag, den 5.Juni
Gelesen „The end of the house of Alard“ von Sheila Kaye-Smith. Meine Sachen geräumt. Nichts von Übergabe, nichts von Rüberkommen. Aber Tausende von Ukrainerinnen und Russen ziehen singend an uns vorüber in ihre Heimat.
Mittwoch, den 6.Juni
Wieder ein frecher Russe bei Gräbners. Hat einen leeren Koffer mitgenommen, für den er 50M Alliierten Geld geben wollte. Als Frau Schäfer ihm nicht gleich die Taschentücher geben wollte, hat er sie mit einem Schlag auf die Backe beiseite geschoben. Heute heißt es: Bestimmt kommen die die Engländer in einigen Tagen; bis dahin plündern Russen und deutsche Kommunisten. Sie waren in den Kellern und haben nach Teppichen und Ölgemälden gesucht. Noch 30 Stück wollen sie haben.
Donnerstag, den 7.Juni
Wir erlebten drüben eine moderne Völkerwanderung. An 35.000 Russen und Ukrainer lagerten sich am Ufer, ehe sie abtransportiert wurden. Die alte Besatzung von hier ist fort, aber- schon eine neue von 50-60 Mann hier. Die Russen wollen bis Braunschweig vordringen, wollen das Königreich Sachsen und die Provinz Sachsen und Hamburg in Besitz nehmen. Schrecklich! Manche Tage ergreift mich eine Hoffnungslosigkeit. Die Ungewissheit ist quälend. Und dazu die Angst vor Plündereien. Heute waren 6 Russen dreimal am Tag im Ida-Lücke-Heim. Alles, was ihnen gefiel, verschwand in uhren Taschen, Armbänder, Decken, Schleifen usw. Von Frau Hopstock nahm einer ihr Opernglas. Als sie es merkte, ging sie auf ihn zu und sagte sehr energisch: „Sie haben mein Opernglas genommen, Geben Sie es sofort wieder zurück!“ Und tatsächlich gab der Russe das Glas raus. Schwester Marga dagegen wurde als sie Einspruch erhob, mächtig angefahren: „Wer hat hier zu sagen“ rief der Mann, ich. „Setzen Sie sich hin!“ Sogar von den Holländern und Franzosen, die über die Brücke kamen, haben die Russen die Räder und Pferde weggenommen. Heute werden allein vom Werder und der nächsten Umgebung 27 Pferdediebstähle auf der Bürgermeisterei gemeldet.
Freitag, den 8.Juni
Bettk. und Frau Azzalino sind nach Biederitz und von dort nach Gerwisch gegangen, um auszukundschaften, wo sich Herr Azzalino befindet. Auf keiner Kommandantur war jedoch was über seinen Aufenthalt zu erfahren. Nirgends wird eine Liste geführt. Das einzig etwas beruhigende war die Versicherung, daß es all den Abtransportierten im Großen und Ganzen gut ginge und sie nicht gequält würden. An der Kommandantur stand geschrieben: Vor dem 26.Juni ist kein Übergang über die Elbe erlaubt. Der Anschlag lässt uns hoffen, daß wenigstens „einmal“ die Brücke freigegeben werden wird.
Fortsetzung folgt
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Ruhiger Tag. Herrliches Wetter. Die Erdbeeren reifen. Im Garten stehen die Erbsen, Bohnen Mohrrüben und der Salat prächtig. Am Nachmittag kam ein Russe zu Kellermanns Gitter, zog seine Pistole, hielt sie Frau Kellermann entgegen und schrie: „Frau, nicht Boot“ d.h. wir sollten uns ja hüten, das Boot zu nehmen, mit dem er gerade rüber gekommen war. Solche unangenehmen Überraschungen erleben wir fast täglich. Da wird z.B. die alte Frau Reimann im Stadtpark, wo sie Blumen pflückte, von 2 Russen von der Wiese weggelockt durch die Frage: „Frau, Brot?“ Frau Reimann folgt ihm, da sie sich das Brot nicht entgehen lassen will, merkt aber plötzlich, daß ein Russe zurückbleibt und- kann allein mit dem Kumpan- dieser sie fest mit den Händen an den Arm packt und sie fortziehen will. Da ruft sie: „Russe gut, Frau weißes Haar“ und befreit sich aus der Umklammerung.
Sonntag, den 10.Juni
Anschlag: Alle Mädchen von 14 bis 25 Jahren haben sich morgen um ½ 7 in der Seestraße zu melden. Kleidung ist mitzubringen. Erklärlich große Aufregung. Herr Fuhlrott fragt an und gegen Mittag wir der Anschlag wieder entfernt. Dafür ein neuer mit der Nachricht, daß sich alle jungen Mädchen um ½ 8 in der Weidenstraße Werder zu melden hätten. Abends sehr gutes Essen: Nudelsuppe, Pferdebraten mit Salat. Erdbeeren mit Schlagsahne. Dazu für Herrn B. Frl Oelschnig Bulgarischen Rotwein und für uns Rhabarbersaft.
Montag, den 11.Juni
Morgen sollen entscheidene Verhandlungen zwischen Russen und Amis sein. Morgen soll sich unser Schicksal entscheiden.
Dienstag, den 12.Juni
Früh um 8 Uhr zum Zahnarzt Dr. Köppe (=Dentist Alfred Klöpper) Cracau. Auf der Kommandantur musste ich mir dann einen Schein besorgen, damit ich am Freitag wieder über die Brücke gehen kann. Das alles ist sehr lästig und keiner weiß, warum die Werderaner derart abgeschlossen werden. Die 2 Russen und die 1 Dolmetscherin- eine Russin- auf der Kommandantur waren freundlich. Die widersprechendsten Gerüchte sind im Umlauf. In der russischen Zeitung steht, die Russen erhalten Magdeburg. In 3 Tagen werden sie auf der anderen Seite ihre Kommandantur aufschlagen und die Brücken werden dann freigegeben. Der Ami und der Engländer dagegen sagen, daß alles , was die Russen schreiben, ein Wunschbild sei, aber durchaus nicht der Wirklichkeit entspräche.
Mittwoch, den 13.Juni
Am Nachmittag zum Keksholen zum Kleinen Werder gegangen. Zum ersten Mal sahen Frl. Oelschnig und ich die „Friedship Bridge“, eine feste Holzbrücke aus Holzpfählen. Auf der anderen Seite gingen Amis und viele deutsche Frauen und Männer. Der Dom erhob sich herrlich auf dem Domfelsen. Wehe Gefühle steigen auf in uns. Ach, wenn wir doch rüber könnten!
