Von der Schulbank in den Krieg und zu Fuß zurück Erinnerungen von Willy Pollex
Gerade mal 17 Jahre Jung war Willy Pollex, als er und seine Klassenkameraden aus der Magdeburger Mittelschule zum Dienst als Flakhelfer verpflichtet wurden. Willy hatte Glück, die etwa 25 Schüler kamen in Barleben zum Einsatz und weil er als einziger aus dem Ort stammte, durfte er öfter mal nach Hause. Außerdem hatte er bei seinem Vorgesetzten - wie man so sagt - ein Stein im Brett. Pollex war als Heimischer gleichsam Bote in Liebesdingen. „Mein Kommandeur, Leutnant Franzl Schmied, hatte in Barleben eine Freundin. Wenn er sich mit der verabredet hatte und es kam etwas dazwischen, schickte er mich los, Bescheid zu sagen.“ Als Lohn dafür konnte Pollex daheim bleiben, wenn kein Fliegeralarm war. Aber die „Göbbelschnauze“ - ein Radioapparat – musste ständig laufen, damit die Flakhelfer erfuhren, wann der Feind im Anflug war. Dann hieß es, sofort los zur Flakstellung. Abends rief ihn dort öfter mal sein Onkel aus Cherbourg an. Der leitete bei einer Armeeeinheit einen Fuhrpark und bekam aus erster Hand mit, wenn Flieger in Richtung Deutschland unterwegs waren. „Die Telefonverbindung war so gut, es war, als säße mein Onkel im Nebenzimmer.“ Natürlich wunderten sich die Leute in der Schreibstube, „welche Verbindungen ich nach - oben – hatte. Die wussten ja nicht, wer mich da anruft.“ Eines Tages warb die Wehrmacht den HJler, der in der Flakstellung sowohl das Kommandogerät, eine optisches Messgerät, als auch das Radargerät bediente. Als gut ausgebildeter Mittelschüler mit Fremdsprachenkenntnissen in Englisch, Französisch und etwas Italienisch wurde Willy Pollex bedrängt, den Pilotenschein zu machen. Der junge Mann wollte gern, zumal er auch Spanisch lernen sollte. Dazu aber kam es nicht mehr. Alle Tauglichkeitsuntersuchungen hatte Willy Pollex in Berlin-Tempelhof bestanden, einzig ein Leistenbruch musste operiert werden. Willy kam ins Lazarett nach Staßfurt, wo er sich jedoch erkältete und sehr krank wurde. Aus der Traum von der Pilotenlaufbahn. Statt dessen baute er fortan Düsentriebwerke bei Junkers. Trotz kriegswichtiger Produktion flatterte kurz vor Ende des Krieges die Verpflichtung zum Arbeitsdienst ins Haus. Einige militärische Unterweisungen mussten genügen, dann sollte Willy Pollex von der Elbe bei Arneberg nach Berlin, um die Russen aufzuhalten. „Dabei hörten wir von Westen her schon die Amis schießen. Ich habe einen französischen Karabiner bekommen, der war größer als ich. Ohne Munition. Damit sollte ich die Russen vertreiben.“ Nach Berlin? Das war Pollex nicht geheuer. Mit einem Kameraden aus Angern, dessen Name er heute nicht mehr weiß, und zwei Fahrrädern setzten sie sich von der Truppe ab. Sie ließen sich immer weiter zurückfallen. Die anderen drängten, sie sollten sich beeilen und schneller hinterherkommen. Doch an der nächsten Ecke schlugen die beiden Abtrünnigen eine andere Richtung ein. „Sein Fahrrad hatte Panne und ich eine Luftpumpe. Ein Stück hat es immer gehalten.“ So fuhren sie durch den Wald heimwärts. Plötzlich aber sahen die beiden schon von weitem einen Jeep mit Feldgendarmerie, auch Kettenhunde genannt. „Wir angehalten, die Fahrräder rumgedreht, Mantel runter. Und dann sagten wir, dass die Truppe schon voraus sei und wir hinterher wollen. Kaum war der Jeep verschwunden, wurden die Fahrräder wieder umgedreht und weiter ging es.“ Das Herz klopfte hoch bis zum Hals. Willy Pollex entledigte sich unterwegs seines Karabiners. „In einem Tümpel habe ich ihn geworfen, mein Kumpel schmiss seine Panzerfaust hinterher. Wir wollten das Zeug ja loswerden.“ Ab Angern oder Rogätz zog Pollex dann allein weiter in Richtung Mittellandkanal, heim nach Barleben. Am Kanal aber gab es zunächst kein Durchkommen. Die Durchfahrt war versperrt und immer mehr Leute sammelten sich vor dem verbauten Durchlass. Doch da war ja noch die Eisenbahndurchfahrt etwas weiter östlich. Ein Einheimischer wie Willy Pollex kannte sich aus und hatte wieder Glück: die Durchfahrt war frei. „Die Amis haben auf den Kanal geschossen. Wir mussten uns andauernd in den Graben schmeißen, bekamen aber Gott sei dank nichts ab. So bin ich zu Hause gelandet. Papiere hatte ich keine mehr.“ Wer weiß, ob sie Schüsse wirklich von den US-Truppen kamen oder ob es nicht die Flakhelfer in den Barleber Stellungen waren, die am Kanal amerikanische Soldaten vermuteten? Willy Pollex jedenfalls kam wohlbehalten daheim an. Anstatt sich über die glückliche Heimkehr zu freuen, fuhr der Technikbegeisterte zur verlassenen Flakstellung hinaus. Er wollte sich die Röhren des Radargerätes zum Basteln holen. Schnell hatte er diese Dinger im Rucksack verstaut. Mit dem Fahrrad ging es zurück. Bis plötzlich zwei amerikanische Soldaten vor ihm standen und riefen „Papers, please!“, Papiere bitte. Willy Pollex verstand, was sie wollten, aber er konnte mit Papieren nicht dienen. Daraufhin nahm man ihm den Rucksack ab und brachte den Jugendlichen zur Kommandantur. Einige Tage wurde er dort verhört. „Da saß jemand hinter dem Schreibtisch, der dachte ich sei ein Spion aus Magdeburg. Ich hatte mich auf Englisch verständigt und das war wohl mein Fehler. Der US-Offizier sprach deutsch und meinte: - Wir müssen uns schon einigen, ob Deutsch oder Englisch - . Wir sprechen besser Deutsch, sagte ich.“ Mit dem Gesicht zur Wand musste Pollex seine Taschen leeren und den Inhalt auf den Fußboden legen. Währenddessen spielte sein Gegenüber mit der Pistole. „Ich sagte, er solle sich lieber um die Flakstellung kümmern, da liegt alles voller Granaten. – Was, entfuhr es dem Amerikaner entsetzt, lebende Granaten? Wo ist das? - Dann stieg er in den Jeep und fuhr los.“ In den Bunkern standen die Granaten wie gehabt, immer drei in einem Strohkorb verpackt. Willy Pollex musste weiter ausharren im Arrest. „Bewacht hat mich ein Amerikaner mit Hasenscharte. Er wollte sich mit mir unterhalten über alles Mögliche, über seine Freundin zum Beispiel, und zeigte mir Bilder. Ich verstand ihn wegen seiner Hasenscharte nur schlecht.“ Willy Pollex wurde – wie viele anderen vor und nach ihm – seine Taschenuhr los, eine Junghans mit Kette. Am nächsten Tag jedoch brachte ihm der Amerikaner mit der Hasenscharte die Uhr zurück. „Please, take it!“, bitte nimm, hatte er gesagt und das Willy sie verstecken solle, der nächste gäbe sie ihm bestimmt nicht wieder. Die Uhr steckte sich Willy Pollex in den Schuh. Er besitzt sie heute noch. Vom Arrest in Barleben wurde der junge Mann in den „Roten Adler“ nach Wolmirstedt geschafft. „Der riesige Saal war voller Landser. Auf der Bühne standen Maschinengewehre, hinter denen Amerikaner hockten. Ich habe für sie den Dolmetscher gemacht. Es gab so kleine Pakete, wo alles drin war. Vom Toilettenpapier angefangen, Zigaretten, alles. Diese Pakete wurden verteilt. Jede Nacht gingen deutsche Soldaten über die Dächer stiften. Einmal aber fragten die Amerikaner, wer Klavier spielen könne. Einige meldeten sich, auch Willy Pollex. Was er nicht für möglich gehalten hatte, geschah, kurzerhand wurde ein Klavier hereingebracht und auf die Bühne gestellt. Die sich gemeldet hatten, mussten einer nach dem anderen Nazilieder spielen. „Die Fahne hoch“ und „Deutschland, Deutschland, über alles“ und alle grölten mit. Die deutschen Landser genau wie die Amis. „Die haben sich ein Gaudi daraus gemacht. Unvorstellbar“, sagt Willy Pollex. Als dann ein LKW vorfuhr, hieß es schnell aufsteigen. Eine Fahrt ins Ungewisse begann, zu einem Sportplatz in Herfurth, nimmt er heute an. „Die Nacht war kalt und es standen immer Gruppen von 100 Leuten auf einem Haufen. Sie haben sich aneinander geschubbert und gewärmt.“ Ein LKW nach dem anderen kam und holte Kriegsgefangene ab, während hinterm Zaun ein US-Soldat auf einem Gasbrenner große Pfannen voller Rührei briet. „War ein Ei schlecht, dann kippte er die ganze Pfanne ins Gras. Und uns war ganz übel vor Hunger. – Du musst weg hier - , dachte ich und stellte mich ganz nah ans Tor. Wer vorn stand, wurde schneller weggebracht. Die Älteren, die nicht so zügig auf die Ladefläche kamen, denen hat ein Schwarzer mit dem Knüppel aufs Kreuz gehauen.“ Vom LKW wurde auf ein Zug umgestiegen. Immer 60 Gefangene kamen in einem oben offenen Waggon unter. Es sollte in Bergwerke nach Belgien gehen. Unterwegs, wenn der Zug etwas langsamer fuhr, sprangen etliche Gefangene ab. Die US-Soldaten, die auf den Puffern zwischen den Waggons saßen, schossen mit ihren kleinen Gewehren hinterher wie auf Hasen. „Die wollten aber nicht treffen“, glaubt Pollex. Als der Zug in Münster halt machte, wurden Kisten von einem Verpflegungswagen in die Waggons geworfen. Doch die Behältnisse waren umbunden mit Metallbändern. Niemand hatte etwas zu Aufschneiden dabei, so dauerte es geraume Zeit, bis die Kisten offen waren. Und dann –war saures Fleisch in den Büchsen. Davor ekelten sich die meisten. Willy Pollex aber glaubte nicht daran, dass das Fleisch schlecht war. Sein Hunger war so üb ermächtig, dass er essen musste. Kurze Zeit später hielt der Zug in Nähe eines Friedhofs. Frauen brachten Wasser zu trinken. Es herrschte ein so unübersichtliches Gemenge, dass der Barleber unversehens mit einem Satz vom Waggon sprang und untertauchte, immer noch in Zivilkleidung. Eine MP-Salve fegte über die Köpfe hinweg und jemand rief, dass die Leute weggehen sollten. „Na dann gehen wir eben“, dachte sich der Zivilist Pollex und versteckte sich hinter der Leichenhalle. Zu seiner Überraschung aber standen da schon andere gefangene aus dem Zug. Verständnisvoll sah man sich in die Augen. In den Waggons hatte niemand gewagt, laut von Flucht zu sprechen. Einige Frauen nahmen die Männer mit heim, damit sie sich waschen und rasieren konnten. Nach einer kurzen Rast ging es immer querfeldein mit dem Ziel Heimat. Während wir so liefen, erzählten sich die Flüchtigen ihre Lebensgeschichten. Und so erfuhr Willy Pollex unter anderem, dass einer aus seinem Trupp Panzerfahrer in Russland war und Russisch konnte. „Wenn wir Amis begegneten, dann waren wir einfach Ukrainer und wollten nach Hause. Wie wir so unterwegs waren durch den Wald, hörten wir auf einmal hinter uns Musik. Wir den selben Trick versucht. Ich hatte eine Aktentasche gefunden und da ein paar Stullen drin, die uns geschenkt worden waren. – Was machen wir denn mit dem?, fragte einer der Amis? Ah, let’s go!, lass ihn gehen, antwortete der andere.“ Wieder einmal Glück gehabt. Und die Männer erlebten weitere irrwitzige Dinge. So entdeckten sie auf ihrem Weg eine Baracke voller Musikinstrumente und Noten. Auch ganz neue Taschenrechner, wie sie gerade bei den Nazis aufgekommen waren, lagen dort. Willy Pollex griff sich einen(Er besitzt ihn bis heute und hat den Rechner inzwischen dem Heimatverein Barleben übergeben). Nicht weit entfern von der Baracke, stieß der Trupp auf einen Panzer mit riesiger Kanone. Einen Fahrer hatten sie ja zufällig dabei. „Wir alle rein und ein Stück auf dem Feldweg entlang. Da saßen wir nun im Panzer und der Wald war zu Ende. Was tun?“ fragten sich die Männer. Schließlich war ein großes hakenkreuz auf ihr Gefährt gemalt. Also hieß es wieder aussteigen und den Panzer stehen lassen. Fünfzig Kilometer pro Tag liefen Pollex und seine Kameraden. Er in alten Schuhen mit der Taschenuhr darin. Nur ein kurzes Stück nahm sie ein Traktorfahrer mit, der jedoch die falsche Richtung einschlug, statt nach Osten, tuckerten sie ungewollt nach Süden. Fast hatte Willy Pollex seine erste Anlaufstation erreicht, da traf er im Luisengrund bei Hörsingen erneut auf Amerikaner. „Mein Taschenrechner in der Aktentasche erregte ihre Aufmerksamkeit und ich musste ihnen erst einmal die Funktionsweise erklären. Das war ja was Neues. Die Amis haben fleißig geübt, addiert und so. Mit einem Mal haben sie alles zusammengepackt und meinten nur - Go on! – So kam ich glücklich auf dem Bauernhof meiner Tante in Hörsingen an und blieb dort einige Tage, bevor ich weiter lief.“ Vierzehn Tage war Willy Pollex unterwegs zurück nach Barleben.