Donnerstag, den 14.Juni
Im Garten gearbeitet. Sehr stürmisch. Die Verhandlungen zwischen den Amis und Russen haben zu keinem Ergebnis geführt. Es hat sich kein Deutscher bereit erklärt das Stückchen Deutschland zwischen Weser und Oder zu verwalten. Es sind keine Kohlen da und mit der Ernährung wird es seht schlecht werden. Und nun wird immer wieder über die Grenzziehung verhandelt. Das kann noch Wochen dauern.
Freitag, den 15.Juni
Um 8 Uhr nach Krakau zum Zahnarzt. Wieder viel Gutes von der Westseite gehört, aber auch in Berlin soll es besser sein als hier bei uns. Die Züge fahren von Biederitz bis Wildpark. Einer früh ½ 4, ein 2 nachmittags und 4Uhr. Zurück fährt ein Zug gegen 7 ab Möser und der 2 gegen ½ 10Uhr. Gerücht: 5000 Russen wollten bei Schönebeck über die Elbe setzen, sind aber von den Amerikanern mit Feuer empfangen worden. So mussten sie mit ihrer Pontonbrücke wieder zurückgehen. Von den Amis sollen sogar Bomben geworfen sein. Jedenfalls ist die Lage äußerst gespannt.
Sonnabend, den 16.Juni
Im Vorgarten gearbeitet. Bettk. nach Möser gefahren. Um ½ 7 wurden wir 70 Werderaner über die Brücke ins Theater „Roxi“ unter Leitung von Herrn Fuhlrott geführt. Nur auf einem Sammelschein durften wir rüber. Es ist kaum zu glauben, aber nur so zu erklären, daß die Russen den Werder an die Amis geben würden, daß aber die Amis nur zufrieden sind, wenn sie mit dem Werder zugleich Friedrichstadt und Cracau erhalten, d.h. die wollen mit Recht ganz Magdeburg haben. „Roxi“ ist unversehrt geblieben. Wir saßen in der 11. Reihe für 3M. und konnten gut den „Querkopf“ von Hans Reischel sehen. Der Verfasser selbst spielte mit. Es ist ein Lustspiel von wenig Bedeutung und geringer Tiefe. Ein stärkeres Erlebnis als das Lustspiel war das Zusammensein mit vielen Russen, als Sieger in einem deutschen Theater. Ihnen waren die Logen reserviert und sie wurden von der Aufsichtsdame zu der vordersten Reihe geleitet, die ihnen als Ehrenplätze zugewiesen wurden. Das Bewusstsein, besiegt zu sein, von der Willkür der Russen abhängig zu sein, sie als Herren auftreten zu sehen, hinderte mich an der Aufmerksamkeit und an der Freude am Spiel. Huller hatte das Bühnenbild hergestellt. Ilse Laux und G.v. Schlern spielten die Hauptrollen.
Sonntag, den 17.Juni
Im Garten gearbeitet. Zu Mittag Puffer gegessen. Frau Hopstocks Geburtstag bei ihr gefeiert. Vorbereitungen zur Reise morgen. Gerücht: Hitler sei verkleidet als alte Frau bei Quedlinburg entdeckt und gefangengenommen.
Montag, den 18.Juni
Um 2Uhr machten Bettk. und ich uns auf, um nach Genthin zu fahren. Wir wollten von Biederitz nach Möser fahren, dort die Nacht bei Frau Direktorin übernachten und mit dem 4-Uhr-Zug früh nach G. weiterreisen. Von hier aus wollten wir zu Fuß nach Kl.-Wusterwitz gehen und hofften Georg und Dora zu finden. Es ist leider nichts aus alledem geworden. Auf halben Wege nach Biederitz kam uns ein deutscher Eisenbahner entgegen und sagte, daß heute kein Zug führe. Wir gingen aber trotzdem weiter, bis wir auf 4 Belgier trafen und diese uns auf Befragen sagten, daß in der tat kein zug nach berlin führe, da die Strecke hinter Burg entzwei sei. Wir kehrten nach Werder zurück. Ich bin sehr traurig. Haben etwa die Russen die Bahngleise zerstört? Ist das ein Zeichen dafür, daß sie abziehen? Der englische Sender hat durchgegeben, daß vom 21.Juni ab die ausgemachten Grenzen zu beziehen seien. Welche Grenzen es sein werden, wissen wir nicht. Die Russen und Kommunisten hier reden vom über die Elbe gehen, die Amis drüben haben große Plakate angeheftet mit dem Text: „Es nicht wahr, daß…“ und nun folgt, was die Russen haben möchten. Die Spannung ist ungeheuer groß. In dieser Woche soll sich unser Schicksal tatsächlich entscheiden. Ach, wenn doch der Engländer oder Amerikaner käme.(Am Rande Bemerkungen von anderer hand: 1. Männer nicht zurückgekehrt. 2. Vergewaltigungen. 3. Radios eingesammelt. 4. Engl. Und Amerik. Schlecht unterschied. 5. Kontensperrung).
Dienstag, den 19.Juni
Früh zum Zahnarzt, aber wegen der Fülle umgekehrt. Im garten gelesen. Nachricht, daß am 21. die Brücke freigegeben werden sollte. Ob aber Magdeburg die Engländer oder Russen bekommen ist völlig ungewiß. Die Kommunisten behaupten mit Bestimmtheit: „Wie gehen am Donnerstag rüber.“ Im Radio ist Magdeburg nicht erwähnt. Wir glauben nichts mehr.
Mittwoch, den 20.Juni
Den Vorgarten sauber gemacht. Vom Abzug der Russen keine Spur. Ihr Badeleben uns gegenüber hat nicht nachgelassen. Für Freitag ist ein großes Fest angesetzt worden, für das tausende von Rosen bestellt sind. Von drüben soll rüber gerufen sein: „Morgen kommen wir.“ Ich glaube es nicht. Dieses Hin- und Her geworfen werden wird geradezu unerträglich. Es ist wahr, warum sollten die Amis für uns ein besonderes Interesse haben? Was liegt ihnen an uns? Und so erlösen sie uns nicht aus der fürchterlichen Zwickmühle.
Donnerstag, den 21.Juni
Heute um 9Uhr sollte die Brücke geöffnet werden. Frl. Oelschnig war so unruhig und hoffte bestimmt, sie käme rüber, daß sie nicht zum Zahnarzt ging. Um 9Uhr und um 10Uhr standen sie am Schlagbaum, aber- nichts rührte sich. Der russische Posten blieb hart und unerbittlich. Er ließ niemand, selbst eine Krankenschwester mit Erlaubnisscheinen- nicht durch. Kein Ami ließ sich blicken. Die Musik spielte für die Ostarbeiter, die mit Lastautos nach Osten befördert wurden, aber kein Lied, kein Marsch ertönte, um uns zum Empfang zu begrüßen. Und wieder hieß es: Monatelang kann dieser Zustand noch dauern. Mich selbst ergriff ein Gefühl trostlosen Abgeschnittenseins, als ich heute von Cracau zurückkommend an der Zollbrücke Ecke Mittelstraße von Glockengeläut von drüben begrüßt wurde. Von den Ulrichstürmen herüber riefen die Glocken. Oh, daß ich rüber könnte, um bei Pastor Zuckerschwerdt Worte des Trostes zu hören. Die Psalmen sind meine Lieblinkslektüre. Sie bringen all das, was ich schmerzlich empfinde, was ich hoffe und glaube, zum Ausdruck. Um ¾ 7 kam Frl. Casper und sagte, daß Gisela und Frl. Reps drüben am Fürstenwall ständen. Bettk. und Ute gingen gleich hin und tatsächlich standen G. und Frl. Reps am Ufer. Sie riefen, daß es ihnen gut gehe und Herr A. sich nach Hause sehne. B. konnte nur ganz wenig antworten, weil gerade vor ihr 3 Frauen, die rüber gerufen hatten, von Russen abgeführt waren. Es kam auch schon der Posten und vertrieb B. und Ute. B. war glücklich, G. gesehen zu haben, aber ganz besonders freute sie sich, daß die Engländer bis zum 26. Magdeburg ganz haben sollten, denn dann stand der endgültigen Vereinigung nichts mehr im Wege.
Freitag, den 22.Juni
Zum Zahnarzt zur Bestrahlung, der Wurzelentzündung. Ist es nicht schrecklich, aber schon wieder ist die Hoffnung von gestern um mehrere Grade gesunken. Freiwillig scheint der Russe nicht zu gehen und so kommt es wieder leicht sehr bald zu Kampfhandlungen. 1000 Deutsche sollen sich bereits einverstanden erklärt haben, gegen Russland zu kämpfen. In Möser sollen die Engländer Flugblätter runter geworfen haben, auf denen stand, man solle sich luftschutzbereit halten. In Krakau dagegen sind Anschläge, die ankündigen, daß der Russe über die Elbe geht. Die Gerichtsräume sollen in die Karl-Marx-Schule verlegt werden. Die festen Keller darunter sollen Gefängnis werden. 40 Betten haben sie schon aus der dort befindlichen Rettungsstelle geholt. Der Unterricht ist von einem GPU-Mann, dem russischen Kommandanten und deutschen Kommunisten besucht worden. Es ist alles schrecklich.
Sonnabend, den 23.Juni
Zur Bestrahlung zu Dr. Klöpper. Das Rosenfest hat gestern nicht stattgefunden. Die englischen Offiziere sind erschienen. Wieder ein Zeichen für gespannte Stimmung. Es sollen 300 Wohnungen in Magdeburg-West frei gemacht werden für die Engländer, die mit ihren Frauen darin wohnen wollen. Ein Zeichen dafür, daß die Engländer nicht an Abziehen denken. Der russische Kommandant soll gesagt haben: „In wenigen Tagen geschieht etwas, worüber sich die Bevölkerung freuen wird“. Ob er das Freigeben der Brücke meint? Wer sie freigeben wird, bleibt immer noch Frage. Der russische Militärkommandant ist gestern Abend in die Gartenstraße gezogen. Die Bewohner mussten innerhalb von 10 Min. das Haus verlassen. Sie durften nicht einmal fertig essen. Für einige Tage will er wohnen bleiben. Bürgermeister in Magdeburg-West ist der Halbjude Lehfeld. Sein Bruder war Arzt in Magdeburg vor 1933. Alle Oberschulräte sind abgesetzt worden. Er empfängt keinen Parteigenossen, allerhöchstens solche, die nach 1938 eingetreten sind. Briefe nach Magdeburg kann man den amerikanischen Autoführern mitgeben, die die Ostarbeiter über die Brücke fahren. Sie bringen auch Briefe aus Magdeburg hierher mit. So haben Bettk. und Frl. Oelschnig vor einigen Tagen Briefe von Herrn A. über Frl. Osterroth und Herrn Oelschnik erhalten.
Sonntag, den 24.Juni
Heute Nacht schreckte uns eine tolle Schießerei drüben in den Kasernen auf. Ich sah aus dem Fenster und konnte 2 große Feuerherde feststellen. Die roten Feuerrauchwolken stiegen hinter der Kaserne auf und spiegelten sich im träge dahin fließenden Wasser der Elbe. Der Mond stand im Südwesten blutrot am Himmel. Im Vorgarten gearbeitet. Am Nachmittag geschneidert. Gegen Abend erlösendes Gewitter. Wir sind alle sehr niedergeschlagen und haben so gut wie gar keine Hoffnung, daß die Engländer kommen werden.
Montag, den 25.Juni
Zur Bestrahlung und Behandlung beim Zahnarzt. Allgemein heißt es in Krakau, der Russe geht rüber nach Magdeburg und noch weiter bis Braunschweig. Bettk. so verzweifelt, daß sie in der Nacht kaum schläft. Herr Gundlach wird von deutschen Kommunisten zur Seestraße abgeführt, weil er beim Friseur den „Führer“ in Schutz genommen hat. Er wird freigelassen, weil er zur Partei gehört hat. Am Nachmittag im Garten genäht. Wiederholt kommen Russen im Kahn rüber gefahren und holen sich aus unserem Garten Blumen und Obst. Auch wenn ich im garten bin, kommen sie ohne fragen rein und zeigen auf die rote Rose mit den Worten „Rose rot“, dann muß ich sie ihnen wohl oder übel geben; auch meine gelbe musste ich abpflücken. Nun zeigten sie auf die weißen Rosen im Nachbargarten mit den Worten: „Weiße Rose auch du?“ d.h. gehören dir die weißen Rosen auch? Ich sagte: „Nein“ Sie wisse genau, daß sie aus den Garten nichts stehlen dürfen und deshalb lassen sie die Blumen sich- wenn jemand zugegen ist- „schenken“. Ein anderer klaute die Kirschen von Frau Flügel und 2 Ukrainerinnen hatten einen kleinen Eimer voll unreifer, grüner Äpfel. Ein dritter wollte von mir Streichhölzer. Als Eva Kellermann einem Spitzbuben sagte: „Freundchen, du weißt genau, daß du nichts nehmen darfst“, antwortete er prompt „Halt deine Schnauze.“ Es sind sehr kräftig gebaute kleine gesunde Kerle mit blondem Haar und blauen Augen. Sie lieben dicke, rundliche Mädchen mit roten Backen. Die sibirischen Russen sind die angenehmsten. Die mongolischen sind weniger sympathisch.