Fortsetzung folgt
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Meine Begegnung mit den Siegern Erinnerungen von Hermann Orlamünde
Barleben, Frühjahr 1945. Die Amis und Tommys waren längst über den Rhein, der Russe hatte die Oder überquert und griff Berlin an. Durch das Dorf fuhren jetzt viele Transporte mit Soldaten. Die Männer waren meist nicht mehr so gut gekleidet wie jene, die wir vorher gesehen hatten, sondern ihre Uniformen erschienen uns ziemlich abgerissen und zerlumpt. Welch ein Unterschied zu denen, die ständig im Kino in der Wochenschau zu sehen waren. Eines Tages hieß es, an der Autobahn würden Verteidigungsanlagen errichtet. Mit meinen Freunden lief ich sofort dorthin, um mir das näher anzusehen. Aber von wegen Verteidigungsanlagen! Einfache Schützenlöcher und MG-Nester wurden mit Feldspaten an der Straße zu Magdeburg, gleich hinter der Ziegelei, ausgehoben. Die Jüngsten waren das nicht, die dort herumwuselten und wohl das letzte Aufgebot der Wehrmacht darstellten. Müde und verbraucht sahen die Soldaten aus. Ihre Uniformen hatte man aus allen möglichen Waffengattungen zusammengestoppelt, einige Männer trugen nur eine Binde des - Volkssturm - an ihren Jackenärmeln. Wir traten neugierig näher, um den Grabenden zuzusehen. Einer der älteren Männer setzte sich auf sein halbfertig geschaufeltes Erdloch und schaute uns fragend an. „Jungs, könnt ihr uns nicht etwas zum Essen besorgen? Wir haben schon seit tagen nichts Warmes mehr bekommen“, sagte er. „Ich gucke mal, ob meine Mutter noch was hat“, rief Martin und flitzte nach Hause. Auch die anderen Kinder machten sich auf den Weg. Als Martin wieder an Land kam, hielt er einen Henkelmann in der hand. „Fleisch ist nicht viel drin, aber meine Mutter hat mit der Kelle tüchtig nach unten gelangt. „Schön sämig ist die Suppe“, sagte er und reichte dem Soldaten den in einem Handtuch eingewickelten Topf. Auch andere Landser gesellten sich dazu und zogen ihr Besteck aus der tasche, um sich am essen zu beteiligen. „Kommt mit ibber die Straße!“, riefen einige ältere Jungen. ..Uff die jroße Wiese an’n Sülzejraam, da sinn ville Panzerspähwaren uffjefahrn. Von da aus wollnse die Amis wecke vorn Latz knalln.“ Wieder etwas Neues! Wir sausten über die Chaussee zum Sülzegraben , an den großen Schwarzpappeln, beim Grundstück des – kleenen Fricker - ,(heute abgerissen) standen die SPW’s. Die jungen Panzerfahrer waren beim Munitionieren ihrer Fahrzeuge. „Oh, wir bekommen Verstärkung“, riefen sie erfreut, als sie uns sahen. Wir boten uns an, die Granaten von einem LKW zu den Fahrzeugen zu schleppen. Obwohl die Geschosse nicht groß waren, drückten sie doch sehr auf den Schultern. Die Soldaten nahmen uns die Dinger ab und verstauten sie in ihren Spähwagen. Bald rückte eine Anzahl Hitlerjungen an und nahm uns die Arbeit ab. „Mensch, wenn jetzt die Amis kommen, dann kriegen die aber Zunder“, meinten wir und schlenderten den Breitenweg hinunter ins Dorf zurück. „Na, klar wie Kloßbrühe, so wie die sich getarnt haben! Und dann erst die Landser mit ihren Panzerfäusten!“ Mein Onkel war in seinem garten, als ich ihm meine Erlebnisse an der Sülze erzählte. „Wenn das man jut jeht“, sagte er und stopfte mit seinem braungefärbten Zeigefinger den Knülltabak in die Pfeife. „Weeßte, wenn disse Soldaten da an die Schtraße wirklich uff de Amipanzer ballern, denn schießen se unser scheenes Barlääm in Klump. Da bleibt keen Schtein uuf n andern, das kann ich dich saren. Jetz sinn se sojar von den Volksschturm dabei un bauen ibberall Panzerschperren uff. Kucke dich das ruhich ma an, aber bleibe man nich ßu lange da, wer weeß denn, was noch passieren tut!“ Danach zog er sich seine Eisenbahnermütze tief in die Stirn und pusselte an seinen Radieschenbeet weiter. Die Panzersperren waren quer über die Straße gebaut worden. Große Betonröhren hatte man herangerollt. Die waren ursprünglich für eine Kanalisation in der Hauptstraße vorgesehen. Auch Eisenbahnschellen hatte man eingegraben, und mit Bruchsteinen beladene Ackerwagen standen bereit, im Fall aller Fälle die letzte Lücke zu schließen. Ich hörte einen Hajotler erzählen, dass auch an den Ausfallstraßen nach Ebendorf, Meitzendorf und Dahlenwarsleben Sperren ständen. „Die sollen ruhig kommen“, prahlte er noch. „Wir von der HJ und die Männer vom Volkssturm haben alle Panzerfäuste, die Amis knallen wir reihenweise ab!“ „Hör bloß mit dein Krakeele uff, Kleener“, ließ sich ein alter Mann vernehmen. „Wenn das de Amis hier sehn, denn lachen die sich een Ast. Meinste denn, dass die sich durch dissen Mumpitz hier uffhalten lassen? Ihr seid doch nicht besser, als die Soldaten bei die vorderste Front. Wenn der erste Amipanzer kommt, dann macht der een kleenen Boren um deine scheene Schperre, mein Junge, bricht einfach durch das nächste Haus durch, un denn sitzt ihr ben gels inne Mausefalle, da könnter machen wasser Wollt.“ „Recht haste, Kumpel“, pflichtete ihm ein Volkssturmmann bei. „Das hier kannste unter Ulk verbuchen. Aber da kannste dich deine Schnute fußlich reden, disse Bande heert einfach nich uff eenen ollen Kriejer wie ich eener bin. Das jibt ne Masse Dote und weiter nischt. Disse Knaben hier machen sich doch jleich een Klecks ins Hemde, wenn hier de erste Panzer uffkreuzen tut.“ Der Junge in seiner kurzen schwarzen Jacke mit der Hackenkreuzbinde am Arm regte sich furchtbar auf und drohte den Männern, sie anzuzeigen. Wir Kinder wussten nicht, was wir von diesem Disput halten sollten. Der Feind musste doch aufgehalten werden, klarer Fall, das war im Krieg doch nun mal so! Aber dass die Panzer direkt auf diese Sperre losfahren würden, das glaubten wir auch nicht. Ein paar Tage später, ich glaube es war der 8. April 1945, ich spielte mit meinem Freund Heinz Möhring gerade vor unserem Zuhause in der Hansenstraße, heulten die Sirene auf dem Gemeindehaus, so, wie wir es noch nie vernommen hatten. Es war ein langgezogener, auf und abschwellender Ton, richtig unheimlich. „Feindalarm!“ rief ich Heinz. Wir warfen unsere Murmeln auf die Straße und stoben ins Haus. Jetzt ging er los, jetzt war es soweit. Nun musste gleich der Krieg im Dorf losbrechen. Mutter war glücklich, dass sie wenigstens ihre Jüngsten im Hause hatte. Meine Schwester war aber noch unterwegs. Sie hatte eine Anstellung in Magdeburg und fuhr manchmal mit dem Fahrrad „nach Stadt“, sonst auf Kuhlmanns Milchwagen bis in die Neue Stadt zur Straßenbahn. „Hoffentlich kommt sie noch rechtzeitig zurück“, barmte Mutter und machte sich große Sorgen. Die Sachen für den Ernstfall waren gepackt, Koffer und Rucksack lagen auf dem Handwagen, um sofort losziehen zu können. Dazu wurde nun noch ein Teil der Bettwäsche gelegt, und ein paar Lebensmittel aus dem Keller kamen in einem Pappkarton hinzu. „Nun wird es ernst, Kinder. Wir wollen die Daumen drücken, dass alles gut ausgeht.“ Mutter war völlig verzweifelt, obgleich sie schon seit Tagen an diesen Tag gedacht hatte, der irgendwann nun mal kommen musste. Meine Schwester kehrte am Nachmittag atemlos zurück und erzählte, dass sie gerade noch vor dem Schließen der Panzersperren ins Dorf durchgekommen war. Stunde um Stunde verstrich. Wir saßen in der Wohnküche und warteten. Es müsste doch nun Losgehen! Vielleicht kam auch bald der Befehl, dass alle Einwohner das Dorf räumen sollen? Nichts kam! Es wurde Abend, und wir schoben den Handwagen mit den gepackten Habseligkeiten wieder in die Scheune. Nur die Papiere nahm Mutter mit ins Haus. „Vielleicht haben sie es mit dem Erobern nicht eilig“, sagte sie und machte sich in der Küche zu schaffen. Mich schickte sie zu unseren Karnickeln auf den Hof. Die mussten gefüttert werden. Drei ganze Tage sollte es dauern, bis der Feind einrückte. In dieser Zeit spielte sich im Dorf eine Menge ab. Es wurde erzählt, dass auf dem Mittellandkanal Schleppkähne stünden, voll mit Esswaren. Mit Handwagen, Fahrrädern, Pferdewagen, aber auch nur mit Rucksäcken zogen die Leute los, um die Säcke mit Zucker und Mehl, Kartons mit Seife, Salz, Fleischbüchsen oder Brot nach Hause zu schaffen. Dann hieß es, in Vahldorf wäre Tabak zu kriegen. Wieder waren alle auf den Beinen. Auf dem Rothenseer Bahnhof standen Waggons mit Strümpfen und Schuhen, in Neustadt lag Kaffee in der Rösterei. Niemand achtete mehr auf die drohende Gefahr, die Menschen waren wie betäubt, betäubt von der Möglichkeit, all diese lang entbehrten Dingen kostenlos ergattern zu können. Wer auf Zack war, der schaffte sich in diesen Tagen die Basis des Überlebens für die kommende schwere Zeit nach dem Krieg. Am zweiten tag nach dem Feindalarm, der Ami musste schon sehr nahe sein, verkauften die Geschäfte im Dorf alle noch in den Regalen lagernden Vorräte ohne Marken: Margarine und Butterschmalz, Waschpulver und Grieß, Mehl und Zucker. Nichts sollte dem Feind in die Hände fallen. Bei allen diesen Unternehmungen ergatterte unsere Familie nicht viel. Wir Kinder durften nicht aus dem haus, und Mutter wollte uns nicht lange allein lassen. Nur meine Schwester war ein paar mal mit dem Fahrrad unterwegs und schleppte einige Dinge an. Meist hatte sie im Rucksack nur die Reste, die andere Leute nicht wollten oder liegen gelassen hatten. Das ärgerte mich sehr, aber Mutter sagte: „Hauptsache, wie bleiben am Leben.