Dienstag, den 26.Juni
Wie Tag und Nacht wechseln, so wechselt unsere Stimmung. Gestern- zu Tode betrübt, heute- himmelhochjauchzend. Im ½ 10 frühmorgens brachte man uns folgende Botschaft: Der Oberbürgermeister der Stadt Magdeburg Herr Lehfeld war heute früh auf dem Werder beim Kommandanten und in 2 Tagen soll die Brücke freigegeben werden. Herr Fuhlrott selbst- unser Bürgermeister- hat die Nachricht bestätigt. 16 bis 20 amerikanische Wagen soll gestern durch Friedrichstadt nach Berlin gefahren sein, denn in Berlin wollen Russland, England und Amerika gleichzeitig herrschen. Man merkte heute früh eine Veränderung in der Stimmung der Leute, 2 Arbeiter strahlen, Frauen sagten: „Wenn der Engländer kommt, dann umarmen wir uns“. Oder zu mir: „Sie bereiten wohl alles zum Empfang der Engländer vor?“ (ich arbeite im Vorgarten). Die jungen Mädchen und Burschen riefen erregt: „Da ziehen Soldaten über die Brücke. Kommt wir wollen sehen, ob es die Engländer sind.“ Oh, daß wir nicht wieder enttäuscht werden! Während ich schreibe, springen 2 Russen über unseren Gartenzaun und stürzen sich auf die Erdbeeren. Zum Glück habe ich die reifen gerade vor 2 Stunden abgepflückt. Sie räubern noch in Gräbners und Meyers Gärten. Wie sich wohl die englischen Soldaten benehmen werden? Ich wünschte, wir wären 2 Tage weiter. Drüben grölen die Russen ihr Abendlied mit eintöniger Melodie. Vor unserem Haus radeln noch immer junge Leute auf geklauten Damen- und Herrenrädern.
Mittwoch, den 27Juni
Im Garten gearbeitet. Am anderen Ufer haben die Russen eine Waschanstalt hergerichtet. 3 große Kessel sind ständig in Gang. 5 lange Holzstege führen in den Fluß hinein, die mit einen Quersteg verbunden sind. Hunderte von Frauen und Männer waschen täglich dort ihre Hemden und Hosen, die gleich am Strand getrocknet werden, - die russische Nationalhymne kommt nicht aus den Sinn, den ganzen Tag lang spielt eine Blaskapelle zum Empfang der der Rückgeführten russische Märsche, die auf die Dauer sehr eintönig klingen-. Kein Anzeichen eines Abzuges zu beobachten.
Donnerstag, den 28.Juni
Freudige Stimmung herrscht bei den Leuten. „Die Engländer kommen bestimmt“ so heißt es jetzt überall auf dem Werder und auch in Krakau. Am Sonnabend Nacht oder Sonntag sollen die Russen abziehen und die Brücke soll freigegeben werden. Zuerst sollen die Schwerverwundeten, dann die Konzentrationsleute, dann die, die über Magdeburg hinauswollen und schließlich wir drankommen. Die geleistete Arbeit wird rückwirkend für Juni bezahlt. Die deutschen Kommunisten bezahlen für die Stunde 30 Pfennig, die Russen bezahlen besser. Man erhält den Lohn, den man vorher erhalten hat. Es wird nur die tatsächliche geleistete Arbeit bezahlt. Jede Frau und jeder Mann hat eine „Arbeitsnachweisung“, auf der täglich die Zahl der Arbeitsstunden vermerkt wird. Die Frauen haben 6 Stunden am Tag zu arbeiten, die Männer auch 6 Stunden. Die Lehrerinnen haben 18M für die Woche erhalten. Um ½ 7 gingen wir zum Elbufer (Egeln) uns sahen zu unserer Freude Herrn Hanewald am anderen Ufer stehen. Wir winkten, rufen durften wir kein Wort, von weitem beobachteten uns 3 russischen Posten.
Freitag, den 29.Juni
Utes Geburtstag gestaltet Bettk. zu einem wirklichen Festtag. Ein reicher Geburtstagstisch grüßt Ute, als sie von der Arbeit nach Hause kommt. Sie ist ganz glücklich. Nach einem sehr guten Mittagessen mit Wehrmut und Apfelsaft und Kirschen mit Schlagsahne folgt um 5Uhr ein gemütliches Kaffeetrinken, zu dem Frl. Liebing, die auch Geburtstag hat, eingeladen worden ist. Wir schwelgen in Kirschtorte mit Schlagsahne und Mohntorte. Die 7.Division und ein Panzerregiment der Engländer sollen durch Friedrichstadt gezogen sein. Manche sagen, sie zögen nach Berlin, andere dagegen behaupten, daß sie den Russen von hinten einschließen wollen und auf diese Weise z.B. die geraubten Kühe wieder zurücktreiben wollen. Ein großer Güterzug mit Zucker als Ladung soll schon umgekehrt sein. Auch die Maschinen soll der Russe nicht alle wegschaffen; denn vertragsgemäß gehört den Engländern Magdeburg und Umgebung. Für uns sind dies alles gute Anzeichen für eine baldige Regelung der Dinge.
Sonnabend, den 30.Juni
Gegen 3 Uhr Nachts hörte ich Schritte näher kommen. Ich lief ans Fenster und sah in der frühen Dämmerung 30 bis 35 russische Soldaten schweigend in einer geordneten Kolonne vorbeiziehen. „Morgen wird der Werder russenfrei sein“ sagte ich mir freudig erregt. Nach 1 Stunde kam ein 2 Trupp mit Schippen auf den Schultern vorübermarschiert. Auf der Kommandantur hat man unsere Passierscheine zu unserem Leidwesen bis zum 15. Juli verlängert. Die Russen sind zäh und hartnäckig, aber einmal werden sie die Brücken doch freigeben müssen. In der Zwischenzeit aber erleiden wir wahre Folterqualen. Wenn das Thema auf Politik kommt, dann schweigen sie eisern oder fangen sofort ein anderes Gesprächsthema an. Die Haltung scheint strengstens anerzogen zu sein. Churchill hat folgendes Wort an den englischen Soldaten in Feindesland gerichtet: „Den Deutschen muß gründlich klargemacht werden, daß sie militärisch besiegt sind. Der englische Soldat, der kinderlieb ist und das Lächeln der Kinder gern erwidern möchte, soll es nicht tun, um zu verstehen zu geben, daß die Deutschen die Besiegten sind.“
Fortsetzung folgt
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Im Garten gearbeitet. Am Nachmittag genäht und gelesen. Große Trupps von Amis und Engländern durch Friedrichstadt nach Berlin gezogen. Um 5Uhr Besprechung zwischen Amis, Engländern und Russen an der Friendship Bridge.