“ Die Baracken in der Ebendorfer Straße waren inzwischen vom Militär geräumt worden. Viele Dorfbewohner liefen in den Eäumen herum und suchten nach Brauchbarem. Auch wir Kinder stöberten. Einer der Jungen fand einen Revolver, lief damit auf die Straße und zeigte ihn dort herum. Da kamen einige Kriegsgefangene vorbei, die jetzt von niemand mehr bewacht im Dorf herumliefen. Dem Jungen wurde der Revolver abgenommen, einer der Männer richtete das Schießding auf uns und wir bekamen es mit der Angst zu tun. Ein anderer Kriegsgefangener aber schimpfte mit dem Angetrunkenen und nahm ihm die Pistole ab. Erleichtert schlichen wir uns davon. Durch das Fenster der letzten Baracke sahen wir einige stilettartige Seitengewehre in einem Zimmer liegen, die wollten wir haben. Man hatte in den Räumen aber Tränengas auslaufen lassen. Wir konnten nur immer für eine kurze Zeit in die Zimmer, schafften es aber, einige dieser Waffen herauszubringen und nach Hause zu schleppen. (Später haben wir die dann aus Angst vor den Amis in einen alten Brunnen hinter dem Haus, Hansenstraße 43, geworfen.) Nach drei Tagen war das Hamstern vorbei. Noch einmal gellte die Sirene. Es war, glaube ich, der 11. April 1945. Der Ami kam! Von Norden her hörte man Maschinengewehre knattern, auch Abschüsse aus Kanonen waren zu vernehmen. Am Mittellandkanal, beim Barleber See und auch an der Elbe waren Kämpfe zwischen deutschen und amerikanischen Truppen im Gange. So vermuteten wir. Im Ort Barleben aber blieb es vorerst ruhig. Alle Leute warteten in ihren Kellern mit bangen auf den Beschuss. Der aber blieb aus. Dass dies so war, verdanken die Barleber einigen mutigen Männern, die an der Panzersperre nach Wolmirstedt den HJlern die Panzerfäuste entrissen und sie davonjagten. Auch die Volkssturmmänner hatten ihre Waffen niedergelegt. Der Bürgermeister, jetzt sicher ohne Braunhemd und Hakenkreuzbinde ließ die Sperre aufreißen. Er fuhr den Amerikanern mit einer weißen Fahne entgegen und übergab kampflos das Dorf. Die Amis rückten ein. Es war inzwischen Mittag geworden. Im Dorf sprach sich rasch herum, dass der Feind nicht schießen würde, sondern friedliche auf dem Breitenweg gestoppt hatte. Jetzt strömten die Menschen alle in diese Richtung, auch wir Jungen. Da waren sie also, die Amipanzer, so weit man die Straße heruntersehen konnte, einer hinter dem anderen. Auf den Shermans saßen die Soldaten, manchmal auch schwarze. Ihre Helme hatten sie lässig zurückgeschoben oder am Koppel zu hängen. Einige boten den Kindern Stückchen ihrer Schokolade und einige Stückchen eigenartiger nach Pfefferminze schmeckende Kaumasse an, die sie - Schuing Gamm.-. nannten. Mein Freund und ich aber hielten uns etwas abseits, so dicht wollten wir nicht an den schrecklichen Feind herangehen. Wer wusste denn, was der noch für Absichten hatte? Aus vielen Fenstern im Dorf hingen weiße Bett –oder Tischtücher. Trotz der Hitze in diesem Frühjahr qualmten überall die Schornsteine. Die Leute verbrannten alles in ihren Öfen, was sie irgendwann und irgendwie in Verlegenheit hätte bringen können. Der Qualm, der durch diese Aktion stinkend durch die Straßen zog, war beträchtlich, denn Hitlers „Mein Kampf“ und auch die vielen Fahnen mit dem Hackenkreuz wollten und wollten so schnell nicht brennen. In den Stuben prangte jetzt außerdem an den Wänden ein heller Fleck, wo vorher der „Führer“ aller Deutschen auf seine Untertanen mit grimmig abweisender Miene heruntergeblickt hatte. Und in den Gärten hinter den Häusern gruben einige Furchtsame schnell noch ihre Wertsachen ein. Sie machten es richtig, wie sich später herausstellen sollte. Auf einmal krachte es, und im Dorf schlug irgendwo eine Granate ein, (in der Neuen Sorge?) abgefeuert von einem Geschütz im Vorfeld Magdeburgs. Wie ein Blitz verschwanden die Amis in ihren Panzern und schlugen die Luken hinter sich zu. Die in den Jeeps brachten ihre Sturmgewehre in Anschlag und brüllten: „Hands up!“ Aber das hörten die meisten Barleber nicht mehr, denn die flitzten - wie auch wir Kinder – schon eiligst um die Ecken nach Hause. Im Nu lag der Breiteweg wie ausgestorben da. Weiter passierte aber nichts, es blieb bei dem einen Schuss. Das Dorf wurde verschont. Die Amis requirierten Unterkünfte im Ort und durchsuchten Häuser nach deutschen Soldaten. Auf dem Breitenweg, in der - Neuen Sorge – kurz vor der Autobahnbrücke versammelten sich die Soldaten, um nach Magdeburg zu marschieren. Vorläufig aber warteten sie ab, ob nach dem Beschuss der Stadt durch die Artillerie nicht irgendwelche Parlamentäre kämen, die ihnen den Sturm auf die Stadt ersparen könnten.
Fortsetzung folgt
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Vom „Pudding-Abitur“ zur Neu-Lehrerin Erinnerungen von Juliane Seehafer
Ich hätte Sie gern mit auf eine Zeitreise genommen, sagt Juliane Seehafer ruhig und bedächtig in der kleinen Gesprächsrunde. Lange hat sie auf einen günstigen Moment gewartet. Nachdem im ständigen Hin und Her über die Flakstellungen bei Barleben und die letzten Kriegstage im Ort gesprochen wurde, fängt die Lehrerin im Ruhestand an zu erzählen. „Wir kommen immer wieder auf Barleben zurück“, schickt Frau Seehafer bewusst voraus. Sie muss weit ausholen, denn ihre Geschichte beginnt tief in Deutschlands ehemaligem Osten.
Königsberg wurde 1941 ihr neues Zuhause. Der Vater war Offizier und wurde dorthin versetzt. Selbstverständlich zog die Mutter mit den sechs Kindern mit. Tochter Juliane besuchte das Luisen-Gymnasuim und machte dort ihr „Pudding-Abitur“. Das hieß deshalb so, weil es ein Abitur im Fach „Hauswirtschaft“ war. Natürlich hatten die Gymnasiasten ihre Grundlagen in den Sprach- und Naturwissenschaften erhalten. In den letzten Wochen aber kamen die Fächer im Unterricht etwas zu kurz. „Naturwissenschaftliche Fächer wurden unterrichtet, soweit es die Lehrerkapazität damals hergab. Viele Lehrer aber waren einberufen zur Wehrmacht und so ging es an den Schulen mehr oder weniger sporadisch zu“, erzählt Juliane Seehafer. Anschließend mussten die Abiturientinnen zum Arbeitsdienst. Damals sang man folgendes Lied:
„25 Pfennig ist der Reinverdienst, ein jeder muss zum Arbeitsdienst und dann zum Militär.“
Auch den Kriegshilfsdienst gab es. Da fuhren jungen Frauen in den Städten zum Beispiel die Straßenbahn, weil die Männer im Krieg waren. Juliane Seehafer aber kam nach Passdorf, einem wunderschönen Ort unweit von Rastenburg in den Masuren, wo sich Hitlers Führerhauptquartier befand. Die Arbeitsmaiden –wie die jungen Frauen im Arbeitsdienst genannt wurden –hatten sich vorwiegend um ältere Menschen zu kümmern. Vier Wochen Innendienst, die Maiden wurden in der Küche, im Stall und auf dem Feld gebraucht. Besonders die Erntezeit war hart. Sie könne alles, sagt Juliane Seehafer, Rüben verziehen und ernten, Kartoffeln roden, Getreidegarben mit der Hand zu Hocken aufstellen und verladen auf die großen Leiterwagen. Im zeitigen Frühjahr 1945 aber rückte die Sowjetarmee immer näher. Wie ein Lauffeuer ging es rum: „Die Russen kommen!“. Eilig packten die Leute ihre Sachen auf Fuhrwerke, in Handkarren und auf Fahrräder und zogen eines späten Nachmittags los. Auch die Arbeitsmaiden gingen mit den Einwohnern von Passdorf auf und davon. Der Ort war zum Niemandsland geworden. Alle Häuser waren leer, Fenster und Türen standen weit offen, Fensterläden klappten auf und zu und das Vieh lief draußen herrenlos herum. Rinder, Pferde, Hühner, alles was nicht mitgenommen werden konnte, blieb sich selbst überlassen. Im Hintergrund grollte der Kanonendonner, mal näher, mal weit entfernt. Und der Himmel färbte sich rot von loderndem Feuer. Die Menschen flohen. Züge fuhren kaum noch. Doch die Mädchen aus dem Arbeitsdienstlager hatten Glück. Auf ihrem Weg zurück nach Königsberg wurden sie streckenweise von deutschen Truppen mitgenommen. In der alten preußischen Stadt angekommen, kamen sie in einer Schule unter. Die Maiden sollten wieder Gutes tun, Müttern helfen und ihren Kindern. Währens die Front näher und näher rückte, Königsberg war nicht mehr zu halten. Mit der 1936 in Dienst gestellten „Pretoria“, ab Februar 1945 ein Lazarettschiff, sollten die jungen Frauen Ostpreußen verlassen. Sie ergatterten Plätze auf dem 175 Meter langen und 22 Meter breiten Turbinenschiff, indem sie wieder anboten zu helfen. Den Anblick unzähliger schreiender und bettelnder Menschen die auch auf das Schiff wollten, wird Juliane Seehafer nie vergessen. „Alle wollten nur schnell weg.“ Egal wie, auch wenn kurz zuvor die „Wilhelm Gustloff“ untergegangen und die „Pretoria“ ebenso heillos überladen war. Diesmal jedoch war für Begleitschutz gesorgt. U-Boote und Schiffe beschützten die Fahrt nach Stettin. Die Gefahr haben sie als Frau gar nicht richtig wahrgenommen, gesteht Juliane Seehafer. Unbedarft wie die Jugend nun mal ist, dachte sie, ach, hier kommst du schon irgendwie raus, das geht gar nicht anders. Da viele Flüchtlinge und das Elend, das sie sah, ließ außerdem keine Zeit, sich ernsthaft Gedanken zu machen. „Es herrschte eine irgendwie mystische Stimmung auf dem Schiff, weil niemand wusste, wie die Fahrt ausgehen würde, ob die Russen nicht auch diesen Dampfer angreifen würden“.
Fliegerangriffe – Ruinen – notleidende Menschen
In Stettin angekommen, fanden die Arbeitsdienstlerinnen sich sogleich wieder mittendrin in den Bombardements. In der verlassenen Himmelreich-Kaserne erlebten sie einen der schwersten Angriffe auf die Stadt mit. Weil dort nichts mehr zu tun war, stiegen die Mädchen in einen Zug nach Lübeck. In schrecklicher Erinnerung blieben die sogenannten Jabo-Angriffe. Jagdbomber stießen plötzlich vom Himmel herab, Maschinengewehre feuerten kreuz und quer. Vor allem Züge wurden angegriffen, weil die Flieger annahmen, es seien Munitionstransporte. Oftmals aber waren Menschen in den Zügen, Truppen und auch KZler, die in den letzten Kriegstagen verlegt wurden. Die Leute mussten sich bei Angriffen auf den Fußboden schmeißen und hoffen, dass sie nicht getroffen werden. So schnell, wie die Jabos gekommen waren, verschwanden sie auch wieder. Während der gesamten Flucht westwärts hatte Juliane Seehafer nichts von ihrer Familie gehört. Wie mochte es der wohl ergangen sein? Die Brüder waren im Krieg, ein Bruder in Stalingrad, der andere war bei den Pionieren, baute irgendwo Brücken, vom Vater hatte man lange nichts gehört und die Mutter lebte in Adlershorst, einem Kurort unweit von Zopot. Tochter Juliane half nun also in Lübeck. „Die Trümmer wurden teilweise von links nach rechts gekarrt, ohne Sinn und Verstand.“ Vom zerstörten Lübeck ging es weiter ins zerstörte Hamburg und von dort schließlich nach Kassel, wo die Menschen unter den Ruinen wie in Höhlen hausten und um Überleben kämpften. Der Krieg tobte mitten in Deutschland, das Ende war nah und so löste sich die Mädchengruppe schließlich auf. Jede von ihnen überlegte, wohin sie nun gehen könnte. Sie zerstoben in alle Himmelsrichtungen. Juliane Seehafer machte sich auf den Weg nach Woltersdorf bei Biederitz. Die Verwandtschaft der Mutter besaß dort ein Rittergut. Drei Freundinnen gingen zunächst mit. Regelrecht durchgeschlagen haben sie sich, nachts am Straßenrand oder auf einem Rübenfeld geschlafen. Manchmal nahm sie auch einer der vielen LKW’s mit, die scheinbar kopf- und ziellos auf den Straßen hin- und herfuhren. Nicht jeder der Fahrer wird damals einen Führerschein und Fahrpraxis besessen haben, mutmaßt Juliane Seehafer. Auf Bauernhöfen fragten die Mädchen nach Essen und Milch, um sich zu stärken und weiterlaufen zu können. Ende März, Anfang April kamen die Vier schließlich in Woltersdorf an. Endlich in richtigen Betten schlafen und essen. Im Haus und bei der Gartenarbeit machten sich die Mädchen nützlich, bis sich jede der drei Freundinnen allein auf den Weg machte, wer weiß wohin. Juliane Seehafer blieb im ostelbischen Woltersdorf, wo sich die Stimmung jedoch zunehmend verschlechterte. Alles war in Aufruhr, weil die Russen näher rückten. Als diese Anfang Mai im Dorf ankamen, erlebte Juliane Seehafer die Besatzer von der scheußlichsten Art und Weise. „Obwohl man ihnen das im Nachhinein nicht verdenken konnte, die Deutschen hatten ja auch so viel angerichtet in deren Land“, sagt sie, „nun jedoch kamen die - Russen – zu einem Gutsbesitzer, der für sie als Verbrecher galt. Dementsprechend wurde mit den Menschen umgegangen und auf dem Hof gehaust“. Als der Onkel geschlagen worden war und erschossen werden sollte, versteckte ihn erst sein Verwalter und dann schwamm der Onkel mit seiner Frau durch die Elbe ans westliche Ufer, das damals schon die Amerikaner besetzt hielten. Das Wasser war nicht sonderlich kalt in jenem Frühling und trotzdem erholte sich der Onkel nicht von dieser Flucht. Der von Boden und Heimat entwurzelte Bauer kam nie wieder auf die Beine und starb in Hannover mit erst 51 Jahren.
Unheimliche Angst vor den Russen
Vor dem Weggang hatte der Onkel gemeint, Juliane könne auf gar keinen Fall in Woltersdorf bleiben. Mit einer ihrer Tante floh die junge Frau nach Möckern zu einem Freund des Onkels, der dort Förster war. Doch das Versteck erwies sich als nicht vorteilhaft. Das haus befand sich einsam und verlassen weit außerhalb der kleinen Stadt. Einige Zeit konnten sich beide Frauen und die Tochter des Försters im Keller verstecken, aber dann kamen die Russen auch dorthin. In alte Kleider gehüllt, mit Tüchern um den Kopf und etwas dreckverschmiert im Gesicht gaben sich die Frauen viel älter aus als sie waren. „Du wie alt?“ fragten die Russen eine nach der anderen. „Wie alt Du?“ Im Forsthaus wurde es zu gefährlich, worauf der Hausherr die Frauen in Obhut zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt nach Möckern schickte. Und das war ihr Glück. Außerhalb randalierten Russen, holten Frauen aus den Häusern und vergewaltigten sie. Beim Arzt in der Stadt konnte sich Juliane und ihre Tante jedoch einigermaßen sicher fühlen, bis eines Tages der Mediziner abbeordert wurde in ein Krankenhaus. Da zog ein sowjetischer Arzt ins haus ein. Er ließ die Frauen auf dem Dachboden wohnen, versorgte sie und beschützte sie vor den eigenen Landsleuten. Als der 8. mai 1945, der Tag des Kriegsendes, kam, gab es ein großes Hallo in den Straßen von Möckern. Es wurde getanzt, gejohlt und gepfiffen, getrunken und randaliert. Und die Frauen? Sie kauerten wie eh und je in ihrem Versteck und kamen nicht heraus. Acht bis zehn Tage später, als sich die Lage etwas beruhigt hatte, gingen sie an die frische Luft und zurück zum Forsthaus. Bei Bauern halfen sie fortan für etwas Essen. Solange, bis Juliane unbedingt zurück nach Woltersdorf wollte. Vielleicht gab es ein Lebenszeichen von den Verwandten und der eigenen Familie? Immer an den Bahnschienen entlang wanderte sie zum Rittergut. Das fand sie wie den Ort Woltersdorf völlig zerstört vor. Wohin jetzt?
Fortsetzung folgt
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Jeden Tag einen großen Pott Essen auf dem Tisch Erinnerungen von Hertha Knochenmuß
Mehr als 60 Jahre liegt bei Familie Knochenmuß in der Kirchstraße ein schweres Stück Eisen auf dem Tisch, wenn dieser im Sommer auf dem Hof steht. Es ist zur Gewohnheit geworden, die Tageszeitung morgens aus dem Postfach zu holen und mit dem schwarzgrauen Metall zu beschweren, damit das Papier nicht auf und davon fliegt. Es ist ein Stück von einer Granate, das bis heute diesen Dienst leistet. Hertha Knochenmuß –nunmehr über 90 Jahre alt –hatte 1936 geheiratet. Im gleichen Jahr wurde ihr Ältester geboren, der zweite folgte 1939. Gemüsebauern waren sie und ihr Mann und die Eltern vorher auch schon. Auf achtzig Morgen besten Bördebodens wurden unter anderem verschiedene Sorten Kohl, Zwiebeln und Möhren angebaut. Acker besaß Familie Knochenmuß an der Chaussee in Richtung Wolmirstedt und auf der Pfingstwiesen in Richtung Kanal und Rothensee. Auch nach Magdeburg hin bewirtschaftete man etwas Land. Knochenmuß hatte lange Zeit einen eigenen Verkaufsstand in Magdeburg und Halle „Land und Stadt“. Dort kauften die Geschäfte täglich frisch ein. Nach Hitlers Machtantritt aber durften die Bauern ihre Produkte nicht mehr selbst vermarkten. Sie mussten zu einer Aufkaufstelle gebracht werden, die sich in Barleben bei Familie Wallstab befand. Von dort wurden die Erzeugnisse an die Geschäfte in der Stadt geliefert. Im kleinen Knochenmußschen Betrieb waren immer ein paar Frauen aus dem Dorf beschäftigt, die sich etwas dazuverdienten. Als ihr Mann in den Krieg musste, bekam Hertha Knochenmuß Hilfe durch einen französischen Kriegsgefangenen und einen polnischen Zwangsarbeiter, durch ein Mädchen aus der Ukraine und eines aus Polen. „Durch diese jungen Leute hatte ich auch ein bisschen Zerstreuung“, sagt Hertha Knochenmuß. Während Andre, der junge Mann aus der Normandie, täglich vom Lager am Anger ab geholt und abends wieder dorthin gebracht werden musste, lebten die anderen drei auf dem Knochenmußschen Hof. „Sie waren alle eine große Hilfe“, erinnert sich die alte Frau, „die Männer haben sich beide gut verstanden. Andre kam aus der Landwirtschaft und kannte sich mit allen Maschinen und Geräten gut aus. Der Pole konnte mit Pferden umgehen. Mein Schwager war vom Kriegsdienst zurückgestellt bzw. einbehalten, damit er sich um die Wirtschaft kümmern konnte und um mich. Nur ganz kurz und ein einziges Mal durfte ihr Mann aus dem Krieg nach Hause, das war, als sein Vater gestorben war. Da kam der Sohn von Russland gereist und blieb zwei Tage, um die Erbangelegenheiten zu regeln. „Von Russland gab es damals keinen Urlaub“, erzählt Hertha Knochenmuß, „mein Mann hat übrigens die – Wilhelm Gustloff – untergehen sehen.“ Als das Kriegsende nahte, waren beide Zwangsarbeiter ehrlich bemüht um die Familie. Sie warnten die Frauen, die mit Schwiegereltern, zwei kleinen Kindern und einer großen Schar evakuierter Verwandtschaft im Haus lebte. „Als die Amerikaner schon über Barleben kreisten“, sagt Hertha Knochenmuß stolz, „haben meine beiden Arbeiter die Panzersperren in der Kirch- und in der Schulstraße weggeräumt. - Wenn abgesperrt, dann vielleicht schießen, - hatte Andre gemeint.“ Für die Bauersfrau verlief der Einmarsch der Amerikaner mehr amüsant als beängstigend. Die Geschichte mit dem Tausch von Radieschen gegen Kaugummi und das verkniffene Gesicht des dunkelhäutigen Soldaten, der das scharfe Gemüse probieren wollte, hat die Frau ihren Lebtag nicht vergessen. „Die Amerikaner haben uns nichts getan. Im Gegenteil. Ich habe mich gewundert, warum meine Jungen plötzlich mittags immer so satt waren. Nachher habe ich das Papier von den Keksen und der Schokolade gefunden. Damals waren auch die beiden Kinder meiner Schwägerin hier, Anneliese und Franz-Rudolf Keindorff.“ Für 20 bis 25 Leute hatte die Bäuerin täglich zu kochen. Sie hatte vorgesorgt und ein Schwein geschlachtet, Kartoffeln und Gemüse eingekellert, Linsen, Erbsen und Graupen bevorratet und viel Obst und Gemüse eingekocht. „Also konnte ich jeden Tag einen großen Pott Essen kochen. Da kam dann Knochenfleisch ran, na ja, und dann waren alle am Tisch.“ Auch die Gefangenen, obwohl es streng verboten war. „Die haben ja ihre Arbeit gemacht. Ich brauchte mich nicht ums Viehzeug kümmern. Aber nein, die durften ja nicht mal eine Stulle oder irgendwas bekommen. Das musste alles heimlich geschehen.“ Noch heute ärgert sie sich darüber, dass Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter nicht mit in den Keller durften, wenn Fliegeralarm war. „Man musste sich tüchtig in acht nehmen.“ Die erste zeit hätten die beiden 16jährigen Mädchen aus Polen und der Ukraine oft geweint. Sie hatten Heimweh, und Hertha Knochenmuß tröstete sie: „Ihr kommt doch wieder heim.“ Für eine von ihnen besorgte sie bei „Kräuter-Poppe“ in Magdeburg Salbe gegen ein Ekzem. Sie steckte zwei hilfswilligen Russen Klappstullen und Zigaretten zu. „Das Gutschein“, sagt Frau Knochenmuß heute, „hat sich vielleicht bezahlt gemacht.