Montag, den 2.Juli
Zwei entgegengesetzte Meinungen werden laut. Die einen sagen, der Russische, Luxemburger und Schweizer Sender hätte bekannt gegeben, daß Magdeburg den Russen übergeben sei. Der Oberbürgermeister Trompa von hier sei mit den Russen und Dolmetschern rüber gegangen. Die anderen sagen, die Russen zögen durch Magdeburg hindurch und würden von Sudenburg und Buckau verladen, um dann weiter nach Leipzig und Chemnitz zuziehen. Deshalb hätten die Magdeburger 3 Tage Ausgehverbot. Nur von 8Uhr-9Uhr und 3Uhr-4Uhr dürfen sie die Häuser verlassen, um ihre Einkäufe zu erledigen. Alles, was die Russen an Pferden und Kühen usw. mit sich fortschleppen, nimmt ihn der Engländer drüben weg. Während der russische Zug wie ein elender Flüchtlingszug mit ihren kleinen Panjewagen und den Kühen und Pferden aussah, imponierte die Westmächte uns mit ihren schönen Wagen und seht gut ausgerüsteten Mannschaften. Der Ami behält unsere Währung bei und lässt auch unsere Papiere bestehen, weil wir in erster Linie Inlandsschulden und keine Auslandsschulden haben.
Dienstag, den 3.Juli
Wir sind bis in unseren Tiefen aufgerüttelt. Enttäuschung, Grauen, Entsetzen, Mutlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, alle diese Gefühle streiten miteinander. Wir befinden uns in einer Gemütsverfassung die uns fast zu Boden drückt. Die Leute glauben, was die Sender gesagt haben, sie glauben, daß Magdeburg russisch wird. Die englische Fahne ist fort, die rote Fahne weht am hohen Mast drüben auf einem Gebäude neben dem Dom. Der Oberbürgermeister Lehfeld ist abgesetzt worden, weil er bei der Gartenstadt Reform ein großes Transparent hat anbringen lassen, auf dem stand: „Ein herzliches Willkommen der siegreichen Roten Armee.“ Wir jedoch klammern uns noch immer an den seidenen Faden der Hoffnung, daß die Russen nur durchziehen, daß eine Sendung gesagt haben soll: Glaubt nicht den falschen Propagandanachrichten. Wir hoffen noch auf ein Ultimatum, das die Engländer stellen werden, wie seinerzeit in Altona, wo sie schließlich mit Flugzeugen sind und die Russen zur Vernunft gebracht haben. Ein Mann ist von drüben zu uns geschwommen, weil man ihm erzählt hat, in Krakau lägen die Leichen auf den Straßen. Man glaubte nicht allen Gerüchten! Morgen soll amtlich die Entscheidung bekannt gegeben werden. Wehe uns Besiegten! So schrecklich habe ich es mir nicht vorgestellt. Diese Ohnmacht, diese Wehrlosigkeit liegen wie eine ungeheure Last auf mir. Das erschütternste Bild aber, das Frau Else Azzalino gesehen hat, war, als sie auf der Landstraße von Biederitz nach Magdeburg ging und ihr der Zug der deutschen verwundeten Soldaten aus dem Margarethenhof begegnete, an deren Spitze deutsche Ärzte wie Dr. Schöller und Ohnacker, geführt von bewaffneten russischen Soldaten. Auf dem Wege in russische Gefangenschaft. Arme Menschen. Und auch hier ohnmächtig müssen wir das alles über uns ergehen lassen. Gott sei uns gnädig.
Mittwoch, den 4.Juli
Heute werden wir wohl die Entscheidungsstunde erleben. Mir bangt davor; denn in ihr wird unser zukünftiges Leben entschieden, unser Schicksal besiegelt. Werden wir russisch, dann haben wir nichts Gutes zu erwarten. Keinen Verdienst als Lehrerin an einer höheren Schule, Verlust unseres Vermögens, weniger zu essen, Niedergang unseres Lebensstandards, schlechte Wohnverhältnisse, keine Aufbaumöglichkeit, Herrschaft der deutschen Kommunisten. Mit diesen traurigen Gedanken schlief ich ein. In der Nacht hatte ich seltsame Träume. Ich sah Mutti, Elichen und Georgi. Georgi lag im Bett, todkrank. Leiderfüllt, innerlich weinend erwachte ich herzklopfend. Mutti war im Wohnzimmer. Die Uhr vor ihr auf dem Schreibtisch. Es war 5Minuten vor 5Uhr. Bis ¾ 6Uhr sollte ich Mutti noch haben. Ich musste aber Eli zur bahn bringen und plötzlich, als ich mit ihr im Abteil war, fuhr der Zug ab. Mich packte der Schreck. Mutti! Sollte ich zu spät zurückkommen? Bis Neustadt fuhr ich mit und dann lief ich auf Zügen, die Straßen vermeidend zurück. Im Wohnzimmer zeigte die Uhr 5Minuten nach 5Uhr. 10 Minuten hatte ich am kostbaren Zusammensein mit Mutti versäumt. Das Qualvollste war beim laufen die Angst ich könnte zu spät heimkommen und der ständige Gedanke: Was wolltest du Mutti noch Gutes und Liebe geben? Du wolltest ihr doch dies und dies und dies noch sagen, ließ mich heiß und kalt werden. Es sind die Gedanken, die mich tagsüber quälen. Ich hätte ihr noch viel zu sagen. Sie noch mehr zu fragen. Und ein viertes Bild sah ich vor meinem inneren Auge. Ich saß auf einer Bank. Ich saß auf einer Bank vor Holtermanns Laden, der hell erleuchtet war. Rechts vorn stand ein Christusbild, der Christus, wie ich ihn Sonntags in der Ulrichskirche vom Altarfenster auf mich nierderschauen sah, Christus, der mit ausgebreiteten Armen auf zum Himmel fährt. Aus dem Bild heraus sprach Christus zu mir. Was? Das ist versunken. 10Uhr abends. Eine Entscheidung ist noch nicht gefallen, aber aus dem Hoffnungsschimmer ist wieder wirkliche Hoffnung geworden. Heute früh soll der englische Sender nochmals vor der falschen russischen Propaganda gewarnt haben. Es heißt, die Russen sind nur auf der Durchfahrt durch Magdeburg, nach Leipzig. Die 2 roten Fahnen wehen auf den Häusern des Kommandanten, der die Überführung zu leiten hat. Der Oberbürgermeister Trompa von hier, war noch gar nicht drüben (gutes Zeichen). Die deutschen Kommunisten in der Seestraße sind gedrückter Stimmung. Wenn wirklich die Engländer kämen, geht es ihnen nicht gut. Herr Klöpper war heute mit einem russischen Major drüben. Er erzählte, das sehr viele Engländer drüben wären (wieder ein gutes Zeichen). Und schließlich haben wir gesehen, wie Russen die Telefondrähte in der Friedrichstadt abmachten (3.gutes Zeichen). So hofften wir von neuem zum ich weiß nicht wievielten Male. Wenn die Engländer wüssten, wie sehnlich sie erwartet werden: Ein junges Mädchen sagte mir: „Ich habe wieder angefangen, heiß zu beten“ Frl. Franke ist mir ein Beispiel für Hunderte. Alle beten: Der Herr möge uns vor den Russen bewahren. Das Unberechenbar, das Undurchschaubare ihrer Handlungen, die absichtliche Unklarheit, in der sie ihre Leute sowohl wie uns lassen, all diese Momente machen uns nervös und unruhig. So ist uns völlig rätselhaft, warum seit 6Uhr 2 leerstehende Villen in der Oststraße von 30 Russen bezogen werden. Lastautos brachten Betten, Bettgestelle, Kisten und Kästen zu den Häusern. So werden wir stehts in Spannung gehalten und abends ersehnt man den morgigen Tag und morgens erwartet man ungeduldig das Hereinbrechen der Dunkelheit.
Donnerstag, den 5.Juli
Sperrholz besorgt, Mohrrüben geputzt. Wir bekommen überreichlich Mohrrüben und Kohlrabi. Das große Bund 1.15. Schlechtes Wetter. Es regnet jeden Tag uns ist so kalt wie Anfang September. Es sind an die 70 Russen heute auf dem Werder untergebracht worden. Frau Osterroths Wohnung ist nun auch geplündert. 7 Russen haben dort über Nacht gehaust. Es handelt sich um ein Brückenkommando. Die Eisenbahnbrücke, die nach Berlin führt, soll repariert werden, damit die Russen ihre Transporte bequemer von Berlin nach Leipzig ausführen können, 2 Monate werden sie hierbleiben. Es fragt sich nun, ob bis dahin die Brücke nach Magdeburg gesperrt bleiben, wir also wieder weiter warten müssen. Er ist zu trostlos.
Freitag, den 6.Juli
Wenn ich mitten in der Angst wandle, so erquickst du mich und stecke deine Hand über den Zorn meiner Feinde aus und hilfst mir mit der Rechten (Ps.138,7). Ich gehe oder liege, so bist du um mich und sichtest alle meine Wege (Ps.139,3). So lese ich alltäglich und bitte um Kraft, diese Zeit zu bestehen, bis ich Nachricht von Eli und Georgi habe und Muttis Grab in Ordnung gebracht habe. Sonst hält mich nichts mehr hier. Und doch habe ich es noch 1000x besser als all die gejammernswerten Flüchtlinge drüben in Krakau, die tagelang mit Kindern und Koffern gelaufen sind, um ermattet vor der Zollbrücke niederzusinken auf Steinen, Brettern und Drähten, um zu erfahren, bis hierher und nicht weiter. Die Elbe trennt alle von den geliebten Angehörigen oder der so heiß ersehnten Heimstätte. Hunderte und Hunderte warten schon 5 Wochen lang, kümmerlich ernährt, notdürftig untergebracht in Lagern. Viele haben versucht, mit einem Treck mitzufahren, andere versuchen einen Fährmann mit einer Flasche Wodka oder einer Uhr zu bestechen, damit er sie ans andere Ufer setze. Wieder andere klettern über die Königsbrücke. Eben erfahren wir, daß der Russe allein in Magdeburg sei, daß kein Engländer mehr zu ssehen sei und die Wachposten nur Russen seien. Ist unser Schicksal nun besiegelt? Mit Zähigkeit sträubt sich alles in mir, dies anzuerkennen. Außerdem wird gesagt, das Magdeburg eventuell international werden soll, weil es ein wichtiger Knotenpunkt Mitteldeutschlands sei und den Mittellandkanal beherrscht. Am 12.Juli sollen alle Verkehrswege in Deutschland freigegeben werden: also auch unsere Brücke. Bis Hannover Braunschweig sollen sich die Engländer zurückgezogen haben. Eine internationale Kommission soll Deutschland bereisen und nach dem Rechten sehen. Das wären Lichtblicke im Dunkel. Aber ehe es bis dahin kommt, werden Wochen und Monate vergehen. Verhandlungen und Besprechungen werden kein Ende nehmen. Uns wird man wie unmündige Kinder behandeln, wir haben zu warten, zu schweigen, zu erdulden.
Sonnabend, den 7.Juli
Mohrrüben geputzt. Englisch vorgelesen. Frl. Oelschnig nach Gommern zu Schwantes gefahren. Sehr ruhiger Tag. Nichts Neues erfahren. Der Brückenbau hat begonnen. Mächtige Baumstämme, Maschinen usw. werden auf schweren Lastern zur Pionierbrücke gebracht. Alle Wagen fahren die Lingnerstraße, dann die Oststraße entlang an unserem haus vorbei.
Sonntag, den 8.Juli
Besuch von Gisela Wielemann, die ihre Eltern beim Terrorangriff am 6.II. verloten hat. Nachmittag bei Frau Hopstock. Kühles Wetter. Es wird erzählt, daß gestern kein Engländer in Magdeburg zu sehen sei. Heute sagt man, es seien 300 Kanadier angekommen und die rote Fahne an der Brücke sei fort. Hunderte von Franzosen warten darauf, rübergeschleust zu werden. Große Trupps von deutschen Soldaten sind hierher gebracht worden, um am Brückenbau zu helfen. Die Wachposten erlaubten, daß deutsche Mädchen ihnen Schuhe und Zigaretten gaben. Es ist aber ein erschütterndes Bild, unsere Soldaten von Russen bewacht, als gefangene durch die Straßen ziehen zu sehen.