“ Als nach der politischen Wende 1989/90 sich die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen bei ihr meldeten, bestätigte sie beiden für die Rente, dass sie bei ihr gearbeitet hatten. Kaum waren im April 1945 die Amerikaner in Barleben eingefahren, sammelten sich die französischen Kriegsgefangenen und kehrten zurück in ihre Heimat. Von ihrem Mann aus Russland erfuhr Hertha Knochenmuß schließlich, dass er bei Leningrad (heute Sankt Petersburg) in Gefangenschaft war. Vier Jahre hatte er die Stadt belagert, vier Jahre baute er sie hinterher wieder mit auf. Er reparierte Straßen, die er zuvor zerschossen hatte. Bevor er 1948 entlassen wurde, schrieb er Briefe nach daheim. So erfuhr seine Frau, dass die Russen ganz wenig zu essen hätten und er von einer alten Frau, für die er regelmäßig Holz sägte, Pellkartoffeln bekam. Eines Tages schenkte sie ihm einen Hering. „Dieser Hering war für ihn das allerschönste Geschenk. Und die alte Dame war froh, dass sie ihr Holz klein geschnitten bekam. Na ja“, stöhnt Hertha Knochenmuß leise, „wir hatten Glück, dass wir hier nicht raus mussten und dass wir zu essen hatten. Das war schon viel wert.“ Eines Tages kam der geliebte Mann und Vater endgültig heim. Hertha Knochenmuß war wie gewöhnlich auf dem Acker. Weshalb ihr Mann erst einmal zum Schwager ging, zu Keindorffs, um dort seine verschlissene Uniform abzulegen und in saubere Sachen zu steigen. Wie er dann so zum Feld kam, traute die Frau ihren Augen nicht. „Da kommt doch dein Mann“, hatte sie nur noch gedacht, dann wurde ihr schlecht und sie fiel um. Daran erinnert sich Hertha Knochenmuß noch ganz genau. Bald schon war der dritte Sohn unterwegs. Eine schwere Zeit für die Bauern kam mit der Gründung der Landwirtschaftlichen und Gärtnerischen Produktionsgenossenschaften (kurz LPG und GPG). „Mein Mann war mit Leib und Seele Landwirt. Als dann unsere Pferde vom Hof geholt wurden, hat mein Mann in der Küche gesessen und geheult wie ein Kind. - Ich gehe nicht raus - ,hat er gesagt, ich gehe nicht raus.“ Also ging Hertha und musste zusehen, wie die Gespanne fortgeführt wurden. Lange hatte sich die Familie gegen die Kollektivierung zur Wehr gesetzt. Eine der letzten Familien im Dorf waren sie. Es hatte alles nichts genützt. „Wir haben kein Saatgut mehr gekriegt und keinen Dünger. Wenn sie das nicht mehr haben, können sie als Bauer nicht mehr existieren. Dann sind sie auch direkt gekommen, der Bürgermeister und andere und haben gesagt. Sie müssen heute unterschreiben. Es war wie ein Todesurteil. Der Mann, noch immer geschwächt von der Gefangenschaft und einer Gürtelrose, erholte sich gesundheitlich nicht wieder. „Das hat zu seinem frühen Tod beigetragen. Davon gehe ich nicht ab. Das hat so weh getan, als sie die sau aus dem Stall geholt haben. Bei der hatte er nächtelang gesessen, wenn sie ferkelte. Die Ferkel hat man behütet, kaum war eines geboren, gleich ging es ab in den Korb, damit die Sau nicht unruhig wurde. Das ganze Viehzeug, ob das nun eine Kuh oder ein Pferd war, das Viehzeug hatte man doch einfach lieb gewonnen.“
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„Nehmen Sie Ihr Taschentuch und winken Sie!“ Erinnerungen von Dietrich Zachau
Dietrich Zachau war 15 Jahre jung, als es als Flakhelfer in der Großkampfbatterie in Hohenwarthe diente. Auf der Elbbrücke stand er Wache. So ganz geheuer muss ihm die Lage nicht gewesen sein, denn Zachau hatte sich längste „für den Fall aller Fälle“ einen Kahn besorgt und versteckt, um schnell ans andere Ufer fliehen zu können. Begeistert wie der Ladekanonier anfänglich war, hatte er sich lange vorher schon freiwillig zu den Fallschirmjägern gemeldet. Auch zu der streng geheimen Truppe der Ein-Mann-Torpedos wollte er gehen, wäre nicht im September 1944 sein Bruder gefallen. Und hätte er nicht ausgerechnet am 17. Januar 1945 wegen seiner Bewerbung nach Wanzleben gemusst. Tags zuvor gab ihm Hauptmann Roscher in Hohenwarthe frei, damit Dietrich Zachau von der Einheit nach Hause fahren konnte. Gegen 21:00Uhr traf er in Barleben ein. Eine halbe Stunde bevor Magdeburg bombardiert wurde. Aus dem Dachfenster des gut fünfzehn Meter hohen Elternhauses beobachtete der Junge das verheerende Bombardement auf die zum Greifen nahe Stadt. Trotzdem machte sich Zachau am nächsten tag mit dem Fahrrad auf den Weg nach Wanzleben. „Wie verrückt man damals doch war“, fragt sich der Mann heute, „ich durchquerte das zerstörte Magdeburg, fuhr vorbei an den auf der Straße in langer Reihe abgelegten, verkohlten Leichen. Die Wucht des Angriffs war so verheerend, dass sich selbst gasdichte Türen verbogen hatten. Ich vergesse nie, dass hinterher erzählt wurde, im - Weißen Schwan - seien viele Leute erstickt, die dort zum Tanzen waren und nicht mehr herauskamen.“ Dietrich Zachau schaffte es wirklich, sich mit dem Fahrrad bis Wanzleben durchzuschlagen. Dort angekommen war die Besatzung ausgeflogen. „Getürmt, keiner da“, stellte der junge Barleber fest. Auf dem Weg durch das zerstörte Magdeburg musste er begriffen haben, wie aussichtslos jedes Weiterkämpfen wäre. „Wo hat der Häuptling gesessen“, fragte er sich, suchte und fand das Büro. Er zog die Schreibtischschublade auf, holte einen Stempel heraus, drückte ihn eilig auf seine Papiere und krickelte so was wie eine Unterschrift darauf. „Ausgemustert!“ Damit war Zachauer aus dem Schneider. Zurück ging die Fahrt nach Barleben. Die Militärklamotten aus und kurze Hosen an. „Die ganze Zeit habe ich gebangt und auf die Amis gewartet. Zwei Wochen vor Kriegsende aber tauchten zuhause zwei SS-Offiziere auf. Sie kamen aus dem brennenden Hamburg und wollten bei uns übernachten. Im Streuboden fanden sie Platz und setzten am nächsten Tag ihre fahrt fort. Gott sei dank.“ Wenige Tage später, am 13. April 1945, musste Dietrich Zachau ein weiteres mal Nerven beweisen. So um die Mittagszeit hatte er sich mit dem Handwagen auf den Weg gemacht zur Flakstellung. Da war schließlich noch was zu holen. „So einige tausend Stück Munition für Kleinkaliber und ein Fass Benzin.“ Wie er mit dem Handwagen schon wieder auf dem Rückweg war, schaute sich Zachau in Höhe des Friedhofs einmal kurz um und dachte, die eigenen Truppen kämen wieder zurück. Doch es waren die Amerikaner. „Und ich Munition im Handwagen. Ein älterer Herr kam mit seinem Fahrrad gefahren und fragte mich verdutzt, was er nun machen solle. - Nehmen Sie doch Ihr Taschentuch und winken Sie - , habe ich geantwortet und der Mann winkte.“ So als hätte er nur Holz oder ähnlich Belangloses auf dem Wagen, zog Dietrich Zachau auf dem Bürgersteig des Breitenweges entlang nach Hause, während ihn auf der Fahrbahn die ersten US-Panzer schon überholten. „Auf dem Hof angekommen, hieß es schnell entladen und Sachen darüber schmeißen. Die Soldaten waren bereits ausgeschwärmt, durchsuchten die Häuser und fragten: „Waffen, Schnaps, Wein?“
Robinson und die Nacktschnecken Erinnerungen von Hermann Orlamünde
„Aufstehen, los dalli!“ Von ganz weit her schien das zu kommen. Soeben war ich noch in meinen Träumen mit Robinson und seinem schwarzen Freund Freitag auf einer kleinen Insel mitten im Ozean gewesen, nun konnte ich mich nicht so schnell zurechtfinden. „Mach schon hin, los fix, es ist Alarm!“ Wieder rief mich die Stimme. Das passte überhaupt nicht zu den Papageien und Palmen, zu den Kannibalen in der Südsee. Doch schon schüttelte jemand meinen Arm und zog mir das Deckbett weg. „Nun los, mach schon, sie sind bald hier!“ Das war die Schwester und nicht irgendein Eingeborener von den paradiesischen Inseln im Stillen Ozean. Erst jetzt begriff ich, was vor sich ging. Ein Brummen lag in der Luft, als flöge ein Schwarm Hummeln über unser Haus hinweg. Dazwischen knallte es, wie die Peitschen der Pferdekutscher hörte es sich an, wenn die braune Lederschnur mit den Knoten über die Köpfe ihrer Braunen hinwegsausen ließen, nur viel greller und lauter war es. „Hier, rein in die Pantoffeln, und dann fix in den Keller! Klaus ist schon unten.“ Man fasste mich an die Hand, und nur mit dem Nachthemd bekleidet wurde ich aus dem Zimmer gezerrt. Vom Dachboden aus, wo ich als Neunjähriger mit meinem kleinen Bruder schlief, gelangten wir über eine Holztreppe in die dunkle Diele. Durch die Scheiben der alten wurmzerfressenen Haustür war schon das Blitzen der detonierenden Flakgranaten zu sehen. Der ganze Raum wurde dadurch in ein geisterhaftes Licht getaucht. Meine Schwester Ruth riss die Kellertür auf, und über die schon ausgetretenen Ziegelsteinstufen der gemauerten Kellertreppe hasteten wir nach unten. Da saßen wie nun, die Bewohner des alten kleinen Hauses in der Hansenstraße 43 in Barleben. Ein Talglicht flackerte in der Mitte des Raumes auf einem alten umgedrehten Teller, den man auf eine Holzkiste gestellt hatte. Mutter war gerade dabei, ihren Jüngsten in eine mitgebrachte Decke zu wickeln. Der Kleine brabbelte schlaftrunken leise vor sich hin. Seine Augen waren fast geschlossen, nur manchmal blinzelte er Mutter und uns an. Wir hatten die üblichen Plätze im Keller eingenommen. Den vermeintlich sichersten Platz hatte ich mir ausgesucht, einen der gemauerten Rundbögen des Kellers. Den konnte eine Bombe nicht durchschlagen. So dachte ich wenigstens. Dass dieses Haus nicht einmal die kleinste Bombe aushielt, das wussten wohl nur die Erwachsenen, und die wollten es nicht wahrhaben. Ein bisschen Hoffnung musste doch in dieser Zeit bleiben. Der dicke Bürgermeister des Ortes, der ständig in Lackstiefeln, Breeches und Braunhemd herumlief, hatte sich in seinem Keller Stahlträger einziehen lassen und die Eingänge mit beton gesichert. Ja, wenn man das Geld dazu besaß, dann konnte man leicht die anderen Einwohner des Dorfes zum sogenannten Luftschutz auffordern! Die meisten Menschen mussten sich wie wir mit ein paar Sandsäcken vor den Kellerfenstern begnügen, mit einer Kanne Wasser auf der Treppe und einer Schippe Sand. Es waren zwar auch einige Bunker im Dorf gebaut worden, doch die erreichten im Notfall nur die Nahewohnenden. Ich streifte mir Strümpfe und einen alten Pullover über. Mutter gab mir noch eine Joppe, denn hier unten war es im Winter sehr kühl und feucht. So schnell aus dem Schlaf gerissen, klapperten mir in dem muffigen Keller die Zähne nur so audeinander. Schon begannen auf dem gestampften Fußboden des Kellers wieder diese schleimigen Nacktschnecken herumzukrabbeln, vor denen ich mich so ekelte. Sie kamen aus den in einer Ecke liegenden Einkellerungskartoffeln. Pfui, Teufel! Schnell zog ich die Füße auf dem alten Rohrsessel dicht an den Leib. In der Ecke jammerte die Eignerin des alten Hauses, Frau Marie Oelze, wir Kinder nannten sie Tante Mia, vor sich hin. „Hach Jott! Hach Jott! Wenn se bloß nist dreepen!