Montag, den 9.Juli
Vorgelesen. Frau Nister aus Möser, Frl. Oelschnig zurückgekommen. Keine neuen nachrichten. Seit gestern Abend ist die Lange Brücke geöffnet. Wir können nach Friedrichstadt und Krakau ohne Passierschein. Erweckt größereHoffnungen
Dienstag, den 10.Juli
Mit frl. Erika Medem, die aus Möser gekommen ist, nach Cracau gegangen. Die Schwester erzählt, daß die Sterblichkeit sehr gestiegen ist. Besonders viele Flüchtlinge sterben. Kinder von einem Jahr, Frauen im besten Alter, Männer und alte Mütterchen siechen dahin. Immer noch große Unsicherheit, ob die Russen oder die Engländer drüben sind. Die meisten Leute glauben, daß nur noch Russen in Magdeburg sind. Ja man sagt sogar, daß der Harz und die ganze Provinz Sachsen in russischen Händen seien. In den Dörfern sind die Vergewaltigungen doch recht arg gewesen. In Biederitz ist eine von meinen Schülerinnen (Eggert) aus der 7b vergewaltigt worden und eine Schülerin aus der Luisenschule Fr. Mittelstraß (geb. Liselotte Lindau) hat sich allabendlich mit 6- und 3jährigen Kindern im Schweinestall versteckt. Die Russen hatten alle Schlüssel des hauses und der Zimmer weggenommen. Am tage spionierten sie aus, wo Frauen lebten, um dann nachts einzudringen. Mädchen werden in einer Nacht oft 2-3mal vergewaltigt. Am Abend wird uns als gtößte geheime Nachricht mitgeteilt, daß heute Abend um 11Uhr die Brücke freigegeben werden soll. Frl. Oelschnig packt noch spät abends ihre Sachen. Ich glaube nicht daran.
Mittwoch, den 11.Juli
Um 9Uhr waren wir an der Brücke. Ein Bild zum Erbarmen. Aber weder der Russe noch der Deutsche noch der Engländer zeigt Erbarmen. Viele Menschen, Frauen und Kinder in der Mehrzahl mit Kinderwagen und Koffern und Rucksäcken und Kisten stehen, liegen und kauern jetzt an der Zollbrücke. Nur noch ein paar Meter trennt sie von Magdeburg-West und dennoch wird nicht die Erlaubnis gegeben, die Brücke zu überschreiten. Seit ½ 6 früh warten die armen, ausgehungerten, rohe Mohrrüben kauend, schwer enttäuschten Menschen, warten nun schon bis 5Uhr nachmittags und immer noch hebt sich der Schlagbaum nicht. Gestern hat ihnen der Kommandant an der Brücke gesagt: „Heute noch oder morgen!“ Aber man kann ihm nicht mehr glauben. Nur die ganz verzweifelten rühren sich nicht von der Stelle und warten. 30.000 Franzosen liegen in Krakau, um rübertransportiert zu werden.
Donnerstag, den 12.Juli
Frl. Oelschnig und ich sind allein zu Hause. Da- früh um 8Uhr klopft es und es wird uns zugerufen „Die Brücke ist auf.“ Frl. Oelschnig war sehr aufgeregt und beschloß sofort zu gehen. Sie packte ihre Sachen, aß schnell ein Marmeladenbrot und dann brachte ich sie rüber nach Magdeburg-West. Unterwegs trafen wir viele erregte Menschen und schon strömten die Flüchtlinge hin zur Brücke. Der Schlagbaum war hochgezogen, russische Posten standen auf beiden Seiten, aber wehrten uns nicht mehr ab. Beim Überschreiten der Grenze sage ich zu Frl. Oelschnig „Wir erleben jetzt einen historischen Moment, wonach wir uns wochenlang gesehnt haben, jetzt ist die Erfüllung gekommen. Wir können freier atmen!“ Eine feste Holzbrücke auf Pfeilern mit einem breiten Fahrweg und einem schmalen Fußsteig an den beiden Seiten haben die Amis in 10-12 Tagen gebaut. Ich brachte Frl. Oelschnig bis auf die Westseite, wo ein deutscher Polizist mit weißem Holz, aif dem „Police“ stand, den Verkehr regelte. Ais ich zu Hause ankam, begrüßte ich Bett. voller Freud, denn heute konnten wir mit Sicherheit Herrn A., Frl. Reps und Gisela erwarten, waren sie doch gerade gestern auf 5 Tage nach Magdeburg gekommen. Im Laufe des Tages folgte nun ein Besuch dem anderen. Und wirklich erschienen unsere Wilslebener. Bett. war überglücklich. Um 7Uhr russischer Zeit, 6Uhr deutscher Zeit wurde die Brücke wieder gesperrt, um am folgenden Morgen um 5Uhr abermals geöffnet zu werden. So mussten uns unsere Besucher verlassen. Ob wir nun einer besseren Zeit entgegengehen? Ob wir für immer vereint bleiben? Ob noch Engländer drüben sind? Ob georgi und Dora endlich hzu uns kommen werden?
Freitag, den 13.Juli
Im Haus gearbeitet. Die Wilslebener kommen wieder rüber. Viel Besuch. Mein erster gang rüber.
Sonnabend, den 14.Juli
Ute verlässt uns. Sie fährt nach Seehausen zu ihrem Vater. Am Nachmittag bei Frl. Grimm, um etwas über unseren Einsatz zu erfahren. Die Brücke führt mich zu Muttis Grab. Ich konnte von der Ulrichstraße aus mit der 3 bis zum Friedhof fahren. Ich fand die Gräber zwar sehr verunkrautet vor, aber sonst in Ordnung. Ich weilte lange dort, hoffend, daß auch ich bald die ewige Ruhe finden würd, um zu Mutti zu kommen, dankbar, daß sie ruhen darf und die entsetzlichen Zeiten nicht miterleben braucht. Von der Strombrücke bis zum Fürstenwall zog sich ein endloser Flüchtlingszug entlang. In Güterwagen waren Frauen, Männer und Kinder aufs allernotdürftigste untergebracht. Sie lagen auf Säcken, Kisten oder Koffern oder hockten auf dem Wagenboden. Da es glühend heiß war, suchten sie Kühlung unter den Waggons oder lehnten an der Fürstenwallmauer sitzend auf den nackten Pflastersteinen und schmutzig sahen sie aus! Keks und Wasser wurde verteilt, Verletzte wurden verbunden. Es war ein Bild größten Jammers.
Sonntag, den 15.Juli
Gemüse geputzt. Am Nachmittag zu Hennebolds, die aber nicht zu Hause waren.