“ Unsere Stimmung wurde dadurch nicht besser, auch mein Bemühen wieder in meinen Südseetraum zu kommen, scheiterte. Es krachte und knatterte draußen, ab und zu ging ein Dröhnen durchs ganze Haus. Ruth warf die Decke von ihren Knien und ging geduckt, als ob sie das vor den Bomben schützen könnte, zur Treppe. „Wo willst du denn hin, Mädchen? Bleibe um Gotteswillen hier!“ Mutter war wie immer sehr besorgt. „Vielleicht haben sie inzwischen ein Flugzeug abgeschossen?“ „Mädchen! Was du wieder für Sachen machst! Da draußen fliegen sicher die Splitter der Flakgranaten herum.“ „Ich passe schon auf!“ Während die Schwester die Treppe hinaufschlich, ordnete Mutter ihren Dutt. Als ich sie ansah, bemerkte ich zum erstenmal, wie blass ihr Gesicht war. Nun mochte auch das fahle Licht der Kerze dazu beitragen, aber so deutlich war es mir noch nie aufgefallen. Bald verstummte das Geknalle draußen. Ruthi klappte oben mit der Kellertür, stolperte mit dem talklicht in der Hand die Stufen herunter: „Das hat aber heute nicht lange gedauert.“ In diesem Moment heulte die Sirene auf dem dach des Gemeindehauses Entwarnung. Es war vorbei, und wir waren wieder einmal davon gekommen. Mutter holte den Kleinen aus seinem Kinderbettchen. Er öffnete die Augen gar nicht, als sie ihn nach oben trug. „Leuchte doch mal, Ruthi, dass ich nicht wieder auf solche olle Schnecke trampele“, sorgte ich mich und setzte meine Füße langsam auf den Boden. Über die ausgelatschten Stufen der Kellertreppe gelangten wir in die Diele, wo nun wieder das weiche Licht der kleinen Flurlampe schien. Von dort aus führte die Holztreppe in die Dachkammer. Ich kannte jede Stufe, hatte sie in der letzten Zeit oft in der Nacht gehen müssen. Kalt war das Bett inzwischen geworden. Tief kuschelte ich mich unter das Federbett und machte mich ganz klein, strengte mich an, wieder an Robinson zu denken, an die Palmen, die roten Korallen und das warme Wasser mit den tropischen Fischen. Es müsste doch zu machen sein, dorthin zurückzukehren, und wenn es auch nur ein Traum wäre. Aber immer kam die Erinnerung an die Tommys in ihren Flugzeugen. „Hoffentlich schießen die Flakser welche ab“, grübelte ich noch. Dann liefen die Gedanken durcheinander, und der Schlaf kam. Die Sirene hatte ein Einsehen mit mir und den anderen Kindern im Dorf und schwieg auch. Wenigstens für diese Nacht. „In einer Stunde müssen Sie raus“ Schon am nächsten Tag ratterte ein Jeep durch die Hansenstraße und hielt vor der Haustüre des kleinen Hauses mit der Nr. 43 an, in dem meine Familie wohnte. Als der Offizier mitbekam, dass die Tür abgeschlossen war, klopfte er an das Fenster. „Machen sie auf, Frau!“, sagte er zu Marie Oelze. „Ach, nee, Jott oh Jott, wat wulln Ji denn von mick, ick hebbe doch nist verbroken, un forr Hitler bin ick ok nich ewest“, jammerte Tante Mia. Die alte Frau am Fenster schlug voller Verzweiflung die Händde über den kopf zusammen. „Wir möchten auf Ihren Hof kommen und uns umsehen“, fing der Ami in gutem Deutsch wieder an, da er wohl nicht richtig verstanden hatte, was die Alte in ihrem Platt lamentierte. „Jlieks, waart man, ick kimme runter!“ Die Tante schlug das Fenster zu und kam erst einmal zu Muttern gelaufen, die das ganze bange verfolgt hatte. „Make doch mal opp, Klara, ick hebbe man to veel Angest!“ Mutter schloss die Hoftür auf. Die Amis gingen nun über den Hof, sahen in die Ställe, guckten in die Wohnungen und sprachen sich untereinander ab. „Also, liebe Damen“, fing dann der Offizier wieder an. „In einer Stunde muss eine Wohnung leergeräumt sei, da kommt das Headquater, das Hauptquartier hin. Die alte Frau kann wohnen bleiben, aber die junge Frau muss sich eine andere Bleibe suchen.“ „Hach Jott, Klärchen, wo wiste denn nu hen?“ Tante Mia war erleichtert, dass wenigstens sie nicht ihr Heim verlassen musste. „Das weiß ich nicht.“ Mutter hielt ihre Arme um meinen Bruder und mich geschlungen, diewir auf dem Hof vor ihr standen und neugierig die Amis beguckten. „Wenn Sie nicht wissen, wohin, dann besorgen wir Ihnen ein Zimmer. Aber in einer Stunde muss alles geräumt sein“, sagte der Ami, als er Mutters besorgtes Gesicht sah. In allerletzte not fiel Mutter eine über drei Ecken verwandte ein, die im Großen Hof wohnte. Im Affentempo sockte sie hin und hatte Glück. „Die ßwee Kammern oben könnter ham“, sagte Tante Ida Wolff, „aber nich dasser wunder was denken tut, jroß sind se nich, ooch een bisschen dreckich. Da hat ebend lange keener drinnen jewohnt. Habt aber man keene Bange, fahrt alles ran, ich helfe euch denn beis Inräumen!“ Alles heranfahren, das hört sich gut an, aber wie? Mit dem Handwagen, dem Hawazuzi, war nicht viel mitzukriegen. Das Wichtigste aus den Schränken war die Wäsche, die Kleidungsstücke und Handtücher. Aus der Küche ein paar Teller, das Besteck. Das war es dann schon! Den Rest der Kartoffeln im Keller, die Gläser mit dem Eingemachten, die Kohlen im Stall und Vaters Werkzeuge im Schuppen, alles musste liegen- und stehen gelassen werden. Auch unsere zwei Ziegen und die Kaninchen blieben in ihren Ställen. Die Hühner liefen frei auf dem Hof herum. „Die Sachen aus den Kellern und Ställen können Sie später holen, zu essen haben wir selbst genug“, meinte der Dolmetscher des Majors. Dann fuhr ein Laster auf den Hof, das Tor wurde ausgehängt und die Soldaten luden ab, was so gebraucht wurde. In unsere -gute Stube - zog ein Ami-Major ein. „Warum gerade bei uns?“, jammerte Mutter. „In den Villen der Großbauern ist doch viel mehr Platz.“ Ja, das wusste keiner so recht zu sagen. Auch später konnte das niemand mehr nachvollziehen. Vielleicht erinnerte sich der Offizier aus Texas oder Missouri an seinen Hof zu hause im fernen Amerika, wer kann das schon wissen. Jedenfalls saßen wir nun bei Tante – Ite –in den Dachkammern. Gut, dass es wenigstens schon Frühjahr war, denn in den Zimmern war kein Ofen angeschlossen, und die Nächte waren noch empfindlich kühl. „In unsern Schtall steht son oller Kanonenofen und een Rohr liejt ooch noch irjendwo eum. Mein Nachbar bringt das alles in Ordnung. Dann könnter nach disser janzen Uffrejung widder een bisschen ruhijer schlafen“, beruhigte uns die Tante. Die Wäsche fand in Schränken unten im Flur Platz oder in zwei Holztruhen, die vor den Kammern standen. Viel war es sowieso nicht, was wir besaßen. Mein Bruder Klaus und ich fanden die neue Situation aufregend und interessant. Vom Fenster der Dachkammer aus konnte man über die Wiesen bis zur Autobahn blicken, ganz anders als sonst in der Hansenstraße, wo das kleine Haus ziemlich eingekeilt stand. Die Tante war kinderfreundlich, obwohl sie selbst keine Kinder hatte, und die Jungen und Mädchen aus der Nachbarschaft waren uns sowieso bekannt. Nur bei Mutter war noch keine Ruhe eingekehrt. Sie hatte Sorge um die paar Habseligkeiten, die in der Wohnung geblieben waren. Besonders um ihren Schmuck bangte sie. Ja der Schmuck! Es war der Ehering, eine schmale Goldkette und die vergoldete Uhr vom Opa, die er aus dem Ersten Weltkrieg aus Frankreich mitgebracht und meinem Vater vermacht hatte. Diese Dinge hatte Mutter auf dem Sims des alten Kachelofens versteckt und in der Eile vergessen mitzunehmen. Hoch oben unter der Decke der Stube lagen die - Familienschätze - , nun nicht mehr erreichbar. Mutters einzige Hoffnung war, dass dort vielleicht niemand saubermachen würde. In ihren beiden Stuben im alten Haus wohnte weiterhin die Tante Mia. Die konnten wir jederzeit besuchen. Auf dem hof durften wir nur noch zum Füttern des Viehs. Die Hühner mussten wir jetzt in einen Verschlag in den Hausgarten sperren. Für mich war es spannend, mir die Fahrzeuge der Amis anzusehen. Die sahen so ganz anders aus als die deutschen LKW’s. Im Stall hatte man manchmal deutsche Landser eingesperrt, die noch in den letzten Tagen eingefangen worden waren. Zerschlagene Gewehre lagen in einer Ecke des Hofes. Heinz und ich stibitzten uns jeder eine MP und einen der Karabiner. Deren Kolben waren zwar zersplittert und die Schlösser fehlten, aber spielen konnte man in der Scheune oder im garten wunderbar damit. Unsren Müttern erzählten wir aber lieber nichts davon! (Später beim Einzug der russen, haben wir dann auch diese Dinge im alten Brunnen hinter dem Haus „entsorgt“.) Das Schießen im fernen Magdeburg hörte nach einigen Tagen auf. Es wurde von der Kapitulation der Wehrmacht erzählt. Durch den Rundfunk kam die Nachricht, dass der Krieg zu Ende und der Führer „heldenhaft kämpfend“ in Berlin gefallen sei“. „Was nun wohl Vater macht?“ fragten sich alle in der Familie. Wir hatten in den letzten Monaten oft an ihn denken müssen. Dass Vater vielleicht auch unter den vielen Toten sein könnte, daran wagte niemand auch nur zu denken. Die Amis durchstöberten im Dorf alle Winkel nach Soldaten oder, wie sie sagten, nach Nazis. Eine Heidenangst hatten sie auch vor den Wehrwölfen, fanatischen Hitlerjungen, die mit Überfällen auf die Amis immer noch den Krieg gewinnen wollten. Wenn auch viele der vormals stammenden Volksgenossen ihre braune uniform im Garten untergebuddelt hatten, einige waren doch abgeholt worden. Es waren meist nur kleine Mitläufer, denn die großen Tiere hatten sich meist rechtzeitig abgesetzt. Auf dem Hof in der Hansenstraße trieb man diese Leute zusammen, bevor ein LKW sie mit unbekanntem Ziel abholte. „Denkt euch mal“, erzählte uns eine Tante. „Beinahe hätten mich die Amis hops genommen. Kommt doch da neulich der Dolmetscher vom Kommandanten in unser Haus und fragt mich, wo mein Mann ist. Da kräht unser Papagei lauthals: - Heil Hitler. - Der Ami hat vielleicht große Augen gemacht! Dann hat er mich gefragt, ob wir Nazis sind. - Nein - , hab ich gesagt. - Dieser verrückte Vogel hat das aus dem Radio aufgeschnappt. - Als dann der Ami zum Vogelkäfig gegangen ist, brüllt das Vieh sogar - Sieg Heil! - Ich bin vielleicht wütend gewesen, das kann ich euch sagen. Den hals hätte ich dem blöden Vogel umdrehen können! - Sei stille, du Dummbatz - , hab ich zu ihm gesagt, doch der rief immer wieder - Sieg Heil. Sieg Heil. - Der Ami hat erst ganz verdutzt geguckt, dann aber gelacht und gemeint, dass es damit wohl nun vorbei ist, nun müsste der Vogel umlernen, wie wir alle auch. Darauf ist er gegangen. Ich habe vielleicht eine Angst ausgestanden!“ „Und was machst du nun mit deinem Papagei, Tante?“ fragte ich neugierig. „Jetzt, wo es warm ist steht die Saatbolle bei den Ziegen im Stall. Inzwischen hat er sich zwar das Meckern angewöhnt, aber das ist ja nicht strafbar. Wo ich ihn im Winter lasse, das weiß ich noch nicht. Aber vielleicht hat er unterdessen den Adolf und sein - Sieg Heil - vergessen.“ Viele Leute mussten in dieser Zeit umlernen, nicht nur Tantes Stubengeier. Manchmal zuckte noch einer mit dem Arm, wenn er einen Bekannten auf der Straße traf, der früher darauf großen Wert gelegt hatte. Wenn auch die größten Parteigenossen weg waren, so mancher hatte die Kurve bekommen und sich beim Ami angebiedert. Bei vielen der Bauern waren jetzt die Ami-Soldaten stationiert. Dort war Platz, man konnte die Fahrzeuge sicher abstellen und die Lebensmittel lagern. Überhaupt aßen und tranken die neuen Gäste, dass sich die Leute nur so wunderten. Schwarzes Brot wollten die Amis nicht, nein, weiß mochten sie es, weiß und weich. Richtig schwammig war es mitunter. Zuerst schmierten sie Erdnussbutter darauf, dann belegten sie es mit dicken Scheiben Fleisch und Schinken, alles aus Büchsen. Alles Essbare war bei ihnen in Büchsen: Suppe, Milch, Butter, Fleisch, Wurst, Bier, Käse und eine braune süße Tunke, die sie „Cook“ nannten. Die war furchtbar süß und klebte beim Trinken. „Das sind vielleicht komische Menschen“, erzählte ich Muttern. „Die essen überhaupt keine Kartoffeln, und denke mal, vor unserem Schwarzbrot ekeln sie sich. Ich wäre froh, wenn ich eine Stulle mehr bekäme. Und wie diese Amis rauchen, wie die Schlote, eine Zigarette nach der anderen. Der Major hat sogar ständig dicke Zigarren in seiner Jackentasche, die gucken da oben raus, und der macht sich gar nichts daraus, wenn die deutschen Männer gierig danach schielen. Und was die Amisoldaten sich alles trauen! Die stehen noch nicht mal stramm, wenn ein Vorgesetzter von ihnen was will.“ So war es in der Tat. Wenn einer mit Streifen auf dem Ärmel einen ohne heranwinkte, dann setzte sich dieser gemütlich in Bewegung, wenn überhaupt. Einen Kaugummi im Mund, die Kiefer wie ein Wiederkäuer mahlend, stand er dann da. Nicht einmal Haltung nahm er an. Und von wegen die Hacken zusammenknallen, wie es bei den Deutschen üblich gewesen war, das war nun auch nicht der Fall. Hätte auch gar kein Zweck gehabt, die dicken Gummisohlen unter den Schuhen hätten das glatt verhindert. Auch konnte man die Soldaten von den Offizieren kaum unterscheiden. Einmal fuhr beim Major ein höherer Offizier vor, ein Colonel oder vielleicht sogar ein General? Wir Jungs suchten ihn und hätten in der Gruppe beinahe nicht entdeckt. „Wie ein ganz gewöhnlicher Mensch sieht der aus“, stellte ich fest und sagte dann noch, „dass die Soldaten dem überhaupt parieren?“ Meine Schulkameraden und ich hatten jetzt sehr viel Zeit. Die Schule war seit dem Feindalarm geschlossen, und so waren lange Ferien angesagt. Oft saßen wir Jungen und Mädchen auf der Bank am Taternberg und sahen zu, wie die Laster der Amis ankamen. Wenn die Soldaten mit dem Ab- oder Aufladen fertig waren, fiel manchmal etwas für sie ab. Ein Stückchen Schokolade oder ein Kaugummi, das war unsere neue Welt. Ein paar Worte Englisch hatten wir den Ankömmlingen abgehört, und quasselten mit ihnen. Die Uniformierten wiederum lauschten uns passende Redewendungen ab, die sie anwenden wollten, wenn sie Bekanntschaften mit den - Frauleins - im Dorf suchten. Manchmal saß ei Schwarzer auf der Bank an der alten Kastanie. Er fuhr den Jeep des Majors. Mit Händen und Füßen verständigten wir uns untereinander. Oft schrieb sich der Ami deutsche Worte in ein kleines Heft. „Das meine Boys“, sagte er und ließ uns ein Bild in seiner Brieftasche sehen. Zwei Jungen waren darauf, kaum älter als wir. „Die sind ja schwarz!“, entfährt es mir. Im nächsten Moment aber hielt ich mir erschrocken die hand vor den Mund und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Der Soldat grinste nur und schlug mir auf die Schulter: „It’s allrigh, boy! In Juesäi many people black, oder schwarz.“ „Ist doch auch egal, Mensch!“, schimpfte Heinz mit mir. „Ob schwarz oder nicht, hauptsache, sie geben uns mal ein wenig von ihrer Fressage ab.“ Darin musste ich ihm zustimmen, auch mir war dieser Schwarze lieber ist als manch ein Weißer, der uns früher mit einer Peitsche beim Ährenlesen von seinem Acker vertrieben hatte. Nur der lange Kurti schüttelte den Kopf: „Mensch, das sind doch unsere Feinde!“ „Nicht mehr, du Troddelkopp“, getraute sich Heinz zu erwidern. „Der Krieg ist zu Ende. Niemand von den Deutschen hat mehr eine Knarre. Ich hab sogar meine Luftbüchse abgegeben, weil das jetzt verboten ist. Denn wenn dich die MP, die Militärpolizei, mit so was erwischt, dann buchten sie dich ein. Womit willst du denn noch den Krieg gewinnen?“ Du lieber Gott! Ich erinnerte mich mit Schrecken an mein Luftgewehr, das doch hinter dem Schrank in der Stube stand. Wenn die Amis das fänden! Die glaubten doch sicher, dass jemand aus der Familie beim Wehrwolf gewesen war. In der Eile, in der wir die Wohnung räumen mussten, hatte niemand daran gedacht. Nun kann man da, ohne Aufsehen zu erregen, nicht heran. Aber beim Onkel Täve in der Laube lag auch noch ein Tesching, mit dem er die Stare aus dem Kirschbaum verjagte, wenn diese im Frühjahr die schönen schwarzen Knorpelkirschen wegfraßen. Hoffentlich hatte der das wenigstens beseitigt. „Nee, mein Junge“, beruhigte mich der Onkel, als ich nachfragte. „Lass man jut sinn, von disse Schießpriejel habe ich de Nase jetz jischtrichen voll. Das Jelumpe habe ich in den Bombentrichter jeschmissen, das is wech!“ „Und was machste, wenn im Sommer die Stare wieder da sind?“ Ich dachte schon mit Schrecken an die vielen Kirschen, die von den Vögeln angehackt wieder unter dem Baum liegen würden. „Das weeß ich noch nich. Mich wird aber schon noch was infalln. Aber bleibe man janz scheen ruhich, Kleener, un habe keene Bange nich. Wejen deine Luftbickse brauchste dich keene jrauen Haare wachsen ßu lassen. Mit die Pischels, wecke du in de Schtalltüre knallst, kannste keenen Panzer knacken, un das wissen de Amis ooch, die schimpen höchstens ma mit dich, wenn se dis Schießjewehr finden tun. Aber ob ibberhaupt, das is ja noch die jroße Frare.“ Beruhigt schlich ich wieder aus dem Garten, nicht ohne vorher auf den Balken zu fassen, wo sonst immer das Tesching lag. Doch außer einer dicken, fetten, schwarzbraunen Spinne, die ich angeekelt von meiner Hand schleuderte, war da nichts. So gingen die Tage im Mai dahin, bis Tanta Ite vom Flur aus die Treppe hinaufrief: „Habt ihrs schon gehört? Die Amis ziehen ab.“ Mutter schlüpfte in ihre Trittchen und lief schnell rüber in die Hansenstraße. Ich hinterher. Tatsache, die Amis packten ihre Sachen zusammen und luden sie auf ihre Fahrzeuge. Auf dem Hof stand der Adjutant und sagte: „Sie können wieder einziehen, gute Frau, wir rücken ab, in ein größeres Quartier. Sehen Sie bitte in Ihren zimmern nach, ob etwas fehlt.“ Mutter rannte in die Stube. Sauber sah sie nicht aus, denn draußen hatte es leicht geregnet, aber an Möbeln schien noch alles vorhanden zu sein. Ein Stuhl war neu, der gehörte vorher noch nicht hierher, aber wo die Amis den besorgt hatten, das konnte auch der Adjutant nicht sagen. Sogar ein Grammophon mit Platten stand im Wohnzimmer, auch das hatten die Soldaten sicher für den Major aus einer anderen Wohnung mitgehen lassen. Eine Menge schöner alter Platten lag im Fach darunter. „Wer wett, wo dat allet her is“, sagte Tante Mia, die neugierig, wie sie nun mal war, durch die Tür geschlappt kam. „Dee hemm’n dat wisse irjendwo eklaut. Dat behollste einfach, Klara. Dat markt doch keen Schwien nich.“ Mutter kontrollierte auch schnell noch die zurückgelassene Bettwäsche im Schrank. Auch die war vollzählig. Im Küchenschrank standen noch Büchsen der Amis mit Cornedbeef und Butter. Bald hätte Mutter aber noch das Wichtigste vergessen -den Schmuck. Schnell kletterte sie auf einen Stuhl und fasste auf den Sims des Kachelofens. Die Amis hatten natürlich nicht sauber gemacht, stellte sie mit Erleichterung fest, also waren die Wertsachen noch da. Vorsichtig pustete Mutter den Staub weg und schob den Ehering über den Finger. Die Uhr steckte sie in die Jackentasche, die Kette kam vorerst ins Portemonnaie. Dann ließ sie sich von mir ein Wischtuch geben und putzte sofort den Kachelofen ab, denn das war eine günstige Gelegenheit. Und wenn sie schon mal hier oben stand, dann musste sie das ausnutzen. Nun zogen wir wieder in die alte Wohnung zur Tante Mia. Die tante Ite war etwas traurig, sie hatte sich inzwischen schon an uns gewöhnt. Ihr erschien das Haus wohl jetzt richtig ein wenig leer. Geld wollte sie von Mutter für die paar Wochen auch nicht annehmen. „Ihr habtes nötijer als ich“, sagte sie, und damit hatte sie nicht Unrecht. Das Geld war knapp, denn nun war schon seit April Vaters Wehrsold ausgeblieben und die Unterstützung durch den nun nicht mehr vorhandenen Staat auch. Überhaupt, das mit dem Geld war schon ein Kampf! Ein paar Wochen nach der Kapitulation mussten die Leute in die Sparkasse laufen und bekamen Bescheid, dass ihr Geld nun nichts mehr wert war. Siebzig Mark wurde für jede Person umgetauscht, eins zu eins. Alles andere zehn zu eins. Aiuch die Summen auf den Sparbüchern fielen der Entwertung zum Opfer. Wer einmal viel geld hatte, konnte nun den größten Teil seiner Ersparnisse in den Wind schreiben, es sei denn, er fand Menschen, die selbst keinen Pfennig besaßen und für ihn siebzig Mark gegen ein geringes Entgelt eins zu eins umtauschten. Bloß Hartgeld galt uneingeschränkt weiter. Meine Geschwister und ich hatten in unseren Sparbüchsen Geld gesammelt, das wir von unseren Verwandten zu den Geburtstagen geschenkt bekommen hatten. Nun stellten wir es Mutter zur Verfügung, die jetzt auf jede Mark angewiesen war. Von unseren Ersparnissen war wenig übrig geblieben. Auf den wenigen Geldscheinen, die Mutter in der Sparkasse ausgezahlt bekam, klebte jetzt ein Streifen mit einem Aufdruck, der den neuen Wert bezifferte. Auf die Briefmarken setzte die Post einen Stempel, weil nicht so schnell neue Marken gedruckt werden konnten. Den Kopf des „Gröfaz“ Hitlers, des größten Führer aller Zeiten, zierte nun der Aufdruck „Deutschlands Verderber“. Damit galt die Marke noch einige Zeit. Nach dem Abzug der Amerikaner im Frühsommer kamen die Engländer. Sie kürzten die an und für sich schon mageren Rationen auf den Lebensmittelkarten weiter. Die Soldaten bekamen aber auch nicht viel mehr als die deutschen Zivilisten. Die Tommys zeigten sich nicht so generös mit den Kleinigkeiten für uns Kinder. Kaugummi und Schokolade waren Fremdwörter für sie. Nach den kinderfreundlichen Amisoldaten wurde es für uns Jungen und Mädchen eine große Umstellung, und wir trauerten den vergangenen Wochen etwas hinterher. Der englische Kommandant war in ein großes Haus auf dem Breitenweg eingezogen(Nr.52), im Jahre 2005 abgerissen). Davor mussten einige Dörfler mit weißer Farbe ein Karree auf das Straßenpflaster malen. Die englischen Wachmannschaften drehten mit aufgepflanzten Bajonetten, pieksauberen Uniformen, weiße Gamaschen über den Schuhen, weißem Koppelzeug und den typisch flachen Helm auf den Kopf hinter den weißen Linien ihre Runden. Alle Zivilisten mussten extra über die Straße, wenn sie in die Nähe des Hauses kamen, und wehe, das vergaß jemand, dann trieben ihn die Soldaten mit lauten Rufen und gefälltem Bajonett davon. Schlimmer als bei den Preußen. „So was muss ja nu ooch nich sinn. Da jehste jemietlich uff de Schtraße lang deines Weechs un denn jochen se dich einfach ribber uff die andere Seite. Da musste ja Angst ham, dasse dich mits Setenjewehr in’n Hintern pieken“, schimpften die Barleber, wenn sie ihre altbekannten Weg zum Kaufmann Benecke erledigen wollten und an den Tommys vorbeikamen. Für eventuelle Beschwerden, die sie beim englischen Kommandanten vorbringen wollten, musste man jetzt gar einen Termin beantragen, und dann hieß es warten und nochmals warten. Wenn man Glück und der englische Captain gute Laune hatte, dann wurde man irgendwann auch mal vorgelassen. Aber ob man dann Interesse mit seiner Beschwerde bei den Engländern weckte, das war fraglich. Aber es dauerte nicht lange, dannwar es auch mit der Herrschaft der Engländer im Ort vorbei. Die Tommys packten ihre Sachen und machten zur Verwunderung der Dorfbewohner Anstalten anzuziehen. Nun gab es nur noch zwei Möglichkeiten - die Franzosen oder die Russen. „Leute, jloobt mich das, nach uns kommen jetz de Russen!