Montag, den 16.Juli
Auf der Schulbehörde bei Steffens und Dr. Beck. Schliepake erzählt, daß das Bergwerk, in dem 400m unter der Erde das Museum untergebracht waren, in Brand gesteckt worden ist. Aus Halle hat der Ami die naturwissenschaftliche Abteilung und aus Berlin hat der Russe den Inhalt des Kaiser-Wilhelm-Instituts (Forschungsinstitut) mitgenommen. Am Nachmittag bei Hennebolds, die sehr freundlich waren.
Dienstag, den 17.Juli
Herr „Superintendant“ Zuckschwerdt in der Werner-Fritz-Straße aufgesucht. Nur Frau Zuckschwerdt gesprochen. Als ich zum Geburtstag gratulierte, sagte sie mir ganz traurig: Es ist 12 Jahre zu spät gekommen. Von Ernst keine nachricht. Sie haben alles verloren. Die Engländer verhandelt nur mit der BKRichtung der Kirche. Eine evangelische Kirche ist noch nicht gegründet.
Mittwoch, den 18.Juli
9.50Uhr Abfahrt nach Haldensleben. Überfüllter Zug. Ankunft: 12.15Uhr russischer Zeit. Alles empfing mich erfreut. Alles war in Ordnung. Keine Bombe gefallen. Ilse sehr lieb. Nur Arnds waren noch da. Sie suchen in Magdeburg eine Wohnung.
Donnerstag, den 19.Juli
Gebadet. Im Garten Obst (Himbeeren, Johannis- und Stachelbeeren) gegessen Radio um 1,3 und 9Uhr russischer Zeit gehört. Zusammenkunft in Potsdam. Großes Banquet. Ernährungsfrage Berlins, Treibstoffversorgung. „Die Deutschen werden im Winter hungern, aber nicht verhungern.“ In Hamburg ist die Schule für 10.000 eröffnet. Soll für 100.000 eröffnet werden. Leben rege in H.
Freitag, den 20.Juli
Gerücht: Die Engländer kämen spätestens 25.VII. Haben aus der Heilstätte die deutschen Verwundeten geholt, damit sie nicht in die Hände der Russen fielen. „In 8 Tagen kommen wir wieder“ gesagt. Von keiner Plünderung und Vergewaltigung gehört. Russe zahlt gut. ½ l Milch 10M. Russe: „Frau hier bleiben. Russe tut nichts. Russe gut“. Russe sah ein Motorad auf dem Gut und sagte: „Nicht zum Kommandanten gehen. Nur mal spazieren fahren. Bringe mit Kanne zurück.“ Brachte es auch mit 1 Kanne Öl zurück. Verordnung: Mehr als 5 dürfen nicht zusammen stehen.
Sonnabend, den 21.Juli
Im Garten geschrieben. Seit gestern Mittag die Möglichkeit, innerhalb der Postleitzahl 19 zu schreiben (Provinz Sachsen). Ich schrieb gleich an Georgi und Frau Schauths.
Sonntag, den 22.Juli
Bei Pfarrer Merker in der Kirche. Im Garten mit Ilse.
Montag, den 23.Juli
Mit Auto um 8Uhr russischer Zeit. Abfahrt ½ 8Uhr deutscher Zeit angekommen. Ein Mann nahm mein schweres Gepäck auf seinen Wagen. Besuch bei Dt. Beck. Einsatz im Arbeitstrupp in der Karl-Marx-Schule.
Dienstag, den 24.Juli
Am Haus gearbeitet. 20% Möglichkeit, daß die Engländer kommen.
Mittwoch, den 25.Juli
In der Schule aus Lese- und Rechenbüchern das „nationale Gedankengut“ mit der Schere entfernt.
Donnerstag, den 26.Juli
Schule, Zahnarzt, Hennebolds.
Freitag, den 27.Juli
Schule. Um 3Uhr kamen Georgi und Dora völlig erschöpft aus Genthin an. Meine Freude war unbeschreiblich groß. Tief dankbar begrüßte ich beide. Sie haben in Kl. Wusterwitz schlimme Zeiten verbracht und haben ihren gesamten Schmuck und ihr bares Geld verloren. Außerdem sind meine Koffer und Körbe geplündert worden, was mir sehr schmerzlich ist, denn nun habe ich meine guten Sommerkleider, meinen schönen warmen Morgenrock und Schuhe verloren. Hätte ich doch…hätte ich doch die Sachen nicht mitgegeben: Aber die Freude Georgi und Dora wiederzuhaben ist größer als der Verlust an den toten Dingen. G. und D. waren allein im Keller der Molkerei als die Russen eindrangen, man fand einen Staubsauger mit Staubbeutel und glaubte, es sei eine Waffe!!! Außerdem sagten die Russen, sie gäben der deutschen Artillerie, die dicht neben dem Haus ihre Kanonen aufgebaut hatten, Zeichen. Deshalb zerrte man sie aus dem Keller und stellte sie an die Wand, um erschossen zu werden. Noch rechtzeitig erkennt ein etwas intelligenterer Russe, daß der Staubsauger keine Waffe sei und Gott sei Dank ging das grauenhafte Schicksal noch einmal an ihnen vorüber. Georgi blieb an 10 Tage bei uns. Dora ging zu ihrer Mutter. Frau Ahrb. War rührend gut zu ihm und auch ich war glücklich, ihn ein bisschen hegen und pflegen zu können, war er doch sehr, sehr elend. Es gelang ihm, in der Mittagstraße bei Frau Licht 2 leere Zimmer bekommen und dort zogen sie nach 10 Tagen ein. Herrn Hanewalds Möbel stehen ihnen zur Verfügung.
Sonnabend, den 18.August
Es sind 3 Wochen vergangen, seidem ich das letzte Mal schrieb, hat sich im wesentlich nicht viel verändert. Die Russen sind noch immer da. Geredet wird, die Engländer kämen, aber der Termin wird von Tag zu Tag weiter hinausgeschoben. Sonntags ist Pflichtarbeit für alle von 8Uhr-12Uhr (Männer von 15.-60.Jahre, von Frauen von 15.-50.Jahre). Bei Angehörigen der NSDAP ist keine Altersgrenze gezogen. Wir müssen die Straße kehren und Steine klopfen. Frauen der Frauenschaft müssen täglich von 8Uhr-1Uhr arbeiten. Ich arbeite von 10Uhr-1Uhr in der Karl-Marx-Schule unter Rektor Balzer, der sehr nett ist. Ich habe 2b. Es sind 42 kleine Mädchen in der Klasse. Die Arbeit macht mir Freude, nur ist es stimmlich recht anstrengend.
Ende der Tagebuchaufzeichnungen
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