“ Mein Onkel hatte eine Karte und wies sie mir. „Der Franzose bleibt jewiß an’n Rhein. Un der Tommy ooch, der wär ja scheene bescheuert, wenner da wech jehn wirde, so dichte ran wie’s da nach Emgland hin is. Das liejt ja da balle jenau Jraderibber. Nee, nee, nach uns kommt der Russe. Na, denn Prost, kann ich da bloß saren! Da können wer uns eene Feife anstecken, die machen uns ßur Schnecke. Haste schon forr den Empfang von die eene jriene Jirlande ibber eure Türe jenareit, Junge? Villeicht wolln’se widder bei euch inßien?“ Ein paar Tage später wurde es Gewissheit. Über den Breitenweg zuckelten kleine zottige Pferde vor gummibereiften Panjewagen. „Was sind’n das forr wecke?“ An der Straße gienten die Menschen hinter vorgehaltener Hand und waren doch betroffen, wenn sie sich die Gestalten näher anguckten, die auf den Wagen saßen. Die Männer sahen nicht so aus wie die Vorherdagewesenen, deren Kleidung proper und sauber gewesen war, die alle so wohlgenährt ausgesehen hatten. Ausgeblichene, verwaschene. Braungrüne Mäntel trugen die Russen, bis über die zerrissenen oder zerlatschten Stiefel reichten die. Die Mützen mit den Ohrenfleppen saßen in allen Variationen auf den Köpfen. Über den Schultern hingen die Maschinenpistolen mit runden Trommelmagazinen oder Gewehren mit einem stilettähnlichen Seitengewehr. Die meisten russischen Soldaten zogen weiter nach Magdeburg, viele blieben nicht im Dorf, doch jene, die sich einquartierten, die besetzten einige der größten Bauerhäuser. Dort hatten jetzt viele Besitzer mit den Amerikanern und den Engländern das Weite gesucht und waren mit ihren wichtigsten Sachen gen Westen geflohen. Die Kommandantur, die „Kommandantura“, wie die Russen sagten, wurde in Brandts Villa eingerichtet. Mit den Beschwerden über das grobe Auftreten der Russensoldaten im Dorf oder anderen unliebsamen Dingen kam man nun noch schwerer als wie bisher an die Besatzer heran. Meist wurde man schon am Tor abgewiesen. Freiwillig ging sowieso niemand mehr dorthin. Die Russen blieben lange, wenn auch nicht in unserem Dorf, so doch in vielen Gegenden unseres Kreises.
Fortsetzung folgt
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Schreiben auf Zeitungsrändern Erinnerungen von Barbara Coester
Frisch von der Lehrausbildung kam Barbara Coester im April 1944 nach Barleben. „Ich landete hier und blieb hängen“, sagt sie, „in Barleben lebten damals ca. 5.000 Menschen. Entsprechend groß waren die klassen. Allein 64 Mädchen lernten im zweiten Schuljahr. Die Knabenklasse war ebenso groß.“ Eingeprägt hat sich ihr besonders eine sehr feierliche Beerdigung im Herbst 1944. Fünf Menschen waren durch eine - wie viele glauben – versehentlich am falschen Ort ausgeklinkte Bombe zu Tode gekommen. Der Rektor in gelbbrauner Partei-Uniform hielt eine flammende Rede auf dem Friedhof. Das erste Jahr als Lehrerin endete für Barbara Coester am 25. März 1945 mit Beginn der Osterferien. Sie sollten bis zum 30. September 1945 dauern. Wie immer zu Feiertagen und in den Ferien fuhr die junge Frau nach Halberstadt zu den Eltern. Dort erlebte sie einen wahren Ausverkauf von Lebensmitteln. Für fünf Mark gab es zum Beispiel fünf Pfund (2,5kg.) Mett, Fleischbrühe wurde eimerweise abgegeben. In Barleben hatte zuvor schon die Käserei Riechert mit dem Ausverkauf ihres beliebten Sauermilchkäses begonnen. Bis zum Kriegsende war nicht mehr viel Zeit. Den schweren Bombenangriff auf ihre Heimatstadt am 8. April 1945 erlebte Barbara Coester mit und wie durch ein Wunder überstanden das Haus, in dem ihre Eltern lebten, und ein paar Nachbarhäuser diese Attacke ganz gut. Einzig die Türen und Fensterscheiben gingen durch eine Druckwelle zu Bruch. „Wir haben unverschämtes Glück gehabt. Allerdings gab es kein Wasser, keinen Strom und kein Gas“, erinnert sich die Lehrerin. Am 25. August 1945 ordnete Marshall Shukow für die Sowjetische Besatzungs Zone (SBZ) an, dass am 1. Oktober 1945 die Schule wieder beginnen sollte. Barbara Coester aber war eine zur Nazi-Partei ausgebildete Lehrerin. Sie durfte nicht wie alle anderen Lehrer die neuen Lehrpläne mit aufstellen. Barbara Coester erhielt den Entlassungsbrief. „Aber ich bewarb mich beim Schulrat neu. Rektor Schröder schrieb ein paar passende Worte dazu, und ich wurde im November 1945 wieder eingestellt.“ Die Situation in den Schulen war katastrophal. Viele Kinder gab es und Lehrer kaum. „So hatte es schon in den letzten Kriegsmonaten ausgesehen. Nun aber hatte sich die Lage weiter verschärft. Viele Kinder hatten durch Flucht oft jahrelang keinen Unterricht mehr besucht. Einige meldeten sich zwar ihrem Alter entsprechend zum Beispiel in der 6. Klasse an, aber sie waren zwischenzeitlich sitzen geblieben. Wir merkten das und handelten. Nach sechs bis acht Wochen wurden diese Schüler neu eingestuft.“ Das Unterrichten selbst war wegen des Mangels an Schulmaterial ungeheuer schwierig. Es gab kaum Hefte und Bleistifte, weshalb peinlichst darauf geachtet wurde, dass auch wirklich jede Zeile im Heft voll geschrieben und keine Seite wegen eines Tintenkleckses herausgerissen wurde. Mitunter musste sogar auf Zeitungsrändern und irgendwelchen Zetteln geschrieben werden, zum Beispiel auf Schokoladenpapier. Selbst die längst vergessene Schiefertafel und der Griffel hielten wieder Einzug in die Schule Dort mangelte es natürlich auch an Schulbüchern, weil die alten wegen ihrer Nazisymbolik nicht mehr in Frage kamen. Wer daheim Bücher von Oma oder Opa hatte, brachte diese mit, und es wurden die Lesetexte abgeschrieben. Die erste Fibel wurde gemalt. An so manchem Elternabend schrieben die Muttis texte ab und malten Bilder, welche die Lehrerin zuvor auf eine drehbare Tafel aufgeschrieben hatte. Vatis waren zu jener Zeit „Mangelware“, viele von ihnen waren gefallen oder in Gefangenschaft. Andere gingen erst gar nicht mit zu den Treffen. Wegen der viel zu großen Schulklassen entschied die sowjetische Besatzungsmacht, in kürzester Zeit Lehrer auszubilden. Sie mussten sich beim Schulrat melden. Geschult wurden die Neulehrer ein halbes Jahr, von Januar bis August. „Lehrer konnte man damals auch werden, indem man nur beim Schulrat vorsprach. Im September 1946 standen in Barleben 17 neue Lehrer vor der Schultür. Daran kann sich Barbara Coester gut erinnern, heute merkt sie belustigt an: „Es waren so viele Neue, wie wir sie hier nie wieder bekamen“. Rektor Schröder - der alte SPD-Mann Otto „Faufi“ Schröder („mit der Gewitterlenne“ sagten die Schüler mehr liebevoll als hänselnd)- hatte von Geburt an ein steifes Kniegelenk, weshalb er nicht wie andere Kinder herumtoben konnte. So hatte sich der Junge frühzeitig aufs Stricken, Sticken und später als erwachsener Mann aufs Jagen verlegt. Damit die Kinder ihn auf der Straße nicht mit dem Hitlergruß grüßen mussten, hat sie der Lehrer - wenn irgend möglich - schnell zuerst gegrüßt. „Faufi“ war beliebt bei Groß und Klein und zu Kriegsende schon an die 70 Jahre alt. Er machte 1946 aus zwei großen drei kleinere Klassen. Es gab eine Mädchen-, eine Knaben- und eine gemischte Klasse. Als wenig später die Trennung in Mädchen- und Jungenklassen aufgehoben wurde, war dies zunächst ungewohnt für Schüler wie Lehrer. Es sollte einige Zeit dauern, bis ein normaler Unterricht mit ausreichend Material und guter Ausstattung möglich war. Barbara Coester war bis 1978 im Schuldienst tätig.
Beim Attentat im Führerhauptquartier dabei: Adjutant Heinz Brandt
Heinz Brandt – geboren am 15.Februar 1907 – war ein hervorragender Springreiter, langjähriges Mitglied des Springstalls der Kavallerieschule Hannover und beteiligt an zahlreichen Nationenpreisen. Sein Cousin war Fritz Brandt. Die Familie besaß in Barleben einen großen Hof mit Villa, heute Sitz der Verwaltung für die Einheitsgemeinde Barleben. Auch die Familie Brämer-Brandt gehörte zur Verwandtschaft. Mit Kurt Hasse und Marten von Barnekow gewann Brandt auf seinem Pferd „Alchimist“ bei der Olympiade 1936 Mannschaft-Gold. Durch diese Leistung fiel der damals 29jährige Adolf Hitler auf, der ihn daraufhin in seine Nähe holte. Brandt wurde Generalstabsoffizier. Beim Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 in der Wolfsschanze bei Rastenburg wurde Heinz Brandt so schwer verletzt, dass er zwei Tage später starb. „Vorher hatte Hitler den Gold-Medaillengewinner noch zum Generalmajor befördert“; schrieb Teja Fiedler 2004 in ihrem Beitrag „Machtspiele“ im „Stern“. Brandt war bei der Lagerbesprechung zugegen gewesen. Er soll mit seinem Fuß Stauffenbergs Koffer etwas zur Seite geschoben haben. Juliane Seehafer hatte den damaligen Offizier und Cousin ihrer Mutter während ihres Arbeitsdienstes bei Rastenburg einmal kurz getroffen. Nach dem Attentat stand die gesamte Familie unter Beobachtung, erinnert sie sich. Ihre Tante war sogar inhaftiert worden. „Die haben alle dicht gehalten. Darum ist meine Tante wieder frei gekommen. Meine Mutter hatte auch Angst. Ihr Vetter wohnte in Berlin. Es bestand aber nur ein lockeres Verhältnis. Wir Kinder haben Heinz Brandt kaum gekannt. Sein Sohn ist inzwischen auch schon gestorben.“
E N D E
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